Wirtschaftskrise in Großbritannien - Zwischen Protest und Optimismus

Inflation, sinkender Lebensstandard, Rezessionsängste: Im Vereinigten Königreich läuft es alles andere als rund, eine Mehrheit der Briten spricht sich gar für ein Referendum über eine Rückkehr in die Europäische Union aus. Doch London hat andere Pläne.

Protest gegen steigende Energiekosten in Birmingham / picture alliance
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Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Die britische Wirtschaft hat schon bessere Tage gesehen. Was mit dem Austritt aus der Europäischen Union begann, wurde durch die Corona-Pandemie verschlimmert und durch die wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Kriegs weiter verstärkt. In den vergangenen Jahren war die britische Wirtschaft daher von einer Mischung aus Rezessionsängsten, einem Rekordverfall des Pfund gegenüber dem Dollar und einer Abwanderung von Anlegern aus britischen Vermögenswerten, groß angelegten Streiks, einem sinkenden Lebensstandard, einer Migrationskrise, einem massiven Energieschock sowie einem Arbeitskräftemangel geprägt.

Kein Wunder also, dass das reale Bruttoinlandsprodukt im vierten Quartal 2022 kein Wachstum aufwies. Die Prognosen für 2023 sind auch nicht ermutigender. In diesem Jahr wird Großbritannien voraussichtlich eine der schlimmsten Rezessionen und danach den schwächsten Aufschwung aller G-7-Länder erleben. Es wird erwartet, dass die Inflation anhält, so dass die Bank of England die hohen Zinssätze beibehalten muss, und die Regierung wird weiterhin eine strenge Finanzpolitik verfolgen.

Die Lage ist derart angespannt, dass nach Angaben von The Independent 65 Prozent der Einwohner des Landes ein Referendum über die Rückkehr in die Europäische Union befürworten – ein Anstieg von etwa 10 Prozentpunkten gegenüber dem vorigen Jahr –, während etwa 61 Prozent überzeugt davon sind, dass sich die britische Wirtschaft durch den Austritt aus der EU verschlechtert hat.

Hoffen auf langfristige Erträge

Dennoch agiert London mit einer optimistischen Grundhaltung, indem es eine Strategie für den Aufschwung entwirft, die langfristige Erträge verspricht und es gleichzeitig ermöglichen soll, seine finanzielle Unterstützung für die Ukraine aufrechtzuerhalten (was trotz der Probleme im eigenen Land immer noch im britischen Interesse ist).

Premierminister Rishi Sunak hat beschlossen, die öffentlichen Ausgaben drastisch zu kürzen, etwa für Schulen, Polizei, Kommunen und Verkehr, und das gesparte Geld an die schwächsten Bevölkerungsgruppen weiterzuleiten, um die steigenden Lebenshaltungskosten (insbesondere die Energierechnungen) in den Griff zu bekommen – und das, obwohl er Kiew zugesichert hat, die Militärhilfe 2023 beizubehalten oder sogar zu erhöhen. Es ist klar, dass die britische Regierung diese Gelegenheit nutzen will, um ihren Einfluss auf Europa zu vergrößern, und man scheint akzeptiert zu haben, dass dies auf Kosten des Wirtschaftswachstums gehen wird.

Eigene Vorstellungen von Europa

Sicherlich ist dies ein heikler Balanceakt, aber London weiß, dass seine geopolitischen Bedürfnisse schon immer etwas heikel waren. Die physische Trennung Großbritanniens vom übrigen Europa erfordert eine grundsätzlich andere Herangehensweise an Sicherheit und internationale Beziehungen als beim Rest des Kontinents. Die Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen sind beispielsweise stärker auf die USA als auf Europa ausgerichtet, und das Five-Eyes-Geheimdienstnetzwerk spielt in der britischen Verteidigungsstrategie eine wichtige Rolle.

Folglich hat London viel von einem starken Osteuropa zu gewinnen – vorausgesetzt, Russland ist dort nicht die vorherrschende Instanz, und die Region bildet ein Gegengewicht zu seinen historischen Konkurrenten Frankreich und Deutschland. In diesem Sinne erfüllt die Unterstützung Kiews nicht nur britische Sicherheitsverpflichtungen gegenüber den USA, sondern hilft auch dabei, das europäische Festland nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Und es erklärt, warum London einer der größten Unterstützer der Ukraine ist und warum es angesichts der schwelenden wirtschaftlichen Spannungen im eigenen Land massive Ausgaben für einen Krieg in einem anderen Land rechtfertigen kann.

Ein Wagnis mit Vorzügen

Es ist natürlich ein Wagnis, und es ist unklar, ob London in der Lage sein wird, es durchzuziehen. Aber das Vereinigte Königreich hat einige Vorzüge. Es ist immer noch eine große, hoch entwickelte Volkswirtschaft mit sozialer Sicherheit und einer recht wohlhabenden Bevölkerung. Es ist in der Produktion von Hightech-Produkten gut aufgestellt, unterhält einen gesunden Handel mit den USA, mit der EU und mit China und ist immer noch eine überragende Macht auf dem Gebiet der Finanzdienstleistungen und im internationalen Handel.
 

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Darüber hinaus ist das Vereinigte Königreich auf der Suche nach neuen Märkten, insbesondere mit traditionellen Handelspartnern in Afrika und Indien. In Afrika ist Großbritannien sehr viel aktiver geworden und hat schon vor dem Ausbruch des Ukraine-Konflikts erklärt, dass es den regionalen Staaten mehr Freihandel als die EU und ehrlichere Geschäfte als China und Russland anbieten will.

Dies hat vor allem zu bilateralen Abkommen geführt, etwa dem von der britischen Exportfinanzierungsagentur für 2022 angekündigten, das bis zu vier Milliarden Pfund (rund 4,5 Milliarden Euro) für ausländische Käufer von Waren und Dienstleistungen aus dem Vereinigten Königreich bereitstellen wird, um die Handelsbeziehungen mit Marokko zu stärken. London hielt auch seinen allerersten Rat für Wirtschaftspartnerschaftsabkommen ab, um Arbeitsplätze zu sichern und den Handel mit Kenia auszuweiten. Außerdem soll im nächsten Jahr ein afrikanischer Investitionsgipfel ausgerichtet werden.

Fokus auf Asien, Afrika und Lateinamerika

In Indien versucht London, die Wirtschaftsbeziehungen anzukurbeln, indem es auf ein Freihandelsabkommen drängt. Auch koordiniert die Regierung die Zusammenarbeit mit Neu-Delhi in Schlüsselindustrien wie dem Verteidigungssektor, und hochrangige Beamte erörterten kürzlich eine umfassendere bilaterale Sicherheitskooperation.

An anderer Stelle erklärte der britische Außenminister James Cleverly, man beabsichtige, langfristige Strategien für die Entwicklung der Beziehungen zu bestimmten Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika zu entwickeln, um zu verhindern, dass Russland dort zu viel Einfluss ausübt. Russland ist natürlich nur ein Vorwand; Großbritannien möchte einen Teil des verlorenen internationalen Einflusses zurückgewinnen und gleichzeitig in ansonsten ungesättigte Märkte für britische Produkte vordringen.

Der Schlüssel zum Wiederaufschwung liegt nach Ansicht Londons vor allem darin, seinen Status als Weltmacht zu sichern, wie der umfassende Strategie- und Entwicklungsplan Großbritanniens für die Jahre 2021-2030 in den Bereichen Verteidigung, Außen- und Innenpolitik zeigt. Deshalb sieht es den Krieg in Osteuropa als Chance. Mittelfristig kann es Europa schwächen und gleichzeitig die Beziehungen zu weiter entfernten Regionen ausbauen, was nach Meinung der britischen Regierung eine solidere wirtschaftliche Grundlage bietet als die schnelle Lösung der aktuellen Probleme.

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