US-Präsident in Polen - Joe Biden und das Verhältnis der SPD zur Freiheit

US-Präsident Joe Biden ist mit einer ganzen Reihe von Botschaften im Gepäck nach Polen gereist, wo er Klartext redete zum Ukraine-Krieg und in Richtung Wladimir Putins. In Deutschland zeigt sich bei Bundeskanzler Olaf Scholz währenddessen ein ganz altes und grundlegendes Problem seiner Partei. Das Verhältnis der Sozialdemokraten zur Freiheit bleibt ambivalent.

US-Präsident Joe Biden vor seiner Rede zum Krieg in der Ukraine / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Eigentlich hätte es am Samstag in Warschau heißen müssen: „Olaf, rück mal ein Stück zur Seite, ich bin jetzt auch da.“ Aber da war kein Olaf, kein Bundeskanzler, da war nur ein Joe, der US-Präsident. Der dafür aber richtig. „Fürchtet Euch nicht“, sagte der Mann aus Washington. Der Beistandspakt der Nato sei „eine heilige Verpflichtung“, der Wert von Demokratie, von Rechtsstaat, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit leuchte weltweit heller denn je. Nein, das russische Volk „ist nicht unser Feind“. Aber was in der Ukraine geschehe, sei einer großen Nation unwürdig.

Der US-Präsident sagte, was zu sagen war. Denn Europa hat in seiner schlimmsten Krise seit 1945 mit Joe Biden mehr Glück als Verstand. Sollte Wladimir Putin darauf spekuliert haben, der Nachfolger von Donald Trump werde sein Wüten in der Ukraine nur mit einem müden Stirnrunzeln quittieren und sich dann wieder seinem Konflikt mit China widmen, dann hat er sich auch hier spektakulär geirrt. Nur in der Bundesregierung weiß man nicht so recht, was man von dieser Entwicklung halten soll. Nicht einmal jetzt hält es der SPD-Kanzler für an der Zeit, das Verhältnis zum wichtigsten östlichen Nachbarn endlich zu bereinigen, auf eine neue Grundlage zu stellen. Fast täglich muss diese Bundesregierung davon abgehalten werden, wiederum deutsche Sonderwege zu gehen. Und bis jetzt weiß man nicht so wirklich, welche Rolle der Bundeskanzler selbst hier spielt.   

Biden dreht den Spieß einfach um

Es ist eine neue Erfahrung für deutsche Politiker, die sich so viel einbilden auf ihre angeblich so umsichtige und gerechte Weltdiplomatie. Mit dem Abgang von Helmut Kohl, dem solche Herablassung nie in den Sinn gekommen wäre, wurde es in Berlin üblich, über die Köpfe und die elementaren Interessen unserer Nachbarn hinweg lieber direkt mit Moskau zu sprechen und dort reihenweise Deals zu Lasten Dritter auszuhandeln – mit der Ostsee-Pipeline und dem noch skandalöseren Verkauf deutscher Gasspeicher an Gazprom (2015) als Höhepunkte.
 

Cicero-Chefreporter Moritz Gathmann berichtet aus der Ukraine:

Biden drehte den Spieß jetzt einfach mal um und flog von Brüssel direkt nach Warschau – über die Köpfe der Deutschen hinweg, ohne vorher nachzufragen, wie es denn, verehrte Ampelkoalition, in Berlin recht wäre. Die Sorge der hiesigen Sozialdemokraten, Biden könnte seine Warnung wirklich ernst meinen, die Nato werde zwar nicht in der Ukraine selbst intervenieren, aber jeden Millimeter Nato-Territoriums entschlossen verteidigen – die ist unter den Mützenichs dieser Partei ja mit Händen zu greifen.

Wie würde wohl die linkeste SPD-Fraktion aller Zeiten auf einen russischen Angriff auf Estland, Lettland, Litauen, auf Finnland gar reagieren? Am liebsten würde sie doch so tun, als wäre nichts geschehen, und sich darin mit großen Teilen von AfD, Grünen und Linksfraktion - eine per so schon irre Kombination - einig sehen. Kleiner Irrtum, fehlgeleitete Rakete, kann ja mal vorkommen.

Auf den Lorbeeren eines Friedensnobelpreises

Die aktuelle Entwicklung verweist auf ein ganz altes und grundlegendes Problem. Ihr Verhältnis zur Freiheit hat die SPD nach dem Rücktritt von Willy Brandt, der sie nach besten Kräften – aber  keineswegs stets erfolgreich – bei diesem Thema auf Kurs hielt, nie wirklich klargestellt; es ist und bleibt ambivalent. Bis heute unvergessen sind in Polen die Erfahrungen, die etwa Tadeusz Mazowiecki einst als Solidarnosc-Streiter mit den deutschen Genossen nach der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 sammeln durfte, auf das diese „übervorsichtig und unkritisch“ (Karsten Voigt) reagierten.

Noch 1984 lehnte es SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel ab, sich mit Arbeiterführer Lech Walesa zu treffen. Und als sich die DDR-Bevölkerung fünf Jahre später gegen das SED-Regime auflehnte und es innerhalb weniger Wochen davonjagte, reagierte die SPD erst recht pikiert und irritiert, weil sie die friedliche Revolution als Votum gegen ihre segensreiche Entspannungspolitik verstand. Sie revanchierte sich auf diese Manifestation von Undank mit einem maximal ungeeigneten Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine, der jede Wiedervereinigung am liebsten auf den St. Nimmerleinstag verschoben hätte.

Ein historisches Versagen, das ihr 1990 gleich zwei Klatschen einbrachte (erste und letzte freie Volkskammerwahl im März, erste gesamtdeutsche Bundestagswahl im Dezember) und weitere acht Jahre Opposition. Um mit Gerhard Schröder 1998 dann nahtlos an die alte Überheblichkeit und Ignoranz anzuknüpfen. Die ihr wiederum heute in Person des Altkanzlers um die Ohren fliegt. Dazulernen in der Ostpolitik ist nicht ihre Stärke. Sich auf den Lorbeeren eines Friedensnobelpreises auszuruhen, hat sich aber als Rezept schon vor längerer Zeit erledigt.

Eine fragwürdige deutsche Rolle

Die notorische Unzuverlässigkeit der SPD, wenn es darum geht, in existentiellen Fragen Farbe zu bekennen und sich auf die richtige Seite zu schlagen, hat gravierende Folgen bis heute, nebenbei auch, wenn man die fragwürdige deutsche Rolle in den Iran-Atom-Verhandlungen zu Lasten von Israel genauer betrachtet. Seinen bisher einzigen Besuch am 12. Dezember nutzte der Bundeskanzler für neue Belehrungen an die Adresse der Polen wegen Rechtsstaat und Herkunft von EU-Geldern.

Die Herzlichkeit, mit der Polen ohne jedes Murren bereits hunderttausende von Flüchtlingen aus der Ukraine aufgenommen und versorgt hat, wird in Berlin nicht etwa gelobt, sondern im Gegenteil mit Argwohn beobachtet, weil man genau diese Offenheit bisher doch so arg habe vermissen müssen und es außerdem Fälle von Diskriminierung zu beklagen gebe, weil dunkelhäutige Menschen nach Papieren und Herkunft gefragt würden, Weiße dagegen nicht – ein neuer Beweis für, natürlich, „strukturellen Rassismus“.

Klartext und maximale Empörung

Nun also der US-Präsident mit einer ganzen Reihe von Botschaften im Gepäck. Joe Biden hielt sich nicht lange auf mit Formalitäten gegenüber polnischen Politikern, die ihm neulich noch feindlich gesonnen waren. Schnellstmöglich strebte Biden zu seinen Soldaten zwecks gemeinsamer Pizza – gerade im Vergleich zu Putin an seinem Sieben-Meter-Solitude-Tisch ein jetzt schon ikonisches Bild  – und dann weiter zu ukrainischen Flüchtlingen.

Gastgeber Andrzej Duda musste zudem zur Kenntnis nehmen, dass Biden die Begegnung mit dem ukrainischen Verteidigungsminister Olexi Resnikow und Außenminister Dmitro Kuleba wichtiger war als die Aufarbeitung der jüngsten Fehlgriffe der polnischen Führung und ihrer durchaus erratischen Partei, die bis zuletzt auf eine Wiederwahl von Donald Trump gehofft hatte und sogar erst im letzten Moment daran gehindert werden konnte, den mehrheitlich in US-Besitz befindlichen Privatsender TVN zu enteignen. Mit seinem Programm stellte der Gast aus Washington somit ganz nebenbei klar, dass er zwar nicht nachtragend ist, aber auch nicht vergesslich und erst recht nicht jener „Sleepy Joe“, als der er von Trump im Wahlkampf verspottet wurde.  

Aber es sollte für die Ohren von Linken, AfD-Abgeordneten und russischen Despoten noch schlimmer kommen mit Joe Biden. „Um Gottes willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“ Eine Selbstverständlichkeit, sollte man spätestens jetzt meinen, tatsächlich aber ein großer Aufreger auch in Deutschland. „Mit dem russischen Angriffskrieg hat Herr Putin einen strategischen Fehler begangen“, „Ein Diktator, der ein Reich wieder aufbauen will, kann nie die Liebe der Menschen für die Freiheit auslöschen“ und „In der Ukraine wird Putin nie einen Sieg erzielen.“

Und weiter: „Russland soll nicht einmal daran denken, einen Zentimeter auf NATO-Gebiet vorzudringen.“ Schließlich: „Russland hat bereits die eigene Demokratie stranguliert und versucht dies nun auch anderswo.“ Aber eben auch: „Die russische Bevölkerung ist nicht unser Feind.“ Wladimir Putin und seine verbliebenen Getreuen reagierten mit maximaler Empörung, deutsche Medien nicht nur vereinzelt erschrocken und befremdet über so viel Klartext.

Selbstverschuldete Inkompetenz der Bundesregierung

Unterdessen kämpft Olaf Scholz mit der selbstverschuldeten Inkompetenz an entscheidenden Stellen seiner Bundesregierung, in Tateinheit mit hinhaltendem Widerstand aus der Bundestagsfraktion. Scholz kommt sich – vorausgesetzt, er meint es wirklich ernst – inzwischen vor, als müsste er jede deutsche Panzerfaust einzeln nach Kiew tragen, weil seiner sogenannten Verteidigungsministerin täglich drei neue Gründe einfallen, warum irgendwas gerade leider nicht geht, vielleicht aber in vier Wochen.

Zwei Tage nach Scholz‘ „Zeitenwende“-Rede in der Sondersitzung vom 27. Februar begannen die Gegner jeder tatsächlichen Ertüchtigung der Bundeswehr, Pläne zu schmieden und Argumente zu testen, wie man das Ziel torpedieren und eine wirksame Neuaufstellung doch noch verhindern könnte. Alles, was möglichst viel Geld und Zeit kostet, aber möglichst wenig toxische Männlichkeit, also Kampfkraft repräsentiert, kommt hier in Frage, plus Tempolimit, versteht sich. Notfalls auch – neueste Idee – ein „Iron Dome“ für Berlin. Ein Raketenabwehrsystem nach israelischem Vorbild also, das immerhin noch als reine Defensivwaffe durchging.

Doch wo steht der Kanzler selbst in diesem jetzt schon historischen Konflikt? Wie ernst ist es ihm wirklich mit durchgreifenden Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass ein von Putin geführtes Russland eine akute Gefahr für Europa und den gesamten Weltfrieden darstellt? Auch in der fünften Woche nach dem Überfall auf die Ukraine ging Olaf Scholz stets nur so weit, wie es ihm unvermeidbar schien. Lavieren und Schweigen sind unverändert die Hauptbeschäftigungen.

Misstrauen ist angebracht

Scholz scheint der nächste Wahlerfolg wichtiger als das Wohl der Bundesrepublik und erst recht als das Schicksal der Ukraine. Der Beweis des Gegenteils steht aus. Und der erstaunlichste Befund: Was transatlantischen Zusammenhalt und europäische Solidarität angeht, wirkt selbst eine Außenministerin Baerbock inzwischen verlässlicher als der Regierungschef. Wie der Kompass von Olaf Scholz arbeitet, ob dieser immer noch sozialistisch-stamokapmäßig verstrahlt ist mit einem unverändert im Hintergrund wühlenden Antiamerikanismus, muss sich, wenn es hart auf hart kommen sollte, erst noch zeigen.

Vielleicht war es ja aus seiner Sicht gar kein Missgriff, vielleicht ist ihm ja die Deplaziertheit einer Christine Lambrecht im Verteidigungsministerium ganz recht, weil er sich hinter ihr – zusammen mit Fraktionschef Rolf Mützenich und dem ganz ähnlich gestrickten Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier – super verstecken kann. Das wäre ein erstklassiges Alibi. Jedenfalls kann es kein Zufall sein, dass Bidens Botschaften klangen, als gälten sie keineswegs alleine dem Kreml, sondern richteten sich zu mindestens 40 Prozent auch an Berlin. Skepsis, ja Misstrauen ist angebracht.

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