Tsai Ing-wen - Die Widerspenstige

Seit fast vier Jahren arbeitet China daran, der Präsidentschaft von Tsai Ing-wen ein Ende zu setzen. Doch die Taiwanerin ist zäh. Ein Porträt über die alte und neue Präsidentin Taiwans

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China hat Tsai Ing-wens Widerspenstigkeit unterschätzt / picture alliance
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Prof. Dr. Martin Wagener unterrichtet Internationale Politik mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin.

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Auch 70 Jahre nach ihrer Gründung vertritt die Volksrepublik China die Auffassung, dass Taiwan nur eine „abtrünnige Provinz“ und kein eigenständiger Staat ist. Die notfalls militärische Wiedervereinigung der Insel mit dem Festland bleibt fester Bestandteil der Regierungsagenda. Taiwans eher chinafreundliche Partei Kuomintang (KMT) hat auf diese Lage mit einer Politik der Beschwichtigung reagiert und so unter dem früheren Präsidenten Ma Ying-jeou von 2008 bis 2016 einen gut funktionierenden Modus Operandi etabliert. Dazu gehörten enge Wirtschaftsbeziehungen, aber auch semi­offizielle Kontakte beider Seiten.

Dagegen setzt die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) der amtierenden Staatspräsidentin Tsai Ing-wen ganz anders an. Die Politik ihres Vorgängers Ma wurde dort als Ausverkauf taiwanischer Interessen gesehen. Seit Jahren liebäugelt die Partei mit einer Unabhängigkeitserklärung des Landes, was China als Casus Belli betrachten würde. Getragen wird die DPP zudem von einer zunehmenden Taiwan-Identität der meisten Bürger, nur eine kleine Minderheit der über 23 Millionen Einwohner sieht sich als Chinesen.

Das erste weibliche Staatsoberhaupt Taiwans

Die Wahl Tsai Ing-wens zur Präsidentin 2016 hatte daher Konsequenzen. Sie lehnt den für Peking nicht verhandelbaren „Konsens von 1992“ inhaltlich ab. Er besagt, dass es ein China gibt, beide Seiten dies aber unterschiedlich auslegen können. Das Festland unternahm fortan umfassende Anstrengungen, um das erste weibliche Staatsoberhaupt Taiwans unter Druck zu setzen.

Vielleicht hat Peking die Widerspenstigkeit der 1956 in Taipeh geborenen Tsai unterschätzt, der es nicht an Selbstbewusstsein mangelt. Sie studierte in Taiwan, den Vereinigten Staaten und Großbritannien, wo sie 1984 an der London School of Economics and Political Science im Fachgebiet Recht erfolgreich ihre Promotion abschloss. Es folgten bis 2000 verschiedene Stationen als Professorin. Parallel dazu war sie in mehreren Funktionen für die Regierung tätig. Von 2000 bis 2004 hatte sie den Vorsitz im Rat für Festlandangelegenheiten inne.

Engere Beziehungen zu den USA

Zu einem Wendepunkt in ihrem Leben wurde das Jahr 2004, als sie sich entschloss, der DPP beizutreten, die seit 2000 erstmals mit Chen Shui-bian den Präsidenten des Landes stellte. Tsai gewann bei den Parlamentswahlen sofort ein Mandat und wurde von 2006 bis 2007 stellvertretende Ministerpräsidentin. Von 2008 bis 2018 übernahm sie mit kurzen Unterbrechungen die Führung der DPP. 2012 erfolgte der erste Anlauf Richtung Präsidentenpalast, bei dem sie Amtsinhaber Ma Ying-jeou jedoch unterlag. Vier Jahre später war sie schließlich erfolgreich: In den Wahlen von 2016 setzte sich Tsai mit 56,1 Prozent der Stimmen gegen ihren Rivalen Eric Chu von der KMT durch.

Die Bilanz ihrer Präsidentschaft ist durchwachsen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Festland hält an, weiterhin gehen mehr als 40 Prozent der Exporte nach China und Hongkong. Der militärische Druck, zu dem diverse Provokationen der Volksbefreiungsarmee gehören, ist größer geworden. Taipeh hat mehrere Alliierte verloren; derzeit erkennen nur noch 15 Staaten Taiwan diplomatisch an. Peking wirkt zudem kontinuierlich darauf hin, die Partizipation seines Nachbarn in internationalen Organisationen zu unterbinden.

In sicherheitspolitischer Hinsicht konnte die Präsidentin dagegen Pluspunkte sammeln. Dies ist insbesondere durch eine Vertiefung der Beziehungen zu den USA gelungen. Washington hat umfassende Rüstungslieferungen zugesagt, darunter 66 Kampfflugzeuge. Tsai wiederum hat den Verteidigungs­etat deutlich angehoben; seit Jahren haben die militärischen Fähigkeiten des Inselstaats keinen solchen Schub mehr erhalten, wenngleich sie mit jenen der Großmacht China natürlich nicht konkurrieren können.

Schwache Bindung zu Deutschland

In den Umfragen lag Tsai Ing-wen 2019 lange Zeit deutlich zurück, auch wegen umstrittener innenpolitischer Reformen und einer hohen Jugendarbeitslosigkeit. Zu einem Umschwung kam es erst im Zuge der seit dem Sommer anhaltenden Proteste in Hongkong. Im Gegensatz zu ihrem Herausforderer von der KMT, Han Kuo-yu, solidarisierte sie sich umgehend mit der Demokratiebewegung, was ihr daheim Zustimmung einbrachte.

Im Rahmen seiner „Ein-China-Politik“ pflegt Deutschland nur inoffizielle Beziehungen zu Taiwan. Entsprechend verwaist sind die Beziehungen zwischen Berlin und Taipeh: Zuletzt war mit Günter Rexrodt 1997 ein deutscher Fachminister vor Ort. Dies ist kein Ruhmesblatt für die Bundesregierung, die das autoritäre China einseitig hofiert – entgegen dem eigenen Werteverständnis. Tsai Ing-wen wäre sicherlich dankbar, wenn Deutschland dem demokratischen Taiwan etwas mehr Aufmerksamkeit schenken würde.

Dieser Text ist in der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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