Lehren aus dem Ukraine-Krieg - Unser Wunschdenken verstellt den Blick auf die Realität

Syrien, Krim, Donbass: In Deutschland wollten wir lange nicht wahrhaben, welche Gefahr von Putins Russland ausgeht. Auch jetzt noch, während russische Soldaten die Ukraine verwüsten und deren Bürger töten, dominiert der Wunsch nach schneller Rückkehr zur Normalität. Wir wollen unsere Ruhe. Und das ist fatal.

Für uns ein Albtraum, für die Ukrainer schreckliche Realität: Feuerwehreinsatz nach russischen Angriffen auf Odessa / AP Photo
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Es ist wohl etwas allgemein Menschliches: der Wunsch, Gedanken an das Unvorstellbare zu vertreiben. Ukrainer erzählen mir von Spaziergängen am Vorabend des Kriegsbeginns, auf denen sie einander versicherten: Es wird schon nicht passieren.

Aber womöglich haben wir Deutschen es damit in den letzten Jahrzehnten übertrieben. Warum? Weil uns der innere Frieden, der Wohlstand, die Ruhe wichtiger sind als alles andere. Selbst wenn dort draußen in der Welt etwas passiert, das die Harmonie stört: Am liebsten haben wir es, wenn wieder Ruhe einkehrt. Oder wenn wir uns zumindest in Ruhe mit uns selbst beschäftigen können.

Zurück zum business as usual

Beispiel Krim-Annexion und Krieg im Donbass 2014/2015: Natürlich war die Empörung groß angesichts des russischen Bruchs des Völkerrechts. Aber war nicht bald nach den Sanktionen und den „Minsker Verträgen“ der Wunsch da, wieder zum business as usual zurückzukehren? Die Krim – erledigt, bleibt bei Russland, kannste nicht ändern. Der Krieg im Donbass – eingefroren.

Wir wollten das wohl akzeptieren. Aber mussten wir es auch akzeptieren? Nur, weil wir uns wünschten, dass der Albtraum möglichst schnell vorbeigehen würde. Nur so konnten wir weiter Geschäfte mit Russland machen, nur so konnten wir unsere Mannschaft 2018 mit reinem Gewissen zur Fußballweltmeisterschaft nach Russland schicken. Aber Albträume sind nur für uns Träume, für die Menschen in der Ukraine waren und sind die Ereignisse real.

Vom Syrien-Krieg zur Ukraine

Beispiel Syrien: Aus der Ferne betrachteten wir mit Schrecken den Bürgerkrieg. Aber wünschten wir uns nach dem Eingreifen Russlands nicht insgeheim, dass Putin diesen Krieg – wenn auch mit schrecklichen Methoden – zu Ende bringen würde? Zwar unangenehm, dass dann Assad noch an der Macht wäre, Diktatur, Menschenrechtsverletzungen et al., schlimm das alles. Aber immerhin hatten wir doch wieder unsere Ruhe.

Beispiel Ukraine 2022: Wir bringen uns über Jahrzehnte sehenden Auges in große Abhängigkeit von russischen Energieträgern, Russland rüstet mit unseren Milliarden auf. Unser Wunschdenken sagt uns: Putin ist zwar ein Autokrat und ein Mörder von Oppositionellen, aber er ist ja nicht wahnsinnig. Wir brauchen sein Gas, er unsere Maschinen. Und dann fliegen russische Raketen nach Kramatorsk, Kiew und Lemberg.

War in der deutschen Diskussion zu Anfang nicht wieder der Wunsch da nach einem schnellen Ende des Kriegs, auch auf Kosten der Ukraine? Die Forderungen nach Kapitulation geistern auch in Woche sechs des heldenhaften ukrainischen Widerstands durch unsere sozialen Netze und Feuilletons. Hoffen wir nicht insgeheim darauf, dass in Istanbul eine Formel gefunden wird, die den Krieg „einfriert“, selbst zum Preis einer dauerhaften Besatzung großer Teile der Ukraine durch russische Truppen? Dahinter steht nichts anderes als der Wunsch, das alles möge schnell vorbeigehen. Für uns.

Unvorstellbare Dinge passieren

Unser Wunschdenken hat uns den Blick verstellt. Horrorszenarien treten ein. Das ist die Lehre, die wir aus diesem Krieg ziehen müssen.

Die existentielle, nukleare Bedrohung Israels durch den Iran? Sie ist real, auch wenn wir uns das nicht vorstellen wollen, auch wenn unsere Manager lieber gestern als heute Geschäfte mit Teheran machen würden. Die Möglichkeit eines chinesischen Einmarschs in Taiwan? Sie ist real.

Unvorstellbare Dinge passieren, unabhängig von dem, was wir uns wünschen. Die ermordeten Zivilisten auf den Straßen des Kiewer Vororts Butscha erinnern uns daran.

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