Die USA nach dem Rückzug aus Afghanistan - Das Märchen von der verlorenen Glaubwürdigkeit

Nach dem überstürzen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan wird jetzt überall beklagt, die Vereinigten Staaten hätten ihre Glaubwürdigkeit verloren. Aber das ist Unfug. Als problematisch könnte sich die neue Lage am Hindukusch vielmehr für Russland und China erweisen.

Ein US-Marine hält ein weinendes afghanisches Kind während einer Evakuierung am Flughafen von Kabul / dpa
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Phillip Orchard ist Analyst beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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In der vergangenen Woche gab es viel Bestürzung (und gelegentlich auch Begeisterung) darüber, wie der Rückzug der USA aus Afghanistan der amerikanischen Glaubwürdigkeit in anderen Teilen der Welt schaden würde. Vieles davon ist natürlich unaufrichtig; die politischen Feinde von Präsident Joe Biden wittern Blut im Wasser und sind eifrig dabei, sein strategisches Urteilsvermögen zu kritisieren – während die Vereinigten Staaten auf den „Kalten Krieg 2.0“ zusteuern und Peking erwartungsgemäß versucht, die globale Wahrnehmung der USA als einer kapriziösen Macht zu festigen, der man nicht trauen kann.

Dennoch gibt es auch eine scheinbar echte Beunruhigung darüber, ob das Debakel in Afghanistan beispielsweise Taiwan oder Südkorea oder andere Verbündete der USA zu dem Schluss bringen wird, dass sie sich nicht mehr auf die Verteidigung durch Washington verlassen können.

Eine überfällige Entscheidung

Das ist, um es klar und deutlich zu sagen, ein ziemliches Problem. Sicherlich hatten die Freunde und Verbündeten der USA in der ganzen Welt bereits Grund zu der Frage, ob Washingtons sich ständig ändernde strategische Interessen seine Verteidigungsverpflichtungen gefährden würden. Und das chaotische Ende des US-Krieges in Afghanistan – die nur sechs Tage, die die Taliban brauchten, um Kabul einzunehmen, die Bilder verzweifelter Afghanen, die am Rumpf von US-Flugzeugen hingen und das Land verlassen wollten – war kein gutes Zeugnis für die Geheimdienste und das diplomatische Geschick einer Supermacht. Die ganze Sache ist traurig und macht deutlich, dass Supermächte in der Regel viel besser darin sind, Dinge zu zerstören, als sie aufzubauen.

Aber wenn die USA die überfällige Entscheidung treffen, ihre Verluste in einem schwindelerregend teuren, größtenteils nicht zu gewinnenden, zwei Jahrzehnte andauernden Krieg zu begrenzen, der für Amerikas strategische Kerninteressen bestenfalls nebensächlich geworden war, wird dies der „Glaubwürdigkeit“ der USA in ihrem wichtigsten strategischen Interessengebiet, nämlich dem indopazifischen Raum, nur minimalen Schaden zufügen. So funktioniert Glaubwürdigkeit in der Geopolitik nicht. Wenn überhaupt, dann wird es wahrscheinlich den gegenteiligen Effekt haben.

Was macht ein Land glaubwürdig?

Die akademischen Theorien über militärische Macht und Glaubwürdigkeit variieren stark, aber die meisten haben ein paar Schlüsselelemente gemeinsam. Es beginnt mit den Fähigkeiten: Verfügt ein Land über die Waffen, die Arbeitskräfte, die Logistik, die Führung und die Industrieanlagen, um seine Drohungen oder Verpflichtungen zu erfüllen? Existiert die Bereitschaft, sich auf einen Kampf einzulassen und durchzuhalten, bis das Ziel erreicht ist – unter Berücksichtigung der Risiken, des politischen Rückhalts, der langfristigen Kosten, der strategischen und diplomatischen Abwägungen und so weiter? Es gibt auch einige abstraktere Elemente wie etwa die Übereinstimmung von Drohungen und Verpflichtungen mit Motivationen und Interessen: Andere werden viel eher glauben, dass ein Land tun wird, was es sagt, wenn es gute Gründe dafür hat.

Historische Bilanz ist als Faktor überbewertet

Auch die historische Bilanz eines Landes in solchen Angelegenheiten spielt eine Rolle für seine Glaubwürdigkeit. Studien haben jedoch gezeigt, dass Länder dazu neigen, die Notwendigkeit des Wahrens ihrer Glaubwürdigkeit als Grund für ihr Handeln zu überschätzen. Mit anderen Worten: Wenn Land A Land B mit Krieg droht, hat die Frage, ob Land A frühere Drohungen wahr gemacht hat, wenig Einfluss auf die Einschätzung von Land B, ob es Land A dieses Mal ernst meint. Die gegenwärtigen Umstände – die Kräfteverhältnisse, das strategische Kalkül und so weiter – sind im Grunde alles, was zählt.

Aus den vergangenen Kriegen eines Landes kann man viel lernen. In Afghanistan haben die USA ihre Bereitschaft gezeigt, zu kämpfen und jahrzehntelang weiterzukämpfen, selbst als der Umfang ihres Einsatzes mehrfach wuchs und wieder schrumpfte. Zu Beginn legten sie eine blitzschnelle Mobilisierungsfähigkeit und brutal effiziente konventionelle Kampfkraft an den Tag, mit denen sie einen schwächeren Gegner überwältigen konnten. Mit zunehmender Ausdehnung des Einsatzes zeigte sich aber, dass die Fähigkeiten und/oder das Engagement der USA nicht ausreichten, um einen fest verwurzelten Aufstand niederzuschlagen und einen gescheiterten Staat in eine stabile, lebendige Demokratie zu verwandeln. 

Es zeigte sich auch, dass die vermeintliche „Kriegsmüdigkeit“ in der amerikanischen Öffentlichkeit nichts mit der Trägheit und der Angst vor einem Abzug ohne eindeutigen Sieg zu tun hat. Sondern vielmehr, dass die USA dazu neigen, sich ablenken zu lassen, dass sie ihre Fähigkeit überschätzen, mit roher Gewalt weitreichende Ergebnisse zu erzielen. Und dass sie sich schwer damit tun, klare, erreichbare Ziele festzulegen, zu vermitteln und zu verfolgen.

Wenig davon war jedoch neu, und vieles davon ist auch für die Situation im westlichen Pazifik nicht relevant. Die Verbündeten der USA zweifeln seit langem an der Bereitschaft Washingtons, sich gegen Bedrohungen aus China, Nordkorea und dergleichen zu stellen. Schließlich haben die Vereinigten Staaten noch vor wenigen Jahren offen damit gedroht, Südkorea zu verlassen. Sie haben sich nicht formell verpflichtet, Taiwan zu verteidigen. Die gegenseitigen Verteidigungsverträge mit offiziellen Verbündeten wie Japan und den Philippinen sind absichtlich vage gehalten, da die USA nicht in einen Krieg hineingezogen werden wollen, der ihnen widerstrebt.

Eine Kombination von Problemen

China ist sehr stark geworden und in der Lage, den Amerikanern zumindest enorme Schmerzen zuzufügen, sollten die USA versuchen, ihre Freunde vor Chinas Haustür zu verteidigen. Eine Kombination von Problemen – politische Zwänge im eigenen Land, weitreichende Sicherheitsverpflichtungen auf der ganzen Welt (und damit die Möglichkeit, sich anderswo zu verzetteln), politische Unzufriedenheit mit Verbündeten, die die militärische Vormachtstellung Amerikas geringschätzen, und die reale Möglichkeit, dass die USA eines Tages zu dem Schluss kommen, dass das Beherrschen des westlichen Pazifiks einfach nicht wichtig genug ist, um die Risiken und Kosten eines Kampfes gegen China auf sich zu nehmen: Alles das reicht aus, um regionale Staaten dazu zu bringen, sich nicht mehr auf die USA verlassen zu wollen.

Anders ausgedrückt: Die Glaubwürdigkeit der USA ist keine feste Ressource – und sie muss mit Bedacht gepflegt werden. Ein anderes Vorgehen der USA in Afghanistan würde jedoch kaum einen ihrer Freunde und Verbündeten im indopazifischen Raum beruhigen (mit Ausnahme Indiens, das in gewisser Weise von der amerikanischen Terrorismusbekämpfung in Afghanistan profitiert hat). 

Würden die USA weiterhin Ressourcen aus dem indopazifischen Raum nach Afghanistan umleiten, um Taipeh, Tokio oder Manila davon zu überzeugen, dass die USA bereit und in der Lage sind, sie zu verteidigen? Verstärken die USA, die eine 20-jährige Besatzung aufgeben, die kaum jemand wollte, wirklich die Befürchtungen in Seoul, dass die äußerst erfolgreiche, 70-jährige US-Präsenz auf der Halbinsel (die für die strategischen Kernziele der USA in der Region immer noch von unschätzbarem Wert ist) vor dem Aus steht? Lassen die Probleme der USA beim nation building und bei der asymmetrischen Kriegsführung wirklich jemanden an den konventionellen Fähigkeiten Amerikas zweifeln, die in einem indopazifischen Konfliktszenario höchstwahrscheinlich zum Tragen kommen würden? 

Das eine sind Äpfel, das andere sind Birnen. Und es ist schwer, sich ein Szenario vorzustellen, in dem ein wichtiger US-Partner in der Region irgendwelche sinnvollen strategischen Neujustierungen vornimmt, weil die USA in Kabul in Verlegenheit geraten sind.

Neuer Fokus auf indopazifischen Raum

Wenn überhaupt, ist das Gegenteil der Fall. Trotz seiner überragenden strategischen Bedeutung hat der indopazifische Raum seit 2001 nur einen relativ kleinen Teil der US-Ressourcen erhalten. Langwierige Landkriege im Nahen Osten waren sehr kostspielig und nahmen zwei Jahrzehnte lang die Aufmerksamkeit des Pentagons in Anspruch. Jetzt scheinen die Vereinigten Staaten endlich bereit zu sein, sich dem Pazifik zuzuwenden, und zwar in Bezug auf die militärische Struktur und die Ausgaben, auf diplomatische und wirtschaftliche Unterstützung und anderes mehr.

Außerdem ist das Gezeter über die Preisgabe des amerikanischen „Einflusses“ in Zentralasien zugunsten Chinas und Russlands schlicht unangebracht. Denn es ist generell eine sehr schlechte Idee, mit anderen Großmächten in allen Teilen der Welt einen Nullsummenwettbewerb zu führen. Imperien gehen an einer solchen Überdehnung zugrunde. In gewisser Weise haben China und Russland sogar von den Antiterroroperationen der USA in der Region profitiert. Ein Machtvakuum in Afghanistan ist für sie ein viel größeres Problem als für die USA, und nun müssen sie mehr Verantwortung für die Bewältigung des dortigen Chaos übernehmen – und laufen Gefahr, in die gleichen Fallen zu tappen wie so viele ihrer Vorgänger.

Machtvakuum in Afghanistan

Ob dies letztendlich den strategischen Interessen Amerikas im indopazifischen Raum zugutekommt, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Es besteht die Möglichkeit, dass sich China und Russland in Südasien verzetteln, wie es die USA zuvor getan haben, und deswegen gezwungen sein werden, Ressourcen aus Osteuropa und dem Süd- und Ostchinesischen Meer abzuziehen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass China die Angst Pakistans und/oder des Irans vor einem weiteren gescheiterten Staat in Afghanistan ausnutzt, um ein strategisch wertvolles Netz von Militärstützpunkten im Indischen Ozean zu errichten. Nicht zuletzt besteht die Möglichkeit, dass auch Indien in das Machtvakuum hineingezogen wird, wodurch sein erneuter Vorstoß, ein unverzichtbarer Marinepartner für die USA zu werden, zunichte gemacht wird.

Seit die britische Ostindien-Kompanie vor Jahrhunderten als erstes westliches Imperium am Hindukusch auf die schiefe Bahn geriet, hat Afghanistan ausländische Strategen immer wieder zum Narren gehalten. Um ein apokryphes Zitat des CIA-Mannes Gust Avrakotos aufzugreifen, der damals die Mudschaheddin mit Waffen versorgt hat: „Wir werden sehen.“ 

Die durch den überstürzten Rückzug angeblich beschädigte Glaubwürdigkeit der USA jedenfalls wird bei alledem keine Rolle spielen.

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