Zukunft der Ukraine - Das Problem mit der Neutralität

Russland erlebt in der Ukraine zwar ein militärisches Fiasko – was aber noch lange nicht bedeutet, dass es den Krieg auch verliert. Bei den Verhandlungen in Istanbul wird sich jetzt zeigen, zu welchen Zugeständnissen Kiew und Moskau bereit sind. Eine echte Neutralität der Ukraine ist aber faktisch kaum noch möglich.

Der türkische Präsident Erdogan begrüßt die russische und die ukrainische Delegation zum Auftakt ihres Treffens an diesem Dienstag in Istanbul / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Ich melde mich heute aus Dubai – von einer Reise, die ich nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten beschreiben werde. Am Wochenende jedenfalls fand in Israel ein Gipfel zwischen Bahrain, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Marokko, Israel und den Amerikanern statt. Das Treffen war darauf ausgerichtet, die USA in die Enge zu treiben. Die Vereinigten Staaten wollen eine neue Vereinbarung mit dem Iran erreichen, die in etwa auf der Verhandlungsbasis aufbaut, die von Präsident Donald Trump 2018 als unzureichend im Umgang mit der iranischen Bedrohung aufgegeben wurde.

Israel und die vier arabischen Länder sowie einige andere lehnen die Biden-Initiative ab, und US-Außenminister Antony Blinken war vor Ort, um sie auf die amerikanische Seite zu ziehen. Es schien nicht zu funktionieren. Eine Zeitung in Dubai titelte, dass eine neue israelisch-arabische Front geschaffen worden sei. Häufig wurde die Frage gestellt, ob eine Einigung zwischen den Arabern und Israel erreicht werden könnte. Die Antwort scheint zu sein, dass dies aufgrund der in der Region herrschenden Angst vor dem Iran und wegen der gemeinsamen Ablehnung gegenüber den amerikanischen Iran-Plänen tatsächlich plausibel erscheint. Ich habe mit all dem nichts zu tun, aber es ist immer interessant, das Geschehen aus nächster Nähe zu beobachten.

Verhandlungen in Istanbul

Ich konzentriere mich weiterhin auf die Ukraine und Russland und auf das, was sich als wahrhaft tragischer Ausgang abzeichnet. In dieser Woche sollen in Istanbul weitere Gespräche stattfinden. Das Tragische daran ist, dass die diskutierte Einigung das zu bestätigen scheint, was ursprünglich der Fall war. Die Russen behaupten nun, dass ihre einzige Absicht in diesem Krieg darin bestanden habe, die östliche Donbass-Region zu sichern, und nicht, die Ukraine zu besetzen. Deswegen einen Krieg zu beginnen, erscheint sinnlos, da ein Großteil der Donbass-Region seit den Ereignissen von 2014 unter informeller, aber sehr effektiver russischer Kontrolle steht. Es handelt sich um eine von ethnischen Russen dominierte Region, und die Ukraine war zwar nicht glücklich über die Besetzung ukrainischen Territoriums, aber kaum in der Lage, Russland ernsthaft herauszufordern.

Was die russischen Behauptungen zweifelhaft erscheinen ließ, waren natürlich die Panzerkolonnen, die sich von Weißrussland aus nach Süden in Richtung Kiew bewegten, und andere Dinge. Es schien, als wollten die Russen der Ukraine generell den Krieg erklären und nicht nur die Kontrolle über ein Gebiet formalisieren, das sie bereits kontrollierten. Es ist wahrscheinlich, dass Moskau seine Forderungen jetzt noch hochschraubt und die Kontrolle über das Gebiet zwischen Donbas und der Krim beansprucht, womit die Russen sich den Südosten der Ukraine aneignen würden. Aber wie ich schon sagte: Russland hat einen Krieg vom Zaun gebrochen, der mit noch weiter reichenden Ambitionen begonnen wurde.

Den Donbass abtreten?

Die Ukrainer scheinen bereit zu sein, über die Abtretung des Donbass zu sprechen und stellen die Neutralität ihres Landes in Aussicht. Es ist aber nicht klar, was Neutralität in diesem Zusammenhang bedeutet. Die Schweiz hat sich im Zweiten Weltkrieg auf ihre Neutralität berufen, was bedeutete, dass sowohl Deutschland als auch die Alliierten ihr Bankensystem nutzten und von dort aus Geheimdienstorganisationen betrieben. Das ist eine Art von Neutralität. Eine andere Art ist die schwedische: Das Land ist nicht in der Nato und erwirbt nur in begrenztem Umfang westliche militärische Ausrüstung – aber niemand zweifelt daran, wo es steht.

Was würde Neutralität im Fall der Ukraine bedeuten? Die Ukraine wird vielleicht nicht der Nato beitreten und darauf achten, auch chinesische Militärausrüstung zu kaufen. Aber nach den Ereignissen des vergangenen Monats ist es schwierig, sich vorzustellen, dass Kiew Westeuropa und den Vereinigten Staaten sowie auch Russland gleichermaßen vertraut. Es kann formale Neutralität und Neutralität bei der Beschaffung von Waffen geben, aber der ukrainische Geheimdienst wird wahrscheinlich eher Informationen mit dem Westen als mit Russland austauschen. Wie kann die Ukraine in einer solchen Situation neutral sein?

Der offensichtliche Weg ist die Verschleierung. In Wirklichkeit hat Russland bewiesen, dass es nicht in der Lage ist, groß angelegte Mehrfrontenoperationen durchzuführen, und könnte daher gezwungen sein, seinen Waffengang einzustellen. Die Ukrainer haben bewiesen, dass sie in der Lage sind, Widerstand zu leisten und zu organisieren und Russland gelegentlich zu besiegen – aber sie können nicht weiterhin die Verluste auffangen, die Russland ihnen durch das schiere Gewicht seiner Streitkräfte beibringen könnte (egal, wie inkompetent Russlands Kriegsanstrengungen auch sein mögen).

Neue Kriegführung

Denn letztendlich kann Russland seine Generäle ersetzen, seine mittleren Offiziere fortbilden und seine Rekruten disziplinieren und motivieren. Das wird Jahre dauern, aber es kann funktionieren, wenn die Russen eine neue Kultur der politischen Kriegsführung entwickeln. Die Ukrainer können sich nicht gegen eine gut bewaffnete, gut ausgebildete professionelle Truppe schützen, solange sie nicht selbst eine professionelle Truppe aufrüsten und ausbilden. Die Neutralität erschwert dies, wenn Neutralität bedeutet, dass der Erwerb von Waffen und vielleicht auch von Ausbildung aus dem Westen (sprich: aus Nato-Ländern) ausgeschlossen ist.

Russland ist mit seinem Versuch, die Ukraine zu besetzen, grandios gescheitert und behauptet nun, es habe dieses Ziel nie verfolgt. Die Ukraine wiederum hat es geschafft, einer inkompetenten Macht zu widerstehen. So weit, so gut. Aber die Ukraine muss, wenn sie die Neutralität akzeptiert, eine „schwedische Neutralität“ annehmen – eine formale Neutralität, die ihre wahren Absichten verschleiert. Und das macht die Sache schwierig.

Dass die Waffenstillstandsverhandlungen in der Türkei stattfinden, ist interessant. Die gelegentliche Zusammenarbeit mit Russland im Nahen Osten kann nicht über das historische Misstrauen hinwegtäuschen. Die Türkei braucht ein schwaches Russland. Außerdem hat die Türkei Appetit auf ukrainisches Territorium, da sie es in der Vergangenheit besetzt hatte. Die Türkei ist der perfekte Gesprächspartner. Niemand ist sich sicher, was sie will, und das kann jede Seite vorsichtig machen.

Ist das die Neue Weltordnung?

Ich habe diesen Beitrag mit den Verhandlungen über den Iran begonnen – mit Verhandlungen also, die etwas hervorgebracht hat, das man früher für unmöglich gehalten hätte: eine israelisch-arabische Front, die den Amerikanern gegenübersteht, weil die USA sich in Sachen Iran öffnen wollen. Lehnen Sie sich also zurück und stellen Sie sich vor, wie seltsam das ist. Und stellen Sie sich vor, wie seltsam die russisch-ukrainische Situation ist. Die Tragödie besteht darin, dass es Tausende von Toten brauchte, um uns an den Punkt zu bringen, an dem alles begann.

Und was Iran betrifft, so hat uns das an den erstaunlichen Punkt gebracht, dass Teheran nicht glauben kann, sich in einer Situation zu befinden, in der man sich mit den Amerikanern einig wird – während die Araber und Israelis gemeinsam versuchen, die Amerikaner vom Gegenteil zu überzeugen. Wenn wir an die Neue Weltordnung denken, brauchen wir nicht weiter zu suchen.

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