Ukrainekonflikt - Will Russland die Ukraine angreifen?

Derzeit verstärken sich die Hinweise auf eine bevorstehende russische Militäroperation in der Ukraine. Und der Kreml hat durchaus ein Interesse daran, das westliche Nachbarland weiter zu destabilisieren. Gleichzeitig muss Putin aber Vorsicht walten lassen. Die Situation ist mehr als vertrackt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenski in einem Schutzraum während eines Besuchs in der umkämpften ostukrainischen Region Luhansk / dpa
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Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

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Der Krieg in der Ostukraine begann vor mehr als sieben Jahren. Der Konflikt ist von Jahr zu Jahr komplizierter geworden, da Gerüchte kursieren, dass sowohl Moskau als auch Kiew ein Vorgehen in der umkämpften Region Donbass planen. Beide Seiten verstärken derzeit ihre militärische Präsenz an der Grenze, es finden immer häufiger Übungen statt, und es werden neue Überwachungstechnologien eingesetzt. Erst diese Woche gab es erneut Warnungen, dass Russland in diesem Winter möglicherweise eine Militäroperation beabsichtigt, da es Berichten zufolge seine Streitkräfte an der Westgrenze massiv aufstockt.

Oberflächlich betrachtet, scheinen diese Schritte die Spekulationen über erneute Kämpfe zu stützen. Eine Eskalation des eingefrorenen Konflikts zu einem heißen Krieg wäre jedoch für beide Seiten riskant, weil dies das Kräfteverhältnis in der Region erheblich verändern und die Beziehungen Russlands zum Westen noch weiter verkomplizieren könnte. Russland würde daher eher zu anderen Mitteln greifen, um seine Ziele in der Region zu erreichen – insbesondere jetzt, da andere wichtige Akteure in der Region durch dringendere Probleme abgelenkt sind.

Die Ukraine als Pufferzone

Die Ukraine ist ein wichtiger Teil von Russlands westlicher Pufferzone, die die russische Grenze von den Nato-Truppen trennt. Moskau hat daher ein Interesse daran, die Ukraine schwach und destabilisiert zu halten, damit es seinen eigenen Einfluss dort leichter ausweiten und den des Westens zurückdrängen kann. Es kann dies auf verschiedene Weise erreichen. Zum einen kann es die Ukraine destabilisieren, indem es im Osten einen Überraschungsangriff mit von Russland unterstützten Rebellen startet. In Anbetracht der Tatsache, dass das Gleichgewicht der Kräfte und der Handlungsmöglichkeiten hier zugunsten Russlands ausfällt, würde die Ukraine wahrscheinlich mehr Land an die Separatisten verlieren, was die Position der Regierung in Kiew schwächen würde.
 
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass Russland die Ukraine mit wirtschaftlichen Mitteln destabilisiert. Kiew ist von den Einnahmen abhängig, die es als Transitzone für russische Energieexporte in andere Teile Europas erzielt. Anfang dieses Jahres erklärte die Ukraine, dass sie in den nächsten fünf Jahren mit sieben bis 15 Milliarden Dollar (je nach Umfang der Lieferungen) durch Energietransitgebühren rechnen könne. Sollte Russland diese Lieferungen jedoch über ein Gebiet außerhalb der Ukraine umleiten, würde dies den Haushalt der Ukraine belasten, der bereits durch Schulden und einen pandemiebedingten Wirtschaftsabschwung belastet ist. Aus diesem Grund sieht Kiew die Nord-Stream-2-Pipeline, die russisches Erdgas unter Umgehung der Ukraine in die europäischen Märkte transportieren soll, als Bedrohung an.

Der Mangel an zuverlässigen Gas- und Kohlelieferungen für die Ukraine aus Russland ist eine weitere Schwachstelle. All dies könnte zu sozialer Unzufriedenheit führen, die sich in einer zunehmenden pro-russischen Stimmung im Land niederschlagen könnte. In der Überzeugung, dass die Annäherung an Europa nur wenige finanzielle Vorteile mit sich bringt und den Zugang zu erschwinglichen Brennstoffen gefährdet, könnten sich die Ukrainer auf die Seite Moskaus schlagen, vor allem, wenn die kalte Winterzeit naht.

Auf wackligen Beinen

Ein dritter Weg, wie Russland die Ukraine destabilisieren könnte, ist die Untergrabung ihrer Politik. Tatsächlich steht die ukrainische Politik bereits auf wackligen Beinen. Laut einer aktuellen Umfrage sind nur 33 Prozent der Ukrainer mit der Arbeit des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenski zufrieden. Zelenski befindet sich außerdem mitten in einem Kampf gegen die ukrainischen Oligarchen, der seine politische Position bedrohen könnte. Anfang dieses Monats unterzeichnete er ein Gesetz, mit dem der politische und wirtschaftliche Einfluss der Oligarchen im Land geschwächt werden soll. Es schränkt die Spenden der Oligarchen an politische Parteien ein und untersagt ihnen die Beteiligung an der Privatisierung bestimmter Vermögenswerte. Es wird vermutet, dass sich das Gesetz auf die Geschäfte des reichsten Mannes der Ukraine, des Geschäftsmanns Rinat Achmetow, auswirken wird, dem drei Kohlebergbauunternehmen in der russischen Region Rostow gehören.

Die Befürchtungen des Westens vor einem russischen Angriff sind also nicht unbegründet. Da die Zustimmungswerte für den ukrainischen Präsidenten sinken, die Energiepreise in die Höhe schnellen und sich die Durchschnittsukrainer fragen, ob sie in diesem Winter ihre Häuser heizen können, könnte Moskau dies als eine perfekte Gelegenheit betrachten, seine Position in der Ukraine zu stärken. In der Zwischenzeit konzentriert sich die Europäische Union auf die Migrationskrise an der polnisch-weißrussischen Grenze, und die Vereinigten Staaten sind mit unzähligen anderen nationalen und internationalen Problemen beschäftigt.

Aber Russland kennt seine Fähigkeiten, Grenzen und Ziele besser als jeder andere – und zu diesen Zielen gehört nicht eine chaotische Destabilisierung der Ukraine. Moskau bevorzugt eine kontrollierte Destabilisierung, die zur Umsetzung des Minsker Abkommens von 2015 führt, mit dem der Konflikt im Osten gelöst werden soll. Der Kreml glaubt, dass er erreichen kann, was er will – nämlich, dass die ostukrainischen Separatistenrepubliken als pro-russische, unabhängige Pufferzone zwischen dem pro-westlichen Kiew und Russland fungieren – nur mit der Drohung einer größeren Destabilisierung und sogar eines Krieges.

Drohnen aus der Türkei

Ein direktes militärisches Vorgehen kommt für den Kreml wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise in Frage. Es wäre nämlich sehr riskant und würde die Minsker Vereinbarungen gefährden. Aus Moskaus Sicht ist es Kiew, das sich provokativ verhält, indem es im Osten Bayraktar-Drohnen aus türkischer Produktion einsetzt und die Stationierung russischer Truppen auf der Krim anpreist, einem wichtigen Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Ein russischer Angriff würde neue Sanktionen nach sich ziehen, den Bemühungen um einen wirtschaftlichen Aufschwung schaden und viele Russen verärgern, von denen einige familiäre Bindungen zur Ukraine haben und von denen die meisten wollen, dass sich der Kreml auf den Aufschwung nach der Corona-Pandemie konzentriert.

Außerdem haben Russland und die USA so etwas wie eine Übereinkunft getroffen: Die Vereinigten Staaten werden keine Waffen in der Ukraine oder in Georgien stationieren, die Russland bedrohen könnten – und Russland wird nicht tiefer in das Gebiet dieser Länder vordringen. Moskau will den Status quo nicht gefährden.

Selbst bei seinen Destabilisierungsbemühungen ist Vorsicht geboten; Russland hat kein Interesse an einer weiteren Euromaidan-Situation im Nachbarland und lässt deswegen Vorsicht walten. Der russische Energieriese Gazprom hat es nicht eilig, weitere Pipelinekapazitäten über die Ukraine nach Europa zu buchen, und vor kurzem hat Russland die Lieferung von Kraftwerkskohle in die Ukraine verboten. Da die Temperaturen sinken, könnte dies zu Panik unter den Ukrainern führen, die während des langen Winters auf funktionierende Heizungen angewiesen sind. Russland liefert etwa 60 Prozent der ukrainischen Kohleimporte und etwa 20 Prozent des Gases. Doch das ist höchstwahrscheinlich nur ein Vorwand: In all den Jahren des eingefrorenen Konflikts blieb Russland der Hauptlieferant der Ukraine für Kohle. Die Lieferungen wurden über Belarus und andere Länder umgeleitet.

Moskau öffnet seine Märkte

In der Zwischenzeit reagierte der russische Präsident Wladimir Putin auf den Einsatz von Bayraktar-Drohnen durch die Ukraine im Osten, indem er mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten prahlte, die Russland den Republiken Luhansk und Donezk bieten kann. Moskau öffnete seine Märkte vollständig für die in den Republiken hergestellten Waren, was den Unternehmen in der Donbass-Region helfen könnte, ihren Umsatz zu steigern und Arbeitsplätze zu schaffen. Putin unterzeichnete auch einen Erlass über die Bereitstellung humanitärer Hilfe für die beiden Republiken. Dem Dokument zufolge wird Russland Maßnahmen ergreifen, um Hindernisse abzubauen, denen sich Unternehmen aus dem Donbass beim Verkauf von Waren nach Russland gegenübersehen, indem sie beispielsweise denselben Zugang zu öffentlichen Aufträgen erhalten wie russische Firmen. Moskau erkannte auch die von Unternehmen aus der Region ausgestellten Ursprungszeugnisse an und schaffte die Einfuhrquoten ab.

Mit anderen Worten: Die prorussischen Ostgebiete erhalten wirtschaftliche Unterstützung und Zugang zu einem großen Markt, während der Rest der ukrainischen Wirtschaft mit den Corona-Beschränkungen zu kämpfen hat.

Seit dem zweiten Minsker Abkommen wendet sich Kiew jedes Frühjahr oder jeden Herbst an die Medien und an seine Verbündeten mit der Warnung, Russland bereite den nächsten Krieg vor. So war es auch im vergangenen März. Normalerweise geschieht dies vor einer Verhandlungsrunde im Normandie-Format. Doch während Kiew sondiert, wie Moskau auf den Einsatz der Bayraktar-Drohnen reagieren wird, geht der Kreml entspannter und überlegter vor und versucht nicht, Kiew in Aufruhr zu versetzen. Nachdem Moskau Kiew gezeigt hat, dass es ihm das Leben erschweren oder aber erleichtern kann, versucht es nun, die ukrainischen Behörden zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen zu bewegen oder seine eigene Position in den bevorstehenden Verhandlungen zu stärken.

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