Zwanzig Jahre nach dem 11. September 2001 - Der Westen sitzt in der Falle

Heute vor zwanzig Jahren erfolgten die verheerenden Attacken von Al-Qaida gegen die Vereinigten Staaten. Ziel der Terroristen war es, den Westen in eine neue Art des Krieges hineinzuziehen – und dadurch zu schwächen. Nach dem Abzug der Alliierten aus Afghanistan sieht es danach aus, als sei ihnen genau das gelungen.

Die brennenden Türme des World Trade Center in New York nach den Flugzeug-Attacken vom 11. September 2001 / picture alliance
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Als am 11. September 2001 zwei entführte Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers gesteuert wurden und dessen Trümmer tausende Menschen unter sich begruben, war das ein Fanal weltpolitischen Ausmaßes. Die Terrorgruppe Al-Qaida unter der damaligen Führung Osama bin Ladens erklärte, stellvertretend für alle radikalen islamistischen Gruppen, dem politischen Westen den Krieg.

Zu diesem Zeitpunkt konnte Al-Qaida bereits auf eine längere Geschichte zurückblicken. Entstanden war das Terrornetzwerk im Jahre 1988 im Kontext des Kampfes der Mudschahedin gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans. Im gesamten arabischen Raum schlossen sich radikale islamistische Kämpfer der antisowjetischen Befreiungsbewegung an, um einen „defensiven Djihad“ zu praktizieren. Seinerzeit richteten sich die Aktivitäten der radikalen Islamisten noch auf die „Befreiung“ Afghanistans von ihren Besatzern. Doch das sollte sich bald ändern.

Nach der Vertreibung der sowjetischen Truppen aus Afghanistan war es dabei schnell vorbei mit der Einigkeit der islamistischen Guerilleros. Im Streit um die Vorherrschaft im Land ergriffen die 1994 gegründeten Taliban nur zwei Jahre später die Macht und kontrollierte das Land zunächst bis zum Jahre 2001.

Vom defensiven zum aggressiven Djihadismus

Bereits in den 1990er Jahren nahmen Terroranschläge zu, die sich insbesondere gegen die USA oder arabische Regierungen richteten, die mit dem Westen kooperierten: Im Februar 1993 kam es zu einer Bombenexplosion im World Trade Center, in den Jahren 1995 und 1996 zu Anschlägen gegen amerikanische Truppen in Saudi-Arabien, im Jahr 1997 starben Touristen bei einem Attentat in Luxor, im Jahre 1998 richteten sich Anschläge gegen die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania – und im Jahre 2000 folgte sogar ein Anschlag auf das amerikanische Kriegsschiff USS Cole. Der defensive Djihad hatte sich längst in einen aggressiven, internationalisierten Djihad verwandelt. 

Die Machtergreifung der Taliban war eine günstige Gelegenheit für Osama bin Laden und sein Terrornetzwerk Al-Qaida. Er kehrte 1996 nach Afghanistan zurück, um unter Duldung und Förderung der Taliban im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet Ausbildungslager für künftige „Gotteskrieger“ aufzubauen. Bin Laden sollte als aggressiver Djihadist mit weltpolitischen Ansprüchen für die eher defensiv ausgerichteten Djihadisten der Taliban schlicht die Drecksarbeit erledigen.

Kriegserklärung gegen den Westen

Worauf bin Laden dabei abzielte, erklärte er der Weltöffentlichkeit am 23. August 1996 in seiner häufig als „Kriegserklärung an die USA“ bezeichneten Fatwa. Doch diese Deutung greift zu kurz. Sein radikal-theologisch geprägter Text richtete sich vielmehr gegen die „Allianz der Zionisten und Kreuzfahrer und ihre Kollaborateure“. Gemeint war nie nur die westliche Welt mit den USA an der Spitze, sondern auch Israel und alle arabischen Staaten, die mit der westlichen Welt kooperierten – darunter insbesondere Saudi-Arabien. Bin Ladens aggressiver Dhjihadismus entpuppte sich somit nicht als Gegensatz zum defensiven der Taliban, sondern war stets als dessen wellenförmige Ausbreitung von Afghanistan über den arabischen Raum bis hin zur ganzen Welt gemeint.

Bin Ladens Erfolg speiste sich ausgerechnet aus dem technologischen Arsenal des Westens. Es waren nicht zuletzt die Segnungen der Globalisierung wie das Internet, die es bin Laden ermöglichten, ein weltweit agierendes Terrornetzwerk mit flachen Organisationshierarchien aufzubauen, das an fast allen Orten der Welt zum Einsatz kommen konnte. Und es waren die modernen Massenmedien, mit deren Hilfe er die Selbstgewissheit des Westens bis ins Mark erschütterte. Er kämpfte mit den Mitteln der Globalisierung gegen deren Ziele.

Der Westen reagierte auf Bin Ladens Kriegserklärung zunehmend mit militärischen Vergeltungsschlägen und eröffnete nach dem Anschlag vom 11. September 2001 mit dem Einmarsch in Afghanistan den „Krieg gegen den Terror“. Die Niederwerfung der Taliban galt als Vorbedingung dafür, Al-Qaida empfindlich zu schwächen oder gar auszuschalten. Schnell jedoch wurde aus dem „Krieg gegen den Terror“ der Versuch, Afghanistan zu demokratisieren und kulturell an den Westen heranzuführen. 20 Jahre wurden Unsummen Geldes nach Afghanistan transferiert, Armee und Polizei auf- und der Bildungssektor ausgebaut: Nach Angaben der Unesco zählte Afghanistan noch vor 20 Jahren nur rund 8.000 Studenten, bis vor kurzem sollen es 170.000 gewesen sein. 

Mit dem Versiegen des westlichen Finanzflusses dürfte es damit nun aber vorerst vorbei sein. Auch die staatlichen Strukturen werden weiter erodieren. Drei Viertel des afghanischen Staatshaushaltes speisten sich bisher aus internationalen Geldzahlungen, die eingestellt sind. Wie es nun weitergehen soll, ist bisher völlig ungeklärt. Das Land steuert auf eine humanitäre Katastrophe zu.

Vorzeitige Machtergreifung der Taliban

Die erneute Machtergreifung durch die Taliban begann schon im Februar 2020. Nachdem sich US-Präsident Donald Trump dazu entschlossen hatte, die US-amerikanischen Truppen aus dem Land abzuziehen und hierüber ausgerechnet mit den Taliban, den ehemaligen Unterstützern und Duldern Al-Qaidas, verhandelte, war die erste Unterschrift unter eine Kapitulationserklärung des Westens geleistet. Die einzig relevante Bedingung der USA: Die Taliban mussten versichern, dass sie künftig islamistischen Terroristen keine Unterstützung mehr gewähren.

Das war für sie angesichts der Lage der Dinge eine Kleinigkeit. Zunächst zielt ihr Machtanspruch ohnehin in erster Linie auf Afghanistan selbst und nicht auf einen internationalen Djihadismus. Und zweitens sind und bleiben die Berge des afghanisch-pakistanischen Grenzgebiete derart undurchsichtig und schwer kontrollierbar, dass man diese Zusage auch dann geben kann, wenn man sie nicht vollumfänglich einhalten will. Der amerikanische Generalstabschef Mark Milley warnt daher nicht ohne Grund davor, dass sich Afghanistan binnen weniger Jahre wieder zum Aktionsfeld islamistischer Terroristen entwickeln könnte.

Das Dilemma des Westens

Aber was wäre nach dem Debakel der letzten 20 Jahre die Alternative, wenn sich die Taliban nicht an ihre Zusage hielten? Der erneute Einmarsch ins Land? Es ist nicht eben sehr wahrscheinlich, dass sich in der internationalen Staatengemeinschaft noch einmal eine breite Mehrheit hierfür finden ließe.

Und so sitzt der Westen in der Falle: Nach dem Scheitern seiner Mission hat er den Taliban das Land überlassen und nimmt damit den Rückbau von Menschenrechten in Kauf. Zugleich ist das Land derzeit wirtschaftlich ohne Hilfe des Westens nicht lebensfähig. 

Der Westen steht damit vor dem Dilemma, dass er sich nun entscheiden muss: nicht zu helfen, damit eine humanitäre Katastrophe in Kauf zu nehmen und zugleich gegen seine innersten Menschenrechtsüberzeugungen zu verstoßen. Oder zur Vermeidung einer humanitären Katastrophe ein System finanziell zu unterstützen, das diese Mittel nutzen wird, um seine menschenrechtsfeindliche Politik zu legitimieren und seine Machtstellung zu festigen. In beiden Fällen handelt sich der Westen eine Niederlage ein.

Die EU-Staaten haben sich schon längst entschieden. Sie wollen zahlen, dies aber an strenge Bedingungen koppeln. Erstens: Kampf gegen den Terrorismus. Zweitens: Einhaltung der Menschenrechte. Drittens: repräsentative Übergangsregierung. Viertens: freier Zugang für humanitäre Helfer. Und fünftens: freies Geleit für ausreisewillige Ausländer und Afghanen. Darauf jedenfalls haben sich Anfang September die europäischen Außenminister auf Vorschlag Deutschlands und Frankreichs verständigt. 

Die Taliban werden dies alles letztlich unterschreiben, wahrscheinlich übrigens auch deshalb, weil sich die letzte Bedingung so liest, als würden sich die europäischen Regierungen von Geiselnehmern zu Geldzahlungen erpressen lassen. Mit diesem Mechanismus ließe sich auch in Zukunft erfolgreich arbeiten.

Und genau so, wie die Taliban ihre Unterschrift leisten werden, werden sie sich am Ende nicht daran halten. Und dann? Wird der Westen dann seine Zahlungen einstellen und zur politischen Schwächung der Taliban eine humanitäre Katastrophe auslösen, im Namen der Menschenrechte? Oder gibt es dann im Namen der Menschenrechte wieder Krieg?

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