Vereinigtes Königreich - Der Todestag der Trussonomics

Die britische Regierungschefin Liz Truss kämpft um ihre politisches Überleben – nach nur 40 Tagen im Amt. Der von ihr bestellte pragmatische Schatzkanzler Jeremy Hunt schafft mit einem Handstreich ihr Wirtschaftsprogramm einfach wieder ab. Ob das die Finanzmärkte und die Rebellen in der eigenen Partei wird beruhigen können?

„Am wichtigsten ist derzeit Stabilität“: Schatzkanzler Jeremy Hunt
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Ein sicheres Zeichen für eine politische Krise ist es in London immer dann, wenn nicht einmal die BBC Zeit hat, Videostatements von Regierungsmitgliedern elegant zu schneiden, bevor sie auf Sendung gehen. Am Montagvormittag ging das Statement des neuen Schatzkanzlers Jeremy Hunt in der Rohfassung in die Nachrichtenschleife.

Wenn schon nicht die Form, so war doch der Inhalt klipp und klar: Fast alle Steuermaßnahmen, die von der britischen Premierministerin Liz Truss gerade noch als Wunderwaffe für die britische Wirtschaft präsentiert worden waren, hat Hunt jetzt wieder gestrichen. Auch die staatlichen Zuschüsse für gestiegene Energierechnungen stellt Hunt ab April in Frage, weil sie ohne soziale Staffelung nicht finanzierbar seien. „Wir haben noch weitere schwierige Entscheidungen zu treffen, wenn es zu Steuern und Ausgaben kommt“, warnte Hunt das Land. „Am wichtigsten ist derzeit aber eine Sache: Stabilität.“

In der Tat. Deshalb applaudiert eine gedemütigte und geschwächte Regierungschefin nun einem Schatzkanzler, der das Gegenteil ihres eigenen Wirtschaftsprogramms durchsetzt. Aus Liz Truss’ Schlachtruf „Wachstum, Wachstum, Wachstum“ wird nun Hunts Stabilisierungsplan: „Wachstum, das auf Stabilität beruht“. Die Steuererleichterungen für Superreiche sind bereits gekippt, auch die Unternehmenssteuer wird nicht gesenkt. Die geplante Senkung der Einkommensteuer wird zumindest eingefroren.

Hunt bemüht sich, mit kalmierenden Worten den Finanzmarkt zu beruhigen. Das dürfte erst einmal funktioniert haben. Das Pfund stieg am Montag morgen gegenüber dem Euro, weil Investoren gewisse Hoffnung auf den pragmatischen neuen Schatzkanzler setzen.

Truss’ Ansatz gilt nach nur 40 Tagen im Amt als gescheitert

Zur Erinnerung: Am 23. September hatte Hunts Vorgänger Kwasi Kwarteng ein Minibudget vorgestellt, das zur veritablen Katastrophe für die Regierung Truss wurde. Er kündigte Steuersenkungen für Betuchte an, die aber auf der Schuldenseite nicht gedeckt waren. Das Pfund fiel, die Kosten für staatliche Schulden stiegen. Kreditinstitute mussten versprochene Kreditraten, die sich nicht mehr finanzieren ließen, zurückziehen. Für tausende Kunden zerplatzte der Traum von einem Eigenheim wie eine Seifenblase. Die Bank of England musste eingreifen und britische Staatsanleihen aufkaufen, um das Pfund vor dem freien Fall zu bewahren. Die Inflation liegt derzeit bei knapp 10 Prozent.

Ob der moderate Konservative Jeremy Hunt aber als Schatzkanzler eine langfristig stabilisierende Wirkung haben wird, bleibt unklar. Noch vor einer Woche hätte niemand ein Pfund auf Hunts Rückkehr in die erste Reihe der britischen Politik gewettet. Im Sommer hatte sich der ehemalige Gesundheitsminister um die Nachfolge von Boris Johnson bemüht, war aber schnell daran gescheitert, dass sich die Tories zunehmend nach rechts orientieren – als neue Partei- und Regierungschefin wollten sie lieber Liz Truss, die sich als Ultra-Hardlinerin präsentierte.

 

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Ihr Ansatz gilt nach nur 40 Tagen im Amt als gescheitert. „Heute ist der Todestag der Trussonomics“, sage eine BBC-Kommentatorin über das Ende des Wirtschaftsprogramms von Liz Truss. Doch solange sie in Downing Street im Chefsessel sitzt, kann auch der pragmatische Schatzkanzler nur eine bedingte Kurskorrektur vornehmen. Sich mitten in der größten Wirtschaftskrise auf nichts anderes als Wachstum zu konzentrieren, fand sogar US-Präsident Joe Biden am Wochenende öffentlich verwerflich. Dass ein Staatschef eine Kollegin so harsch kritisiert, ist ungewöhnlich. Zu ihren unsozialen Steuerplänen sagte er: „Ich war nicht der Einzige, der dies für einen Fehler hielt.“

Bisher ist es nicht möglich, eine Parteichefin innerhalb ihres ersten Jahres abzusetzen

Allerdings. Inzwischen hat sich der Unmut innerhalb der Tory-Partei zu einer veritablen Meuterei ausgewachsen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das 1922-Komitee der konservativen Hinterbänkler. Seit hundert Jahren überwacht dieses Gremium aus 18 Abgeordneten die Misstrauensvoten gegen konservative Parteichefs. Am Wochenende soll ein steter Strom von E-Mails, die Liz Truss zum Rücktritt auffordern, bei Graham Brady, dem Vorsitzenden des 1922-Komitees eingetroffen sein.

Dabei ist es nach den bisher geltenden Regeln gar nicht möglich, eine Parteichefin innerhalb ihres ersten Jahres abzusetzen. Doch viele verzweifelte Tories wollen die Regeln ändern, weil sich Liz Truss’ Wahlkampfslogan „In Liz we Truss“ in das genaue Gegenteil verkehrt hat. Erst muss noch ein neues Präsidium gewählt werden, dann könnte die Meuterei ihren Lauf nehmen.

Den Tory-Rebellen aber könnten die kühleren Köpfe der eigenen Partei in den Arm fallen. Denn eine der logischen Optionen eines erneuten Führungswechsels sind Neuwahlen. Auf Boris Johnson, der 2019 eine große Mehrheit von 80 Mandaten gebracht hatte, folgte diesen September Liz Truss, die nur von 81.000 Parteimitgliedern zur Partei- und Regierungschefin gewählt wurde. Ein weiterer nicht demokratisch legitimierter Akt mitten in einer tiefen Wirtschaftskrise wird kaum mehr durchzusetzen sein.

Und wer gewinnt, ist auch klar: Die konservative Partei regiert seit 2010, ein Wechsel zur Labour Party wäre aus demokratiepolitischen Gründen an sich normal. Labour führt aber dank der Tory-Krisen mit 26 Prozentpunkten vor den Konservativen. Die Niederlage kommt also sehr wahrscheinlich so oder so. Egal, ob die Tories mit Truss oder einer neuen Führungshoffnung zu den Urnen rufen.

Die Parteirebellen hoffen auf einen Rücktritt

Zumal: Labour-Parteichef Keir Starmer ist nicht gerade eine charismatische Stimmungskanone, aber der ehemalige Staatsanwalt von England hat Ruhe in die eigene Partei gebracht und präsentiert sich mit seinem Schattenkabinett erstmals seit Jeremy Corbyns Ära für eine Mehrheit der Briten als denkbare Alternative zur Regierungsriege, die von Krise zu Krise stolpert.

Neben den Herausforderungen, mit denen sich jede Regierung wegen der kriegsbedingten Wirtschaftskrise und der Folgen der Covidpandemie wird herumschlagen müssen, kann auch der Effekt des wirtschaftlich schädlichen Austritts aus der EU inzwischen nicht mehr durch andere Krisen verschleiert werden. Im Interview mit der Financial Times sagt der ehemalige Chef der Bank of England, Mark Carney: „2016 hatte die britische Wirtschaft 90 Prozent der deutschen. Heute liegt sie unter 70 Prozent im Vergleich.“ Dazwischen legt der Brexit.

Liz Truss weigert sich bisher, einen Zusammenhang zwischen der schrumpfenden Wirtschaft in Großbritannien und dem Brexit zuzulassen. Sie hat bisher die EU eher noch weiter verstimmt, den Scheidungsvertrag, den ihr Vorgänger Boris Johnson mit der EU geschlossen hat, in Frage zu stellen. Sollte sie das Nordirland-Protokoll einseitig außer Kraft setzen, bräche die britische Regierung internationales Recht.

Allein deshalb hoffen einige Rebellen in ihren eigenen Reihen, dass die Regierungschefin bald beim neuen König Charles III. ihren Rücktritt einreichen wird. Der Monarch begrüßte sie bei der wöchentlichen Audienz ohnehin schon grummelig: „Sie schon wieder? Dear, oh dear.“

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