Ukrainische Flüchtlinge in Osteuropa - Solidarität ist keine Einbahnstraße

Polen und Ungarn nehmen Flüchtlinge aus der Ukraine mit offenen Armen auf. In Deutschland wird das mit Argwohn betrachtet: Haben sich nicht gerade diese Länder in der Vergangenheit gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus Nahost oder Nordafrika gesperrt? Diese überhebliche Sichtweise verkennt die großen Unterschiede zwischen beiden Flüchtlingswellen.

Freiwillige Helfer bereiten in Warschau Essen für ukrainische Flüchtlinge vor / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Michael Sommer lehrt an der Universität Oldenburg Alte Geschichte und moderiert gemeinsam mit Evolutionsbiologe Axel Meyer den Cicero-Wissenschafts-Podcast

So erreichen Sie Michael Sommer:

Anzeige

Die deutschen Medien überschlagen sich gerade in Erstaunen darüber, dass Polen, Slowaken und Ungarn sich unbegrenzt solidarisch mit den aus der Ukraine Flüchtenden zeigen. Waren es nicht erst vor wenigen Jahren ihre Länder gewesen, die sich einer gerechten Verteilung von Flüchtlingen in der EU mit aller Macht entgegengestammt hatten? Haben nicht Polen und Ungarn rechtspopulistische Regierungen an die Macht gewählt, die Menschenrechte mit Füßen treten und Rassismus sozusagen zur Staatsräson gemacht haben? Und schotten sich nicht beide Länder mit einer hässlichen Chinesischen Mauer aus Stacheldraht gegen die ab, die in Europa Schutz suchen? 

Jetzt, plötzlich, ist alles anders. Aus der kriegsgebeutelten, von Putin überfallenen Ukraine strömen die Menschen zu Hunderttausenden in die Staaten am Ostrand der EU – und werden dort so herzlich empfangen wie vor sieben Jahren die Syrer am Münchner Hauptbahnhof. Woher kommt diese plötzliche Welle der Solidarität?  

Solidarität steht und fällt mit Vertrauen

Seltsam ist das nur aus Sicht des deutschen Juste Milieu. Denn nur dort wähnt man, erstens, dass Solidarität ohne Abstufungen und Ansehen von Nähe oder Ferne gilt. In der Eine-Welt-Ideologie von Organisationen wie der „Seebrücke“ ist kein Mensch illegal. Jeder hat das Recht, sich da niederzulassen, wo es ihm beliebt. Souveränität von Staaten über ihre Grenzen darf es ebenso wenig geben wie eine Unterscheidung zwischen Flucht und Migration, zwischen Push- und Pull-Faktoren. 

In der Praxis haben aber wohl die meisten Menschen Probleme damit, allen acht Milliarden Erdenbürgern die gleiche, unskalierte Nächstenliebe entgegenzubringen. Wie vielen davon geht es schlechter als uns in Deutschland? Wie vielen können wir helfen, indem wir sie bei uns aufnehmen? „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich“, sagte damals, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, Bundespräsident Joachim Gauck. 

Weil das eine unumstößliche Wahrheit ist, führt eine Politik in die Aporie, die jeden, der an Europas Türen klopft, zum Schutzsuchenden deklariert, der unsere Hilfe braucht. Von allen zu erwarten, dass sie allen helfen, überfordert selbst die, die besten Willens sind. Menschen helfen nun einmal umso selbstloser, je näher die Einschläge kommen. Denn Solidarität steht und fällt mit Vertrauen und, ja, auch mit der Erwartung von Reziprozität. Der Gedanke, Nächstenliebe sei rein altruistisch, ist naiv. Jeder kalkuliert im Stillen: Wer würde mir in einer ähnlichen Situation helfen? Ein hypothetisches Szenario, in dem Ukrainer West- und Mitteleuropäern auf der Flucht helfen, ist hundertmal realistischer als eines, in dem Ghanaer oder Afghanen dasselbe tun. 

2022 ist nicht die Wiederholung von 2015

Zweitens verdrängt das Juste Milieu die Demographie der Ankommenden. Wir erinnern uns: 2015/16 sind vor allem junge Männer zu uns gekommen. Diejenigen, die die stärksten Ellbogen hatten und die größte Chance, die hohen Hürden nach Europa zu nehmen. Jetzt kommen Frauen, Alte, Kranke und Kinder. Ist es nicht so, dass wir uns instinktiv den Hilflosen gegenüber solidarischer fühlen? Und ist es nicht auch so, dass wir denen, die jetzt aus der Ukraine flüchten, eine Kölner Silvesternacht eher nicht zutrauen? 

Drittens ist da noch die Sache mit den sicheren Drittstaaten, durch die Menschen, die damals aus Syrien geflüchtet sind, zu uns nach Deutschland gekommen sind und durch die noch heute alle kommen, die den Weg übers Mittelmeer wählen. Für die Ukrainer gilt das nicht: Wohin, wenn nicht nach Westen, sollen sie flüchten? 

Auch Deutschland würde wohl eine zweite Migrationswelle aus Nahost vor eine Zerreißprobe stellen, die sich gewaschen hat. Nicht umsonst betonen Politiker bei jeder Gelegenheit, „2015“ dürfe sich nicht wiederholen. 2022 ist nicht die Wiederholung von 2015. Deshalb, und nicht, weil wir auf einsamem moralischem Gipfel die anderen überragen, ist auch in Deutschland, wie jetzt in Polen, der Slowakei, Ungarn und übrigens Moldawien, die Hilfsbereitschaft groß. Zum Glück! Es wäre Zeit für das zerknirschte Eingeständnis, dass deutsche Medien den Polen, Ungarn und Slowaken Unrecht getan haben. 

Anzeige