Staatsstreich in Tunesien - Das große Rollback

Der Staatsstreich in Tunesien bedeutet nicht nur einen tiefen Einschnitt in die Politik des Landes. Sondern auch den vorläufigen Endpunkt einer Epoche, die im Dezember 2010 dort begann und als Arabischer Frühling berühmt wurde.

Tunesische Polizeikräfte sichern in Tunis das Parlament gegen Demonstranten nach dem Staatsstreich am 25. Juli 2021 / Action Press
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Autoreninfo

Dr. Guido Steinberg ist Islamwissenschaftler und forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin u.a. zum politischen Islam und zum Terrorismus.

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Am 25. Juli rief der tunesische Präsident Kais Saied den Ausnahmezustand aus. Er löste das Parlament auf, entließ den Ministerpräsidenten, ernannte sich selbst zum Chef­ankläger und kündigte an, korrupte Politiker und Geschäftsleute strafrechtlich zu verfolgen. Saied wählte einen günstigen Augenblick für seinen Staatsstreich, denn Tunis war am gleichen Tag Schauplatz von Massendemonstrationen. 

Die Menschen demonstrierten gegen die Politik der Regierung, die sie für die grassierende Korruption, die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die rasante Inflation verantwortlich machten. Die seit Jahren schwelende Wirtschaftskrise wurde zuletzt durch die Corona-Pandemie verschärft, die den für Tunesien so wichtigen Tourismus fast zum Erliegen gebracht hat. Das schwache Gesundheitssystem hat außerdem große Probleme, die stark gestiegenen Infektionen und eine besonders hohe Sterberate in den Griff zu bekommen. 

Langfristige Übergangsregierung

So könnte die einzige Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings an der Unfähigkeit der tunesischen politischen Elite scheitern, die Lebensverhältnisse im Land spürbar zu verbessern. Denn tatsächlich hat sich an der Korruption und Inkompetenz der Herrschenden im Land trotz des Machtwechsels von 2011 nicht viel geändert; viele Tunesier sehen heute wie damals kein Interesse der Regierung an den Problemen der Menschen. 

Wohin der Weg des Landes unter Kais Saied in naher Zukunft führt, bleibt dabei ungewiss. Denn der Präsident beharrt darauf, dass der Ausnahmezustand nur übergangsweise in Kraft sei und er schon nach Ablauf einer Frist von 30 Tagen eine neue Regierung ernennen werde. Seine Kritiker bemängeln hingegen, Saied habe bereits angedeutet, dass es bis zur Ernennung eines neuen Kabinetts vielleicht doch etwas länger dauern wird. Sie befürchten, der Putsch vom 25. Juli könne der erste Schritt hin zu einer neuen Diktatur gewesen sein. 

Unabhängig vom weiteren Verlauf in Tunis waren die Ereignisse im Juli und August 2021 nicht nur ein tiefer Einschnitt in der tunesischen Politik, sondern auch der vorläufige Endpunkt einer Epoche, die im Dezember 2010 in Tunesien begann und als Arabischer Frühling berühmt wurde.

Zunächst war die Hoffnung auf eine bessere, demokratischere Zukunft groß, als Protestbewegungen in Tunesien, Libyen, Ägypten, Syrien und dem Jemen ein Ende der Herrschaft von lang gedienten Diktatoren und Militärherrschern forderten und einige von ihnen tatsächlich stürzten. Doch schon bald machten vielerorts die Mächte der Gegenrevolution mobil, Bürgerkriege brachen aus, und ausländische Mächte intervenierten. Große Teile der arabischen Welt versanken im Chaos. 

Initialzündung in Tunesien

Der Arabische Frühling begann im Dezember 2010 mit der Selbstverbrennung des Straßenverkäufers Mohamed Bouazizi im tunesischen Sidi Bouzid im Zentrum des Landes. Die örtliche Polizei hatte seinen Gemüsewagen mehrfach beschlagnahmt und Bouazizi auf seinen Protest hin geschlagen und misshandelt. Die Nachricht von seinem Freitod löste landesweite Demonstrationen aus, die am 14. Januar 2011 zum Sturz des langjährigen Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali führten. Schon damals waren die weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Korruption des Regimes, der schlechten Regierungsführung und der hohen Arbeitslosigkeit wichtige Ursachen für die Proteste. Hinzu kam, dass Tunesien ein ausgesprochener Polizeistaat und die Repression im Land besonders ausgeprägt war.

Der Erfolg der Demonstranten in Tunesien versetzte die ganze arabische Welt in Aufregung. In Ägypten, Libyen, Syrien, Jemen und Bahrain gingen die Menschen ebenfalls auf die Straßen und demonstrierten gegen korrupte, unfähige und brutale Regime. Wegweisend waren vor allem die Proteste in Ägypten – ein Land, das vielen Arabern als ein wichtiges politisches und kulturelles Zentrum der Region gilt. Am 11. Februar 2011 beugte sich auch der ägyptische Präsident Hosni Mubarak dem Druck der Straße und trat zurück. 

Das Land am Nil schien zunächst ähnlich wie Tunesien eine Erfolgsgeschichte zu schreiben, denn immerhin hatte eine friedliche, von jungen liberalen Demokraten, Internetaktivisten und Menschen- und Frauenrechtlern gebildete Protestbewegung einen der gefürchtetsten Autokraten der Region gestürzt. Doch gelang es diesem losen Bündnis unerfahrener Aktivisten nicht, sich zu organisieren und ihren Erfolg von der Straße in die Politik zu übertragen. 

An ihrer Stelle war es die gut geführte und straff organisierte Muslimbruderschaft, die sich bei den in Etappen vom November 2011 bis Januar 2012 abgehaltenen Parlamentswahlen durchsetzte. Im Juni 2012 gewann ihr Kandidat Mohammed Mursi noch dazu die Präsidentschaftswahlen. Daraufhin verschärften sich die Konflikte zwischen der Islamistenorganisation und dem Obersten Militärrat, der im Hintergrund immer noch die Schaltstellen der Macht kontrollierte. Schon im Juli 2013 putschten die Militärs und setzten mit Verteidigungsminister Abdel Fattah al Sisi einen der ihren als Präsidenten ein. Es folgte eine gnadenlose Verfolgungswelle, die sich nicht nur gegen die Muslimbrüder, sondern auch gegen die Aktivisten von 2011 richtete. Ägypten unter Sisi wurde ein weitaus autoritärerer Staat, als es das unter Mubarak je gewesen war. 

Syrien schreckt ab

Die Reaktion vieler Menschen in der Region war 2013 schon nicht mehr so kritisch, wie das zu erwarten gewesen wäre, wenn ein Militärdiktator eine gewählte Regierung stürzt. Ein Grund waren die Wahlerfolge der Muslimbrüder, die vielen Bewohnern des Nahen Ostens als autoritäre Fanatiker gelten, ein weiterer waren die Bürgerkriege in Libyen, Syrien und im Jemen. Es war vor allem das Beispiel Syriens, wo bis heute weit mehr als 500 000 Menschen getötet wurden und rund zwölf Millionen auf der Flucht sind, das vielen schon 2012/2013 als Mahnung diente. Je nach Reaktion des Regimes konnten auch friedliche Proteste in blutige Konflikte münden, die das ganze Land zerstörten und nur wenige unbeteiligt ließen. 

Außerdem gelang es in Syrien und Libyen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS), weite Teile des Landes zu übernehmen, was viele arabische Bürger überzeugte, dass der Dschihadismus und nicht die liberale Demokratie die wahrscheinlichste Alternative zu den autoritären Herrschern des Nahen Ostens ist. 

Schon im Frühjahr 2011 begannen Staaten, die nicht von den Protesten betroffen waren, Einfluss auf die Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Syrien, Libyen und Jemen zu nehmen. Überraschenderweise war es vor allem das kleine Golfemirat Katar, das als wichtigster Fürsprecher und Unterstützer der Oppositionsbewegungen in der arabischen Welt auftrat. Das sehr kleine Land mit kaum mehr als zwei Millionen Einwohnern suchte damals seinen Platz in der Regionalpolitik, denn es war seit der Jahrtausendwende mit den Einnahmen aus dem Export von Erdgas märchenhaft reich geworden, ohne dass Schwergewichte wie Saudi-Arabien es wirklich ernst nahmen. Dass Katar plötzlich als Regionalmacht auftreten konnte, ging neben dem vielen Geld vor allem darauf zurück, dass ehemals führende Staaten wie Ägypten, der Irak und Syrien mit ihren innenpolitischen Problemen beschäftigt waren.

Schon in den Jahren zuvor hatte Katars Emir, Hamad Al Thani (regierte 1995–2013), mit großer Tatkraft eine eigenständige Regionalpolitik verfolgt. Er versuchte, zu möglichst vielen Staaten und Organisationen in der Region gute Beziehungen aufzubauen, um als Vermittler auftreten und Konflikte entschärfen zu können. Er blieb zwar mit den USA, Saudi-Arabien und den anderen Golfstaaten verbündet, doch suchte er auch die Nähe Teherans, Syriens, der Hisbollah und sogar der palästinensischen Hamas. Nach Beginn des Arabischen Frühlings wirkte sich aber vor allem aus, dass Doha schon seit langem ein Zufluchtsort für Muslimbrüder geworden war. Sobald sich abzeichnete, dass diese in den Umwälzungen in Ägypten, Tunesien und anderswo eine wichtige Rolle spielen würden, setzte sich das Emirat als Schutzmacht der Islamisten in Szene. 

Unterstützung aus Doha

Im März 2011 war es die Führung in Doha, die die Arabische Liga dazu drängte, eine Intervention der Nato in Libyen zu unterstützen. In Syrien zögerte Emir Hamad zunächst, bevor er sich im Frühsommer auf die Seite der Protestbewegung und anschließend der Aufständischen stellte. In beiden Staaten unterstützte Katar in den nächsten Jahren vor allem islamistische Milizen und der Muslimbruderschaft nahestehende Politiker in ihrem Kampf um die Macht. In Tunesien stützte das Emirat die islamistische Nahda-Partei, die seit 2011 immer wieder Wahlerfolge feiern konnte und an mehreren Regierungen beteiligt war. In Ägypten wiederum wurde Katar zum wichtigsten finanziellen Helfer der Regierung Mursi. 

Emir Hamad setzte darauf, dass die Islamisten die politische Kraft der Zukunft in vielen arabischen Ländern werden würden und suchte deshalb ihre Nähe. Schon bald erwies sich, dass die Türkei von Präsident Erdogan eine ähnliche Strategie verfolgte, sodass sie sich Katar als Partner anbot. Auch Ankara unterstützte im syrischen Bürgerkrieg islamistische Kräfte und tat sich häufig mit Doha zusammen. In Ägypten, Tunesien und Libyen war die Türkei zunächst weniger aktiv, machte aus ihrer Präferenz für die Islamisten jedoch keinen Hehl. 

Der entscheidende Umschwung folgte aber erst auf den gescheiterten Militärputsch in der Türkei vom Juli 2016. Nun beanspruchte Erdogan auch eine Regionalmachtposition, ließ seine trotz aller Säuberungen immer noch starke Armee in grenznahe Gebiete in Syrien einmarschieren, wurde am Horn von Afrika aktiv und intervenierte in den libyschen Bürgerkrieg. Katar wurde nun zum Juniorpartner in einem Bündnis mit Ankara, das sich gegen die Kräfte der Gegenrevolution im Nahen Osten stellte. 

Die Kräfte der Gegenrevolution

Schon seit 2011 formierten sich diejenigen Staaten, die mit aller Macht verhindern wollten, dass in Tunesien, Libyen, Ägypten oder anderswo ein erfolgreiches Gegenmodell zum hergebrachten Autoritarismus der arabischen Welt entstehe. Angeführt wurde dieses Bündnis von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Saudi-Arabien, die die liberalen Protestbewegungen ebenso fürchteten wie die Muslimbruderschaft. 

Schon im März 2011 schickten Riad und Abu Dhabi Militär nach Bahrain, wo von der schiitischen Bevölkerungsmehrheit getragene Massendemonstrationen das sunnitische Herrscherhaus der Familie Khalifa in seinem Fortbestand bedrohten. Während Saudi-Arabien damals die Initiative übernahm, zeigte sich in der Folge, dass vor allem der starke Mann von Abu Dhabi, Mohammed bin Zayed Al Nahyan, die Heilige Allianz der Araber anführte. Der 59-jährige bin Zayed ist formal zwar nur Kronprinz des Emirats Abu Dhabi, doch bestimmt er seit bald anderthalb Jahrzehnten die Politik der gesamten VAE. Schon früh identifizierte er die Muslimbruderschaft als Gefahr für die innere Sicherheit seines Landes und der Region.

Gegner VAE

Bin Zayed befürchtete, dass die Islamisten ihre neue Macht in Ägypten und anderswo dazu nutzen würden, um ihre Gesinnungsgenossen in den Emiraten zum Umsturz zu mobilisieren. Folgerichtig begann Abu Dhabi ab 2011, die Islamisten im In- und Ausland als Terroristen zu bekämpfen. Die Innenpolitik der Emirate wurde deutlich autoritärer, und auch in der Region unterstützte bin Zayed die Vertreter der Restauration. 

Saudi-Arabien wurde zu Beginn der 2010er Jahre noch von einer Clique alter gebrechlicher Männer regiert, denen es große Mühe bereitete, wichtige Entscheidungen zu treffen. Dies war ein wichtiger Grund dafür, dass der junge und dynamische Mohammed bin Zayed von Abu Dhabi zum starken Mann am Golf wurde. Auch in Riad wurden die Muslimbrüder als unliebsame Konkurrenz gesehen, denn diese lehnen Monarchien ab und wollen stattdessen islamische Republiken unter ihrer Führung. Deshalb wandte sich auch Saudi-Arabien gegen die Muslimbrüder im eigenen Land und unterstützte gemeinsam mit Abu Dhabi die Gegenrevolution in anderen Staaten. Der mit Abstand größte Erfolg dieses Bündnisses war der Staatsstreich von General Sisi in Ägypten 2013, der von den VAE und Saudi-Arabien nicht nur unterstützt, sondern wahrscheinlich auch mit in die Wege geleitet wurde.

Kalter Krieg der Golfstaaten 

In Kairo besiegelten Abu Dhabi und Riad das frühe Ende des Arabischen Frühlings und bereiteten nebenbei Doha eine schwere Niederlage. Doch gab das kleine Emirat seine Ambitionen auch unter seinem neuen Emir Tamim bin Hamad – der 2013 die Macht von seinem Vater übertragen bekam – nicht auf, sodass sich ein lang anhaltender Konflikt zwischen Katar und den VAE entwickelte. Als ein Schlachtfeld diente den Rivalen das weit entfernte Libyen, wo beide Staaten rivalisierende Bürgerkriegsparteien unterstützten.

Zwischen 2012 und 2014 führten sie einen regelrechten Stellvertreterkrieg, in dem Doha islamistischen Milizen mit Geld und Waffen zur Seite stand, während Abu Dhabi nationalistische Kräfte stärkte, die auch ehemalige Regimemilitärs in ihre Reihen aufnahmen. Als sich 2014 ein Patt abzeichnete, entschloss sich Abu Dhabi gemeinsam mit Ägypten für die Unterstützung des Kriegsfürsten Khalifa Haftar. Für einige Jahre schien es so, als sollten die VAE auch in Libyen die Oberhand gewinnen und mit Haftar ein autoritärer Militär nach dem Muster von Sisi in Ägypten die ganze Macht übernehmen. 

Druck von Saudi-Arabien

Auch am Persischen Golf geriet Katar unter Druck. Ein Grund war der junge Kronprinz Mohammed bin Salman in Saudi-Arabien, der zwischen 2015 und 2017 alle Konkurrenten um die Macht aus dem Feld schlug und in der Innen- und Außenpolitik seinem Amtskollegen bin Zayed nacheiferte. Auch das Königreich setzte auf einen Autoritarismus neuen Stils, der keinen Widerspruch mehr duldete und sich häufig gegen die Muslimbrüder im Land richtete. Die Außenpolitik Saudi-Arabiens zielte wie bisher auf eine autoritäre Restauration in der Region, wurde aber deutlich aggressiver als noch unter König Abdallah, der Anfang 2015 verstarb. 

Gemeinsam richteten die beiden Kronprinzen nun ihr Augenmerk auf den kleinen Nachbarn. Katar war immerhin seit 1981 Teil des Golfkooperationsrats, zu dem neben Saudi-Arabien und den VAE noch drei weitere Golfstaaten gehörten und der auch ein sicherheitspolitisches Bündnis ist. Schon mehrfach hatten die Nachbarn erfolglos versucht, Doha dazu zu bringen, von seiner Unterstützung der Muslimbruderschaft und anderer Islamisten abzulassen. Im Juni 2017 schlossen Saudi-Arabien und die VAE die Land-, Luft- und Seegrenzen zu ihrem Nachbarn, um einen außenpolitischen Kurswechsel zu erzwingen. 

Gegen Katar in Tunesien

Die Blockade erwies sich rasch als Fehlschlag, denn Katar war reich genug, um die wirtschaftlichen Folgen zu bewältigen. Außerdem suchte das Emirat die Nähe Irans und der Türkei, die sogar Truppen schickte, um eine anfangs befürchtete militärische Invasion der Nachbarn zu verhindern. Als Saudi-­Arabien und die VAE die Blockade im Januar 2021 abbrachen, hatten sich die Machtverhältnisse verschoben. Die Türkei befand sich auf dem Vormarsch und wirkte immer stärker auf die Ereignisse im Nahen Osten und Nordafrika ein. Dies zeigte sich vor allem in Libyen, wohin die Türkei ab Frühjahr 2020 so viele Truppen und moderne Waffen schickte, dass Khalifa Haftars Libysche Nationalarmee – die bereits vor den Toren der Hauptstadt Tripolis stand – aus dem gesamten Westen Libyens vertrieben werden konnte. 

Vieles spricht dafür, dass die jüngsten Ereignisse in Tunis der nächste Akt im Konflikt der beiden Lager sind. Denn der Staatsstreich von Präsident Saied richtet sich vor allem gegen die von Katar unterstützte Nahda-Partei, die zuletzt die Mehrheit im Parlament stellte. Schon lange gibt es Gerüchte, dass Riad und Abu Dhabi den 2019 gewählten Präsidenten stützten und von ihm ein Vorgehen gegen die Islamisten forderten. Es war auch kein Zufall, dass das Büro des katarischen Nachrichtensenders Al Dschasira in Tunis kurzerhand geschlossen wurde. 

Eine unruhige Region

In dem Jahrzehnt seit 2011 war Tunesien das einzige Land, in dem die Diktatur von einer funktionierenden Demokratie abgelöst wurde. Heute scheint es so, als sei auch dieses Experiment gescheitert an der Unfähigkeit, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern, und an dem rücksichtslosen Machtstreben der Regionalmächte.

Sollte sich auch in Tunesien der Trend zu einer autoritären Restauration durchsetzen, würde dies auch das vorläufige Ende des Versuchs der Muslimbruderschaft bedeuten, ein alternatives Herrschaftsmodell für die Staaten der arabischen Welt zu entwickeln. Zumindest in Tunesien wäre dies tragisch, denn die Nahda-Partei machte keine Anstalten, ihre Vision eines islamischen Staates den Tunesiern aufzuzwingen, und versuchte vielmehr als Teil eines Mehrparteiensystems zu überzeugen. 

Die drei Konzepte im Nahen Osten

Stattdessen sind es drei andere Konzepte, die sich heute im Nahen Osten und Nordafrika durchsetzen. Iran exportiert mit seinem Hisbollah-Modell Staatsversagen, indem es schiitische Milizen und Terrorgruppen unterstützt, die den Libanon, Irak, Syrien und Jemen von innen aushöhlen und Staaten im Staate schaffen, ohne Verantwortung für den jeweiligen Gesamtstaat zu übernehmen.

Saudi-Arabien, die VAE und Ägypten vertreten einen neuen, kompromisslosen Autoritarismus, der besonders in der technischen Überwachung totalitäre Züge annimmt und darauf setzt, jedes Anzeichen von Widerstand im Keim zu ersticken. Die Türkei unterstützt gemeinsam mit Katar weiter Islamisten, sieht sich aber vor allem als regionale Großmacht. Diesen Anspruch will Erdogan mit aller Gewalt durchsetzen und nutzt das Bündnis mit Katar, weil kaum ein Land sonst mit ihm zusammenarbeiten will. 

Revolutionen unter Kontrolle

Was die Führungen in Ankara, Teheran, Riad, Abu Dhabi und Kairo miteinander vereint, ist das tiefe Desinteresse am Schicksal der Menschen in der Region. Die überlebenden Aktivisten des Arabischen Frühlings sind heute fast allesamt desillusioniert und leben meist im Exil – wenn sie nicht in den Gefängnissen der Region lange Haftstrafen absitzen müssen. Viele hegen die schwache Hoffnung, dass die Menschen in der arabischen Welt bei nächster Gelegenheit wieder gegen ihre Herrscher protestieren und dann erfolgreicher sein werden als noch 2011. 

Tatsächlich zeigen die Ereignisse der jüngsten Zeit im Sudan, in Algerien, dem Libanon und Irak, dass es weiter Widerstand gegen die Korruption und Inkompetenz der Regierungen und die oft katastrophalen Lebensverhältnisse gibt. Die Optimisten übersehen dabei aber oft, dass auch viele Diktatoren gelernt haben, dass und wie es möglich ist, mithilfe loyaler und effektiver Sicherheitskräfte, neuen technischen Möglichkeiten und brutaler Gewalt die Kontrolle über Millionen Menschen zu bewahren. Die Hindernisse für eine neue Welle der Proteste und Revolutionen sind ebenso gewaltig wie die Probleme der Region.

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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