100 Jahre Weimarer Reichstag - Vom Anfang bis zum Verfall der Demokratie

Vor 100 Jahren trat der erste Reichstag der Weimarer Republik zusammen. Eine Geschichte, die vielversprechend begann und doch in einem Albtraum endete. Wie konnte es soweit kommen? Und was hat die Bundesrepublik daraus gelernt?

Am 24. Juni 1920 trat der Reichstag erstmals zusammen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Philipp Austermann war in der Bundestagsverwaltung als Jurist tätig. Er ist Professor für Staatsrecht, Politik und Europarecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Voriges Jahr erschien sein Buch „Der Weimarer Reichstag. Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments“.

So erreichen Sie Philipp Austermann:

Anzeige

Am Donnerstag, dem 24. Juni 1920, vor 100 Jahren, trat der erste Reichstag der Weimarer Republik zusammen. Um 15.18 Uhr eröffnete der 77 Jahre alte sozialdemokratische Maurermeister Heinrich Rieke aus Braunschweig als ältester Abgeordneter die konstituierende Sitzung. Der Reichstag nahm die Geschäftsordnung der Nationalversammlung als seine eigene an; die Namen der Abgeordneten wurden verlesen und die Tagesordnung der nächsten Sitzung am folgenden Tag beschlossen. Nach gerade einmal 32 Minuten war die Zusammenkunft wieder beendet. Die Vossische Zeitung bemerkte dazu: „Rein formell, ohne jede Feierlichkeit. Man zählt sich aus und geht nach Haus.“ Der Anspruch war deutlich geworden: Hier tagte ein Arbeitsparlament.  

Die großen Zeitungen interessierten sich ohnehin eher für die aktuelle Regierungskrise. Wenige Tage zuvor hatte Reichspräsident Ebert den 68-jährigen Zentrumsabgeordneten Fehrenbach mit der Regierungsbildung betraut. Er war bereits der vierte Reichskanzler innerhalb von 16 Monaten. Fehrenbach konnte nur eine Minderheitsregierung auf die Beine stellen. Die SPD hatte sich freiwillig in die Opposition begeben, nachdem die Reichstagswahl am 6. Juni ihr herbe Stimmen- und Mandatsverluste beschert hatte. Auch die anderen beiden Parteien, das katholische Zentrum und die linksliberale DDP, die gemeinsam mit den Sozialdemokraten als „Weimarer Koalition“ die Nationalversammlung dominiert und die Weimarer Verfassung geprägt hatten, waren an den Wahlurnen vor allem für ihre Zustimmung zum Versailler Vertrag abgestraft worden. „Weisheit, nicht Harnisch“ hatte Georg Bernhard in der Vossischen Zeitung am Wahltag von den Wählern erbeten – vergeblich.    

Das Spiegelbild der Weimarer Republik

Der Reichstag war ein Spiegelbild der Weimarer Republik. Von Beginn an war seine Arbeit vielfältig belastet: Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hatte zum harten Friedensvertrag von Versailles und damit zu Gebietsverlusten und hohen Reparationslasten geführt. Zugleich hatten die für die Niederlage hauptverantwortlichen Militärs Hindenburg und Ludendorff die Schuld den Revolutionären vom November 1918 zugewiesen, indem sie von einem „Dolchstoß“ in den Rücken des „im Felde unbesiegten“ deutschen Heeres schwadronierten. Ihrer Lüge folgten viele, die sich um den sicher geglaubten Sieg betrogen fühlten, nur zu bereitwillig. Sie lehnten die demokratische Republik und ihre Institutionen als angebliches Ergebnis eines Verrats ab.

In rechten Kreisen wurde der Antiparlamentarismus zudem mit einem aggressiven Antisemitismus verwoben. Doch nicht nur von rechts, sondern auch von links lauerten die Todfeinde der Demokratie und des Parlamentarismus. Die Kommunisten strebten Sowjetdeutschland an. Beide demokratiefeindlichen Lager schürten Unruhe und Aufstände. An Sacharbeit hatten sie kein Interesse. Sie nutzten den Reichstag als Agitationsbühne oder störten die Sitzungen. In der Sitzung vom 17. Juni 1921, rund ein Jahr nach der Konstituierung, kam es zum ersten Mal in der deutschen Parlamentsgeschichte zu einer Schlägerei.

Anfang bis Ende Störungen im Reichstagsalltag

Vom Anfang bis zum Ende der Republik begleiteten Störungen den Reichstagsalltag. Gleichwohl konnten die radikalen Abgeordneten die Arbeit nur behindern, aber nicht verhindern. Wenn es nicht zu Beschlüssen kam oder eine Regierung scheiterte, lag dies nicht an den radikalen Kräften. Vielmehr scheiterten die meisten Weimarer Regierungen an internen Streitigkeiten. Vielfach erwiesen sich die demokratischen Parteien als nur beschränkt kompromissfähig. Das lag an ihrer engen Bindung an jeweils ein bestimmtes Milieu, die sogar den Weltkrieg überdauert hatte. 

Philipp Austermann: Der
Weimarer Reichstag
, Böhlau 2020

Und schließlich erwiesen sich einige Verfassungsbestimmungen als Belastung der Reichstagsarbeit. Die reine Verhältniswahl sorgte für eine politische Zersplitterung. Im ersten Reichstag saßen schon Abgeordnete aus neun Parteien (im 19. Bundestag sind es sieben). 1928 waren bereits 14 Parteien vertreten, viele davon mit nur einer Handvoll Mandatsträger. Damals wie heute war eine dauerhafte Mehrheit im Parlament nötig, um eine Regierung zu führen und Gesetzesvorhaben umzusetzen. Die Mehrheitsfindung war aber durch die Splitterparteien, die als Bündnispartner ausfielen, und den hohen Sitzanteil der antidemokratischen Parteien des rechten und linken Spektrums ab Mitte der 1920er Jahre deutlich erschwert. Dass der Reichspräsident das Parlament jederzeit auflösen durfte, was jedem Reichstag widerfuhr, verringerte die Stabilität der Parlamentsarbeit und der Regierungen außerdem. Von 1920 bis 1932 waren die Bürgerinnen und Bürger sieben Mal zur Abstimmung aufgerufen; zehn Reichskanzler amtierten. (Zum Vergleich: Drei Regierungschefs der Bundesrepublik amtierten länger, als die Weimarer Republik überhaupt bestand.)  

Ein Brot für 262 Milliarden Mark 

Eine weitere Belastung war die wirtschaftliche Lage, die sich nur in den Jahren von 1924 bis 1928 leicht entspannte. Am Anfang stand die Inflation. Sie erreichte im November 1923 ihren Höhepunkt erreichte, als ein Brot 262 Milliarden Mark kostete. Am Ende der Republik stand die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise, die zu mehr als sechs Millionen Arbeitslosen und Massenarmut in Deutschland führte. Nur die Jahre 1924 bis 1929 waren relativ stabil. 

Doch trotz all der geschilderten Belastungen kann sich die Gesetzgebungsbilanz der ersten vier Reichstage durchaus sehen lassen. Die Anfangskrisen wurden überwunden – auch durch tatkräftige Mithilfe des Reichspräsidenten Ebert. Das Parlament verabschiedete viele, zum Teil sehr bedeutsame Gesetze: Das Jugendstrafrecht, die Sozialversicherung und das Arbeitsrecht wurden reformiert. Ferner stimmte der Reichstag außenpolitischen Verträgen wie dem Dawes-Plan (1924), dem Vertrag von Locarno (1925) und dem Young-Plan (1929) zu. Damit unterstützte und sicherte er die auf Ausgleich, Friedenssicherung und den Abbau der Reparationen gerichtete Politik der Reichsregierung. An diesen Erfolgen hatten viele engagierte Abgeordnete der staatstragenden Parteien SPD, Zentrum und DDP sowie (zeitweilig) der DVP einen hohen Anteil. Sie sind mit ihrem unermüdlichen Einsatz in schwieriger Zeit auch heute noch Vorbilder. Bis Mitte 1930 war der Reichstag keineswegs ein unfähiges oder gar gescheitertes Parlament.

Das Jahr 1930

Erst 1930 änderte sich die Lage. Reichspräsident Hindenburg setzte, nachdem eine SPD-geführte Mehrheitsregierung gescheitert war, auf ein allein von seinem Willen abhängiges Minderheitskabinett. Der Widerstand des Reichstages gegen die Finanzpolitik der Regierung wurde am 18. Juli 1930 mit einer Parlamentsauflösung beantwortet. Hierin liegt eine Zäsur: Die NSDAP gewann bei der Neuwahl im September 1930 zum ersten Mal eine große Anzahl der Mandate; der Regierung nützte die Neuwahl nichts. Präsidiale Notverordnungen ersetzten nun weitgehend die Parlamentsgesetzgebung.

Schleichend wurde die demokratische Volksvertretung, die bis Mai 1932 die Regierung tolerierte, ausgeschaltet und ab dann faktisch entmachtet. Die beiden 1932 in kurzer Folge ins Amt berufenen Kabinette und zwei Reichstagswahlen im Juli und November 1932 stärkten nicht die Regierung – sondern die Feinde der Demokratie. Ab dem 31. Juli 1932 vereinigten NSDAP und KPD die Mehrheit der Sitze auf sich. Hindenburg hatte diese Schwächung der Demokratie durch drei Wahlen in einer Wirtschaftskrise zumindest fahrlässig bewirkt. Wie die Geschichte weiterging, auch durch Hindenburgs Verhalten, ist bekannt. Das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 und weitere Gesetze der Nationalsozialisten zerstörten die Reste des demokratischen Reichstages. Er verkam zum Scheinparlament.    

Und heute?

Was lässt sich nun aus der Geschichte des Weimarer Reichstages lernen? Zwar ist die Verfassungslage eine andere, wird das Grundgesetz von nahezu allen Deutschen geachtet und sind die wirtschaftlichen Umstände – Corona zum Trotz – heute mit der Lage in den 1930er Jahren nicht vergleichbar. Gleichwohl sei eine Warnung angebracht: Wir alle müssen unseren Staat und seine Institutionen schätzen und schützen.

Dazu gehört auch die stetige Verbesserung des Bestehenden. Die demokratischen Errungenschaften gering zu achten und diejenigen, die sich politisch betätigen, verächtlich zu machen, gefährdet, was wir haben: unsere Verfassung, unseren Staat, unsere Art zu leben. Wer nicht schätzt und schützt, was er hat, verliert leicht alles. Daher ist denen entgegenzutreten, die das Bestehende verächtlich machen, egal ob sie von rechts oder von links kommen. Das Schicksal des Weimarer Reichstages darf sich nicht wiederholen.

Anzeige