Ukraine-Krieg - Schwierige Entscheidungen

Knapp drei Monate nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ist das Land angeschlagen: wirtschaftlich, militärisch und politisch. Und die Führung des Landes steht vor schwierigen Entscheidungen. Betrachtet man dieser Tage die militärischen Karten aus der Ukraine, könnte man vorsichtig optimistisch werden - trotz der Einnahme Mariupols durch russische Truppen: Die Lage für das Land, das seit knapp drei Monaten dem russischen Angriff standhält, ist bedeutend besser als Anfang April.

Ukrainische Soldaten nach der Evakuierung des Stahlwerks Asowstal in Mariupol / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Rund um die Millionenstadt Charkiw haben die Ukrainer über die letzten zwei Wochen einen Großteil des etwa 40 Kilometer breiten Gürtels bis zur russischen Grenze befreit, einzelne Einheiten sind schon bis zur russischen Grenze vorgestoßen. Im Donbass haben die Russen bei den Versuchen, den Fluss Siwerskij Donez zu überqueren, schwere Verluste verzeichnet, offenbar wurde dabei eine ganze taktische Bataillonsgruppe aufgerieben. In Richtung der strategisch wichtig gelegenen Stadt Isjum beginnen die Ukrainer momentan eine Gegenoffensive. Von einem Kessel, der die ukrainischen Truppen im Donbass umschließen könnte, ist selbst unter russischen Militärexperten nicht mehr die Rede. Am schwierigsten ist die Lage für die Ukrainer momentan rund um die Großstädte Lyssytschansk und Sewerodonezk, die massiv von russischen Truppen attackiert werden.

Kein Vergleich also zur Lage im März, als russische Truppen an den Stadtgrenzen von Kiew standen und die Stadt Tschernihiw im Norden umzingelt hatten. Gibt es also einen Grund zum Aufatmen?

Die Wahrheit ist: Zum einen ist der Krieg für beide Seiten äußerst verlustreich. Zwar sprechen weder die Ukraine noch Russland offen über Verluste, aber wer die Telegram-Kanäle beider Seiten verfolgt, bekommt ein grausiges Bild von dem Gemetzel, das sich dort Tag für Tag abspielt. Zum anderen steckt der Krieg momentan an vielen Teilen der Front fest. Insbesondere von der südlichen Front rund um das Gebiet Cherson gibt es Berichte darüber, dass die russischen Truppen sich „eingraben“, also ein System von Schützengräben und Bunkern entlang einer statischen Frontlinie errichten, um die Positionen zu halten.

Gleichzeitig zeigt das Beispiel des Gebiets Sumy, etwa 150 Kilometer nordwestlich von Charkiw und nahe der russischen Grenze gelegen, dass ein Abzug der russischen Truppen keine Friedensgarantie ist: Aus dem Gebiet Sumy hatte Russland sich Anfang April zurückgezogen. Aber aus mehreren Grenzorten des Gebiets wurden am Dienstag Artillerieangriffe von der russischen Seite der Grenze gemeldet. Dasselbe Bild bietet sich in Charkiw: Die Millionenstadt ist zwar inzwischen – zumindest mit Artillerie – kaum noch erreichbar für die Russen, aber im Gürtel zwischen der Stadt und der russischen Grenze findet Tag und Nacht massiver Beschuss durch russische Truppen statt. Die Beispiele zeigen, wie leicht es für Moskau ist, in den grenznahen Gebieten und Großstädten die Rückkehr zur Normalität im wahrsten Sinne des Wortes zu torpedieren.

Russland blockiert die ukrainischen Häfen

Diese Normalisierung des Lebens in der Ukraine versucht Moskau mit allen Mitteln zu stören. Dazu gehört auch die Blockade der ukrainischen Häfen. Vor dem Krieg exportierte die Ukraine 130 Millionen Tonnen Waren über das Meer, darunter Getreide, Eisenerz, Sonnenblumenöl, Metall und Chemieprodukte. Die Versuche, zumindest einen Teil dieser Produktion auf dem Landweg nach Europa zu transportieren, stoßen an praktische Grenzen. Zum einen verfügt die Ukraine über eine andere Eisenbahn-Spurweite als Europa: „Ukrainische“ Gleise verlaufen nur bis Haniska in der Ostslowakei und Sławków in Schlesien. Zum anderen lassen sich die Folgen des verstärkten LKW-Verkehrs an den Grenzübergängen beobachten: Dort haben sich über die letzten Wochen kilometerlange LKW-Staus gebildet.

Verstärkt wird das Problem durch eine massive Treibstoffkrise: Benzin ist rar und reserviert für die Belange der Armee. Seit Wochen können Autofahrer deshalb nur noch 10 bis 15 Liter tanken, an den Tankstellen stehen meist lange Schlangen. Russland greift mit Marschflugkörpern immer wieder Tanklager an. Die Ölraffinerie in Krementschuk, die größte der Ukraine, wurde allein am Freitag mit zwölf Raketen attackiert. Zudem deckelt die ukrainische Regierung den Benzinpreis, was es für Importeure zusätzlich unattraktiv macht, in das Krisengebiet zu liefern.

Die Kampfmoral der ukrainischen Truppen ist zwar weiterhin hoch – beflügelt durch die militärischen Erfolge der letzten Wochen und die große politische, finanzielle und militärische Unterstützung durch den Westen. Aber die Ausstattung und die Ausbildung neu aufgestellter Einheiten sorgen für Unzufriedenheit. Immer wieder ist davon zu lesen, dass die Ausstattung mit Helmen und sonstiger Ausrüstung mithilfe von Spenden organisiert wird. Und Ende vergangener Woche veröffentlichte die 101. Brigade der Territorialverteidigung in der Westukraine ein Video, in dem sie gegen den Befehl protestierte, zum Kampf in den Donbass zu fahren. Zum einen seien sie nur mit Maschinengewehren und Spaten ausgestattet, zum anderen gehöre zu den Aufgaben der Territorialverteidigung das Bewachen von Kontrollpunkten und Objekten, nicht aber der Kampf an der Front, für den sie unzureichend ausgebildet seien. Geholfen hat es nichts: Die Einheit ist nun im Einsatz.

Die innenpolitische Einheitsfront beginnt zu bröckeln

Auch innenpolitisch beginnt die Einheitsfront langsam zu bröckeln. Die ukrainischen TV-Sender senden seit den ersten Tagen des Kriegs ein gemeinsames Programm, in dem Kritik an der politischen Führung des Landes nicht vorgesehen ist. Dafür entlädt sich diese auf YouTube, Facebook oder Telegram. Zwar kritisiert bislang kein führender Politiker öffentlich Präsident Wolodymyr Selenskyj, aber Journalisten, die dem Lager des früheren Präsidenten Poroschenko zugeordnet werden, sticheln in den sozialen Netzwerken.

Zum einen wird dort ein Konflikt zwischen ihm und dem ebenfalls sehr populären Oberkommandierenden der Streitkräfte, Walerij Saluschnij, konstruiert. Zum anderen kommt immer wieder die Frage auf, warum zu Kriegsbeginn das Gebiet Cherson so schnell von den Russen überrannt werden konnte. Negativ wird auch die jetzige Evakuierung Hunderter Soldaten aus dem Stahlwerk in Mariupol in von den Russen kontrollierte Gebiete bewertet. Denn de facto bedeutet das eine erzwungene Kapitulation dieser Truppen. Präsident Selenskyj hatte immer wieder betont, dass die militärischen Kapazitäten der Ukraine für eine Befreiung der Stadt oder der Truppen nicht ausreichen. Wenn sich bestätigen sollte, dass die Russen diese Kämpfer nicht gegen russische Kriegsgefangene austauschen werden – darauf deutet eine Entscheidung im russischen Parlament hin –, wäre das eine schwere Hypothek für Selenskyj. Denn kaum ein Thema war in der ukrainischen Öffentlichkeit emotional so aufgeladen wie das Schicksal der „Verteidiger Mariupols“.

Ungeachtet der großen internationalen Unterstützung steht die ukrainische Führung vor schwierigen Entscheidungen: Sollte es nicht zu einem völligen Zusammenbruch der russischen Truppen kommen – und danach sieht es derzeit nicht aus –, muss die Frage beantwortet werden, wie die ukrainischen Streitkräfte Großstädte wie Cherson, Melitopol oder Berdjansk zurückerobern wollen, die schon in den ersten Kriegswochen verloren gingen. So rücksichtslos wie Russland im Fall von Mariupol kann die Ukraine nicht Krieg führen: Die Menschen in diesen Städten sind schließlich Bürger der Ukraine. Wie soll es gelingen, das russische Militär aus den ukrainischen Städten zu vertreiben, ohne die Infrastruktur und die Zivilisten massiv in Mitleidenschaft zu ziehen?

Kurzum: Bilder einer zerstörten Stadt Cherson, zerbombt von ukrainischer Artillerie und aus dem Westen gelieferten Haubitzen, kann sich die Ukraine nicht leisten – weder vor der eigenen Bevölkerung noch vor der internationalen Gemeinschaft. Es ist eine Sache, russische Panzer beim Vormarsch mit Bayraktar-Drohnen und Panzerfäusten zu stoppen – bei der Rückeroberung der Städte im Süden benötigt die militärische und politische Führung des Landes Fingerspitzengefühl.

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