Proteste in Hongkong - China entledigt sich seiner Fassade

Die Massenproteste in Hongkong haben ein Schlaglicht auf eine globale Entwicklung geworfen: Autoritäre Regimes sind auf dem Vormarsch. Der Westen trage an dieser Entwicklung eine Mitschuld, schreibt Michael Brand. Er trete Menschenrechtsverletzungen nicht entschlossen genug entgegen

Ob Hongkong auf Dauer den autoritären Bestrebungen Chinas widerstehen kann, hängt auch vom Westen ab / picture alliance
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Autoreninfo

Michael Brand ist CDU-Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender der hessischen Landesgruppe und menschenrechtspolitischer Sprecher in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

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Wer Ideale wie freiheitliche Demokratie und Menschenrechte offensiv vertritt, der trifft auf Widerstand einer Minderheit, die lauter wird. Deren These lautet: Die Ära der offenen Gesellschaft und auch der europäischen Integration geht dem Ende entgegen. Autoritäre Konzepte treffen in einer Zeit von Unsicherheit, Globalisierung und Digitalisierung auf Zustimmung. Abgrenzung und Abschottung sind Zuflucht für die, die auf Fragen und Ängste keine Antworten finden, die von Verfechtern der offenen Demokratie auch oft keine erhalten.

Nicht das Konzept der Demokratie ist das Problem, sondern die mangelnde Kampfkraft erschlaffter Eliten. Es geht nicht um „Staatsversagen“ oder romantische Ideale – es geht um ein Versagen der gewählten Eliten bei der Verteidigung der Demokratie. Das bedeutet Marathon, tägliche Herausforderung, und es ist nicht mit Selfies und oberflächlichen Antworten zu erledigen. Für den Rückzug des westlichen Konzepts der universalen Rechte und der Würde des Menschen gibt es zahlreiche Beispiele.

Der Westen wagt nicht mehr, Verstöße zu kritisieren

Wenn der autoritäre Führer der Türkei einen international geschützten Richter eines Internationalen Strafgerichts bei der Einreise in sein Heimatland willkürlich verhaften lässt, einen regimetreuen Richter an seiner Stelle nominiert und der Westen die Verletzung internationaler Standards akzeptiert – dann sendet dies Signale nicht nur in Richtung Türkei, sondern weltweit. Dieses Signal lautet: Der Westen wagt nicht mehr, selbst flagrante Verstöße zu kritisieren. Er ist zu geschwächt, um selbst einen Konflikt um das internationale Recht zu wagen.

Wenn nach Krieg und Völkermord in Bosnien dieses zutiefst europäische Land erstmals seit Nazideutschland eine „völkische“ Verfassung aufgezwungen bekommt (unter aktiver Mithilfe deutscher Diplomaten), die ausgerechnet Juden und Sinti das Recht verweigert, höchste Ämter im Land zu bekleiden, ist das nicht nur eine Bankrotterklärung des Westens. Es ist auch, wie zuvor das Zuschauen beim schlimmsten europäischen Massaker seit dem Zweiten Weltkrieg, ein deutliches Signal: Wir haben ein taktisches Verhältnis zu Genozid und Menschenrechten.

Das Signal lautet zumindest: Nicht einmal in unserer Hemisphäre sind wir bereit, die Folgen selbst der brutalsten Verletzung von Menschenrechten, namentlich Völkermord, zu beseitigen. Die Täter erhielten die Kontrolle über Srebrenica, „um des lieben Friedens willen“ – ein Siegfried, ohne Gerechtigkeit, der sich bis heute als Destabilisierung für den ganzen Balkan auswirkt.

China entledigt sich seiner Fassade

Als Signalwirkung für die Schwäche in Europa wirkt der Kotau der Europäer vor immer offeneren autoritären Ansprüchen Chinas. So hat ausgerechnet Norwegen dem Dalai Lama, der in Oslo den Friedensnobelpreis erhielt, die kalte Schulter gezeigt. So hat Serbiens zunehmend autoritäre Führung vor dem Besuch der chinesischen Führung potenzielle Protestler vorsorglich und gegen jedes Recht interniert (dieses „vorsorgliche“ Wegsperren war geübte Praxis des DDR-Regimes gegen Bürgerrechtler vor wichtigen Terminen und Besuchen). Kaum jemand in Europa bringt mehr den Mut auf, die totalitäre Kontrolle der Chinesen via Internet durch das Regime offen zu kritisieren. Selbst die Internierung von über einer Million (!) Uiguren wird nur zaghaft und leise thematisiert.

Die aktuelle Eskalation chinesischer Unterdrückung in Hongkong untermauert alle düsteren Prognosen: China entledigt sich seiner Fassade, geht immer offener gegen die international garantierte demokratische Verfassung von Hongkong vor. Der Druck der chinesischen Führung gegen Bürger- und Menschenrechte nicht länger nur in China, sondern gegen eigene, völkerrechtliche Zusicherungen auch in Hongkong und in einem tatsächlich globalen Maßstab geben ein erstes Bild davon, wie eine globale chinesische Ära anstelle der noch weithin geltenden westlichen Ära aussehen könnte.

Die Schere im Kopf

Ob auf Dauer Hongkong, auch Taiwan und andere Staaten im Umfeld Chinas dem totalitären Druck der Kommunisten widerstehen können, hängt ganz zentral von einer entschiedenen Haltung des Westens zur Verteidigung des eigenen Konzepts von Freiheit und Menschenwürde ab. Bleibt es bei der weitgehenden Passivität, werden die Dominosteine der Demokratie in Asien fallen, und ein totalitäres China wird die nächsten Ziele, bis hin nach Europa, in Angriff nehmen.

Die mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der kommunistischen Volksrepublik China verbundene Hoffnung auf Demokratisierung dieses Giganten hat sich nicht erfüllt. Stattdessen hat die wirtschaftliche Macht des neuen Giganten ehemals tapfere Verfechter von Menschenrechten zum Kotau vor der schieren wirtschaftlichen Potenz verleitet. Dies gilt nicht nur für Konzernlenker. Die Schere im Kopf ist in vielen Äußerungen, Handlungen oder auch beredtem Schweigen und Unterlassen für alle global ablesbar. Der Menschenrechtsdialog mit China ist faktisch zum Erliegen gekommen und dient als Feigenblatt. Probleme werden zwar angesprochen, Konsequenzen fürchten muss Peking nicht.

Autoritäre Regime stoßen in die Lücke

Der Kotau des freien Westens mit insgesamt über eine Milliarde Menschen vor dem „Riesenreich“ mit derzeit 1,3 Milliarden Menschen ist unübersehbar. Während der Westen vor aller Augen verstummt, stoßen autoritäre Regime in die Lücke. Ein chinesischer Funktionär polemisiert und provoziert im ZDF-Interview ganz offen und fordert die Aufklärung als Konzept heraus. Das Problem des Westens sei: „Ihr glaubt an den selbstverantwortlichen Menschen!“

Der Botschafter Chinas in Deutschland nimmt sich heraus, frei gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages vorschreiben zu wollen, welche Termine (mit Tibetern) in Deutschland (!) sie nicht wahrzunehmen hätten, selbst welche Inhalte von der Internetseite zu verschwinden hätten. Das Regime wird keck, weil es nicht mehr auf ernsthafte Gegenwehr trifft. Ich habe mich gewehrt – und das Regime blockiert nicht nur mich, sondern gleich den ganzen Bundestagsausschuss für Menschenrechte von der Einreise nach China.

Berlin ist für die Regime kein Tabu mehr

Mehr noch geschieht vor unseren Augen in Berlin: Vietnamesische Bürger werden vom Regime auf offener Straße gekidnappt und nach Vietnam verbracht, um dort inhaftiert zu werden. Frauen aus Saudi-Arabien werden verfolgt, bedrängt und gebeten, doch mal in der Berliner Botschaft vorbeizukommen (nach Khashoggi eine besondere Einladung), und chinesische Dissidenten berichten mir von der realen Gefahr, in Berlin Opfer chinesischer Entführung zu werden.

Die Menschenrechte werden also längst nicht mehr nur in fernen Ländern außer Kraft gesetzt; weil wir schweigen, ist die Hauptstadt des stärksten Landes der EU kein Tabu mehr für Zugriffe von Regimen. Von Putin und Erdogan, die Gegner in westlichen Ländern verfolgen und sogar töten lassen, ist da noch nicht einmal gesprochen.

Eine nicht mehr zu ignorierende Feigheit im Westen

Autoritäre Regime aus China, Russland, Türkei und andere haben sich darauf eingestellt, dass der freie Westen aufgehört hat, sein Konzept der Aufklärung, die offene Gesellschaft und die Menschenrechte zu verteidigen. Wir laden durch unser Unterlassen und durch Unterordnung dazu ein, dass autoritäre Ideologen nicht nur in der eigenen Hemisphäre, sondern global nach Vorherrschaft streben. Dass autoritäre Konzepte weltweit auf dem Vormarsch sind, liegt also weniger an aggressiven Methoden der Regime. Es liegt weit mehr an der Selbstbeschränkung, auch der Unfähigkeit und dem Opportunismus, schlicht auch an nicht mehr zu ignorierender Feigheit im sogenannten Westen.

Wenn nur 70 Jahre nach der historischen Erklärung der Menschenrechte die Luft bei der Bewahrung und Verteidigung dieser einzigartigen Erklärung in der Geschichte der Menschheit ausgehen sollte, dann bliebe die Aufklärung eine Episode. Der Westen hätte im wahren Sinne des Wortes historisch versagt. Gerade heute gilt, was seit Kant bekannt ist: Frei zu werden – und frei zu bleiben – von selbst gewählter Abhängigkeit, erfordert viel Mühe.

Das Ende der glücklichsten Periode der Menschheit?

Die Zukunft von Klima, Migration, Sicherheit, Wohlstand, sozialer Sicherheit und viele andere Fragen sind aber nicht Randbedingung, sondern Folgen der Antwort auf die Grundsatzfrage: Wie halten wir es in internationaler, europäischer und nationaler Politik mit den Grundrechten, den Rechten der Menschen? Entweder wir treten selbstbewusst, offen und entschieden für die Freiheit und Menschenrechte ein, oder die glücklichste Periode der Menschheit, die Verankerung der Rechte der Menschen in der UN-Menschenrechtscharta, wird am Ende mehr Makulatur als wichtiger Grundpfeiler der Welt sein.

Europa, Ursprung der Aufklärung und der Menschenrechte, wird hier nicht nur das eigene Schicksal, sondern das der ganzen Menschheit mitentscheiden. Entweder wir setzen uns ein, strengen uns an und tragen die Fackel weiter – oder es wird global wieder dunkel um die Menschen und ihre Rechte.

Der Text erscheint parallel beim CDU nahen politischen Debattenmagazin CIVIS mit Sonde.

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