Ukrainische Atomkraftwerke - Russlands Nuklearstrategie

Die Ukraine verfügt zumindest theoretisch über alle notwendigen Institutionen, um ihren Status als Atommacht wiederherzustellen. Auch befinden sich in dem Land einige der größten Uranreserven der Welt. Mit der Invasion verfolgt Russland deshalb auch das Ziel, die Ukraine daran zu hindern, Atomwaffen zu bauen. Für Moskau stellt das Nuklearnetz außerdem ein wertvolles Druckmittel dar, insbesondere angesichts einer drohenden Niederlage.

Sperrgebiet um das ukrainische Atomkraftwerk Tschernobyl / picture alliance
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Autoreninfo

Ridvan Bari Urcosta ist Research Fellow am Institut für internationale Beziehungen der Universität Warschau und Analyst bei Geopolitical Futures.

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Mit dem Einmarsch in die Ukraine verfolgt Russland letztlich das Ziel, einen möglichst großen Teil des Landes unter Moskaus Einfluss zu bringen oder, falls dies nicht möglich sein sollte, es zumindest dem Westen zu entreißen. Eine der in diesem Zusammenhang häufig übersehenen Strategien besteht darin, der Ukraine die traditionellen Energiequellen in den zentralen und östlichen Teilen des Landes zu entziehen. Moskau ist besonders daran interessiert, die Kontrolle über die ukrainischen Kernkraftwerke und Uranvorkommen zu übernehmen.

Einfach ausgedrückt, will Russland dem Westen zuvorkommen und die ukrainische Atomindustrie monopolisieren. Auf diese Weise hofft es, die Ukraine daran zu hindern, jemals eine Atommacht zu werden, und, was ebenso wichtig ist, die Ukraine in Bezug auf den Energiebedarf von Russland abhängig zu halten, indem es neue Optionen für die Energieversorgung in den von Russland besetzten Gebieten im Osten der Ukraine schafft.

Es ist noch gar nicht so lange her, dass das Atomwaffenpotenzial der Ukraine größer war als jenes von Großbritannien und Frankreich. Sie verfügte über das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt, das speziell für den möglichen Einsatz gegen die Vereinigten Staaten konzipiert war. In der Erklärung über die staatliche Souveränität der Ukraine von 1990 verpflichtete sich Kiew, ein dauerhaft neutraler Staat zu werden, der sich nicht an Militärblöcken beteiligt und drei Grundsätze zur Atomwaffenfreiheit befolgt. Im Budapester Memorandum von 1994 sagte die Ukraine zu, ihre Waffen im Gegenzug für Sicherheitsgarantien der USA, Großbritanniens und Russlands aufzugeben. Das war keine Kleinigkeit. Damals besaß die Regierung in Kiew fast 2000 Atomsprengköpfe und etwa 2500 taktische Sprengköpfe – alles Überbleibsel aus der Sowjetära.

Umfangreiche Forschung und Entwicklung

In der Tat verfügt die Ukraine zumindest theoretisch über alle notwendigen Institutionen, um ihren Status als Atommacht wiederherzustellen. Sie hat von der Sowjetunion eine umfangreiche wissenschaftliche und technologische Forschung und Entwicklung geerbt. Die Ukraine kann potenziell Raketenstartsysteme, Feststofftriebwerke, Raketen sowie Treibstoff und die notwendige Software dafür herstellen. Das Forschungs- und Entwicklungszentrum für Nuklearstudien in Charkiw verfügt über eine experimentelle Nuklearanlage. (Russland hat die Ukraine beschuldigt, dort angereichertes Uran hergestellt zu haben.) Bis vor kurzem hat die Ukraine vier weitere Anlagen betrieben: das Kernkraftwerk Chmelnyzkyi, das Kernkraftwerk Süd-Ukraine, das Kernkraftwerk Saporischschja und Tschernobyl.

Es überrascht nicht, dass die Ukraine bei der Deckung ihres Energieverbrauchs stark auf die Kernenergie angewiesen ist. Vor dem Krieg lag der Anteil der Kernenergie zwischen 40 und 51 Prozent, und 27 Prozent stammten aus Wärmekraftwerken, die sich hauptsächlich in der Zentral- und Ostukraine befanden. Bis zur Invasion erhielt die Ukraine noch Kernbrennstoff für ihre Kraftwerke aus Russland. (Abgebrannte Brennelemente sind ebenfalls problematisch; Kiew schickte seine Abfälle an verschiedene russische Anlagen). Die Ukraine verfügt über Reserven an Kernbrennstoff, die mindestens bis Anfang nächsten Jahres reichen werden.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Ukraine begonnen hat, ihre Haltung zu Atomwaffen zu überdenken. Entsprechende Überlegungen wurden angestellt, als Russland 2014 die Krim annektierte, aber sie kamen nie weit. Der Einmarsch in die restliche Ukraine hat das Thema jetzt neu belebt. So sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij kürzlich auf einer Konferenz in München, dass Kiew wieder eine Atommacht werden wird, wenn die Garantiestaaten des Budapester Memorandums nicht zusammenkommen und die Sicherheit und territoriale Integrität der Ukraine garantieren.

Der Zugang zu Uran ist kein Problem. Die Ukraine verfügt über einige der größten Reserven der Welt – nämlich etwa 1,8 Prozent der weltweiten Vorkommen. Bemerkenswerterweise kündigte Kiew nur wenige Monate vor der Invasion Pläne an, genügend Uran zu produzieren, um seinen Bedarf an Kernenergie zu decken. Dies war sowohl eine politische als auch eine wirtschaftliche Entscheidung: Kiew musste sich von seiner Brennstoffabhängigkeit von Russland lösen, und es hatte Schwierigkeiten, Öl und Gas für seine Wärmekraftwerke zu beschaffen. Außerdem verlor Kiew nach dem Krieg im Donbas 2014-15 den Zugang zu seinen wichtigsten Kohleminen. Um diese Verluste auszugleichen, hat die Ukraine ihre Energieressourcen diversifiziert und schließlich auch die Kernkraft einbezogen. Im Jahr 2021 wollte die Ukraine mit der heimischen Produktion von Zirkoniumdioxid beginnen, einem wichtigen Bestandteil von Kernbrennstoff.

Russland will mitmischen

Die Entscheidung der Ukraine entspricht einem weltweiten Trend. Die Kernenergie erlebt derzeit eine Art Renaissance, da viele Länder sie als ideale Antwort auf die globale Energiekrise betrachten. Länder, die über große Uranminen verfügen, können ihre eigene Energieversorgung sicherstellen. Russland will mitmischen und versucht daher, seinen Anteil an nuklear erzeugtem Strom auf Kosten der Ukraine zu erhöhen. Russland ist bereits führend in der Produktion von angereichertem Uran, und sollte es die Kontrolle über die Ukraine erlangen, würde es sicherlich den Uranabbau und die Uranproduktion wieder aufnehmen.

Von den fünf ukrainischen Kernkraftwerken hat Russland die Kontrolle über Saporoshje und Tschernobyl erlangt (obwohl russische Truppen das Kernkraftwerk in Tschernobyl kürzlich aufgegeben haben) und nähert sich dem Kernkraftwerk in der Südukraine. Bislang hat dies die Energiebilanz des Landes nicht verändert. Der gesamte in diesen beiden Kraftwerken erzeugte Strom ist weiterhin Teil des ukrainischen Energiesystems.

Dennoch war schon zu Beginn des Krieges klar, dass Russland die Region besetzen würde (weil der kürzeste Weg für die russischen Streitkräfte nach Kiew über Tschernobyl führt), und dass Moskau nach Ansicht der Ukraine verschiedene Arten von Provokationen starten und den Westen mit der Drohung einer nuklearen Katastrophe erpressen würde. Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) erklärte, sie sei zwar besorgt über Tschernobyl und Saporosche, aber beide Anlagen seien immer noch „sicher und zuverlässig in Betrieb“. (Die Agentur erklärte kürzlich, sie plane einen Besuch in Saporoshje.)

Gefahr für Moskau

Es ist aber unklar, wie lange das so bleiben kann. Nach Zusammenstößen mit der ukrainischen Armee drangen russische Truppen am 4. März in das Kernkraftwerk Saporoshje ein. Beide Anlagen werden nun von russischen Spezialisten von Rosatom zusammen mit ukrainischem Personal betrieben. Für Moskau wäre es gefährlich, wenn das gesamte ukrainische Nuklearnetz in die Hände des Westens fallen würde. Ebenso wichtig ist jedoch, dass das Netz ein wertvolles Druckmittel darstellt, insbesondere angesichts einer drohenden Niederlage. Denn was sollte Russland daran hindern, es auf seinem Weg nach draußen zu zerstören?

Die Zukunft der übrigen ukrainischen Kernkraftwerke ist ungewiss, aber es ist klar, dass Russland in den kommenden Wochen versuchen wird, das südukrainische Kraftwerk zu erreichen und zu besetzen. In Erwartung dessen hat die Ukraine das Gebiet bereits befestigt und verstärkt. Es ist schwer vorstellbar, dass Russland versuchen wird, die Westukraine anzugreifen, wo sich zwei Kernkraftwerke befinden, aber im schlimmsten Fall wird Russland nicht davor zurückschrecken, sie zu zerstören oder sie gegen den Westen einzusetzen, um den Schlag einer Niederlage abzumildern.

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