Ukraine-Krieg - Putins größter Fehler 

Die erste Runde des Ukraine-Konflikts geht ganz klar an Putin. Nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Westen dermaßen vorgeführt. Daran trägt auch der Westen durch seine Mischung aus Naivität und Arroganz eine erhebliche Schuld. Das ändert aber nichts daran, dass der Ukraine-Feldzug den Anfang vom Ende von Putins Herrschaft markiert. 

„Noch so ein Sieg und wir sind verloren“: Ob Putin manchmal an König Pyrrhos denkt? / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es war im Jahr 279 v. Chr., als Pyrrhos I. von Epirus nach seinem Sieg über ein römisches Heer die unvergesslichen Worte sprach: „Noch so ein Sieg und wir sind verloren.“ Und tatsächlich ging der Pyrrhische Krieg für ihn nicht gut aus. Ob Putin in diesen Tagen manchmal an König Pyrrhos denkt? 

Vermutlich nicht. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass Putin sich im Moment an dem Hochgefühl seines Sieges berauscht. Und das nicht zu Unrecht. Immerhin ist es ihm gelungen, die westliche Politik zwei Monate lang nach Belieben am Ring durch die Manege zu ziehen. Nie zuvor hat sich die westliche Politik dramatischer blamiert. Und nie zuvor hat sich der Westen in eine dermaßen gefährliche Situation manövrieren lassen. 

Es wird die Aufgabe zukünftiger Historiker sein, zu erforschen, ob es in den letzten Wochen überhaupt einen Zeitpunkt gab, an dem die westliche Diplomatie den Krieg in der Ukraine hätte abwenden können. Aber wenn man sich die Ereignisse der letzten 72 Stunden vor Augen hält, kommt man zu dem Ergebnis: wahrscheinlich nicht. Dieser Krieg war geplant, von vornherein. Und der Aufmarsch rund um die Ukraine kein Muskelspiel zu Erlangung eines diplomatischen Vorteils, sondern schlichte Kriegsvorbereitung. 

Ohne Krieg hätte Putin mehr erreichen können

Ebenso klar ist auch, dass Putin den Westen kalt erwischt hat. Da waren zum einen die Naiven, die meinten, er werde es schon nicht soweit kommen lassen. Und da waren diejenigen – wie etwa der Verfasser dieses Textes –, die Putin einfach für einen kalten, hoch rationalen Spieler hielten. Und solche rationalen Spieler verfahren nach einem einfachen entscheidungstheoretischen Handlungsschema: Handele so, dass du maximalen Gewinn mit minimalen Kosten erzeugst. 

Unter dem enormen Druck, den Putin in den letzten Wochen aufgebaut hat, hätte er dem Westen vermutlich mittelfristig viel abverhandeln können: die Unabhängigkeit der Teilrepubliken Donezk und Luhansk und den Verzicht des Nato-Beitritts der Ukraine. Und das alles ohne jedes Risiko: hoher Gewinn, keine Kosten. Nun marschieren die russischen Truppen. Ergebnis: sehr hohe Kosten in Gestalt von militärischen Verlusten, Wirtschaftssanktionen und diplomatischer Isolation und ein nur minimal größerer Gewinn. Vor allem wird er das bekommen, was er nie wollte: deutlich verstärkte und hochgerüstete Nato-Verbände in Polen und dem Baltikum. Zwischenfazit: Ohne Krieg hätte Putin mehr erreichen können. Der russische Präsident handelt hochgradig emotional und irrational. Keine sehr beruhigende Botschaft. 

Daran, dass es aber überhaupt so weit gekommen ist, trägt allerdings auch der Westen eine erhebliche Schuld. In einer seltsamen Mischung aus Blauäugigkeit und Selbstverliebtheit hat man die Sicherheitsinteressen Russlands über zwei Jahrzehnte sträflich ignoriert und sich selbst als Inkarnation des Weltethos aufgefasst. Schon der Beitritt Ostdeutschlands in die Nato hat das russische Selbstwertgefühl arg strapaziert. Hinzu kam die Nato-Osterweiterung 1999 (Polen, Tschechien, Ungarn). Aber vor allem die zweite Runde (Baltikum, Bulgarien, Rumänien, Slowakei und Slowenien) war in Teilen unklug. 

Das Aufeinandertreffen zweier politischer Kulturen

Doch spätestens hier sind wir bei dem eigentlichen Kern des russisch-westlichen Konfliktes: das Aufeinandertreffen zweier politischer Kulturen und Zeiten. Ein postmoderner, postheroischer, posthistorischer und globalisierter Westen trifft auf einen in Kategorien von nationaler Ehre, Geschichte und imperialer Größe denkenden Putin. Alles, was dem Westen und insbesondere seinen Funktionseliten in Politik und Wirtschaft lieb und teuer ist, verachtet der Kremlherrscher auf das tiefste. Und nicht nur das. Er hält es vor allem für Schwäche. Das Bittere daran ist: Er hat nicht einmal unrecht. 

Dabei geht es nicht nur um nackte Zahlen, um Panzerdivisionen, Flugzeuge und Ausrüstung. Es geht auch um politische Ästhetik. Man muss sich nur einige Vertreter der modernen deutschen Politikergeneration vor Augen führen, ihr Auftreten, ihr Denken, ihre Sprache, und man ahnt, was Putin denkt. Respekt wird es nicht sein. Alles zusammen: Sicherheitspolitische Naivität, der Unwille, die Realitäten wahrzunehmen, und das Abdriften ins politische Phantasieland waren wie eine Einladung für Putin, die Nagelprobe zu wagen. Er hat sie gewonnen. 

Zumindest vorerst. Denn wenn in ein paar Tagen der Krieg in der Ukraine vorbei ist – was man zynischerweise nur hoffen kann –, beginnen die Probleme für Putin erst. Nicht auszuschließen, dass der Einmarsch vom Donnerstag der Anfang vom Ende des Systems Putin war. Denn auch in Russland gibt es eine junge, gut ausgebildete urbane Mittelschicht, die lieber bei Instagram unterwegs ist, als für Mütterchen Russland den Heldentod zu sterben. Wenn die Gefallenen gezählt sind und die Wirtschaft leidet, wird die Unzufriedenheit in Russland zunehmen. Vor allem werden sich die Leute, auf die sich Putins Herrschaft stützt, fragen, ob es das wert war. Denn auch denen sind ihr Apartment in London, die Clubnächte in Paris und die Jacht an der Côte d’Azur näher als die Ehre Russlands. Was wir erleben, ist das letzte Auftrumpfen eines Polit-Dinos. Man könnte darüber lächeln, wenn es nicht so gefährlich wäre.

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