Unruhen in Amerika - Wie die Identitätspolitik die Gesellschaft spaltet

Der Tod von George Floyd spaltet die USA. Die Identitätspolitisierung aus dem linken und rechten Lager lässt das Land weiter auseinanderdriften. Diese Entwicklung könnte letztlich Präsident Trump die Wiederwahl bescheren.

Demonstration gegen den gewaltsamen Tod von George Floyd / dpa
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Autoreninfo

Michael Sommer lehrt an der Universität Oldenburg Alte Geschichte und moderiert gemeinsam mit Evolutionsbiologe Axel Meyer den Cicero-Wissenschafts-Podcast

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In ein paar Monaten wird man sich fragen, wann dem Mann, dessen Präsidentschaft noch vor vier Jahren kaum jemand für möglich gehalten hätte, seine zweite Amtszeit auf dem silbernen Tablett serviert wurde. Vieles spricht dafür, dass es die heißen Frühjahrstage von Minneapolis sein werden, die Donald Trump vier weitere Jahre im Weißen Haus sichern werden. Wie im Zeitraffer scheinen die Vereinigten Staaten einem Abgrund aus Chaos und Hass entgegenzutaumeln.

Die berechtigte Furcht vor tödlicher Polizeigewalt, die sich tagsüber in Demonstrationen entlädt, schlägt nach Einbruch der Dunkelheit in die rasende Wut eines entfesselten Mobs um, vor dem die Staatsmacht in den Metropolen bereits kapituliert hat. Zum Schichtwechsel verschwinden die besorgten Bürger in ihren Häusern, und eine Stadtguerilla übernimmt die Herrschaft auf der Straße, in der privilegierte Suburb-Kids Seite an Seite mit Desperados Steine werfen, brennen und Plündern.

Die Lesart des liberalen Amerika

Mit pawlowscher Reflexhaftigkeit hat sich die europäische, vor allem die deutsche, Öffentlichkeit ihre Deutung dieses amerikanischen Blutmai zusammengezimmert: Schuld ist der böse Mann mit dem orangenen Haarschopf, der aus dem Weißen Haus zum Rassenhass aufruft. In Europa macht man sich vorzugsweise die Lesart des liberalen Amerika zu eigen, die besagt, seit Trumps Wahlsieg 2016 eskaliere die Gewalt gegen Homosexuelle, Einwanderer, Muslime und eben Afroamerikaner – und die Täter beriefen sich bei ihren Verbrechen auf niemand Geringeren als den Präsidenten.

Doch Trumps liberale Gegner sind mitnichten unparteiische Beobachter des tatsächlich dramatischen Geschehens. Was mit dem noblen Anliegen der Bürgerrechtsbewegung begann, Minderheiten vor Diskriminierung zu schützen, sich dann in der Gesetzgebung mit sogenannten „affirmative actions“ fortsetzte und schließlich, unter maßgeblicher Regie von Ostküstenliberalen an Universitäten und in Redaktionsstuben, im Viktimismus der Diversitätsideologie moralisierte, ist heute als Identitätspolitik zu einer regelrechten Tyrannei des schlechten Gewissens geworden. Freilich ist das schlechte Gewissen ein Privileg der akademischen Eliten auf ihren Elfenbeintürmen.

Linke gegen rechte Identitätspolitisierung

Der Politikwissenschaftler Mark Lilla hat demonstriert, wie der identitätspolitische Empowerment-Furor Amerikas Linke gleich dreifach in die Aporie führt: erstens, weil das Einfordern von Minderheitenrechten mit geradezu religiöser Inbrunst von den realen sozialen und ökonomischen, die Gesellschaft durchziehenden Konfliktlinien ablenkt; zweitens, weil die Identitäten der neuen Stämme von LGBT, Muslimen, vor allem aber People of Color tatsächlich nur die Fremdzuschreibungen, Stereotype und Etikettierungen spiegeln, gegen die sie sich zu richten vorgeben; und drittens, weil die identitätspolitische Tribalisierung der Minderheiten einen identitätspolitischen Backlash der noch-Mehrheit provoziert: der weißen Mittelschicht also, die sich in ihren Vororten räumlich schon seit geraumer Zeit segregiert hat und die sich jetzt auch innerlich aus der Nation abmeldet.

Das Gesicht dieses Backlash ist Donald Trump, der deshalb – entgegen der Wahrnehmung in Europa – nicht Urheber, sondern Symptom der dramatisch wachsenden gesellschaftlichen Kluft und des verzehrenden Hasses ist. Nach der Identitätspolitisierung der Minderheiten von links reitet der 45. Präsident der Vereinigten Staaten auf einer Welle der Identitätspolitisierung von rechts: der Mehrheit, deren Amerika mit seinem grandios-simplen Slogan „Make America great again“ gemeint ist. Beide Identitätspolitiken, die von rechts, zuerst aber die von links, haben den Wappenspruch der USA in sein Gegenteil verkehrt: Aus e pluribus unum ist ex uno multa geworden.

Besser wird die Welt nicht

Für die USA, für den Westen, für Europa und für Deutschland verheißt all das nichts Gutes. Auf taumelnder Bahn werden die Vereinigten Staaten sich dem alten Kontinent weiter entfremden, dem Isolationismus als vermeintlicher Heilslehre frönen und ihren technologischen, ökonomischen, militärischen und daher auch politischen Primat sukzessive verspielen und an andere Akteure abgeben. Das wird nicht über Nacht geschehen, doch in Deutschland gebe man sich keinen Illusionen hin: Besser wird die Welt nicht, die auf die US-Hegemonie folgt. Und womöglich stehen unserer Gesellschaft, deren Fähigkeit zur Solidarität gerade jetzt durch die Corona-Krise auf die Probe gestellt wird, ähnliche Spaltungen ins Haus wie den USA. Denn auch bei uns versprüht die Identitätspolitik ihr ätzendes Gift.

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