Schwedens Umgang mit der Coronakrise - Die schwedische Anomalie

Überall auf der Welt streiten die Menschen seit Wochen über die Frage, ob der „schwedische Weg“ gegen die Pandemie der bessere ist. Die meisten Schweden sind fest davon überzeugt. Doch die Coronakrise legt offen, wie segregiert die schwedische Gesellschaft ist.

Leben in der Herde: Nicht alle Menschen in Schweden können die Coronakrise leicht nehmen / Andreas Kudacki
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Eine alte Frau bahnt sich mit dem Rollator ihren Weg über das Kopfsteinpflaster des Stockholmer Ausgehviertels Södermalm, sehr langsam, wartend auf ihren kleinen Hund, der hier und da schnüffelt. Die Frau scheint nicht wahrzunehmen, was um sie herum passiert. Aber ebenso wenig nimmt das Partyvolk die Frau zur Kenntnis.

Es ist nicht wirklich warm an diesem Abend im Mai in Stockholm, aber hier auf dem Medborgarplatsen sitzen Hunderte Menschen an den Tischen der Biergärten, manchmal eng aufeinander, aber mit dem gebotenen Abstand zwischen den einzelnen Gruppen. Die jungen Menschen lärmen, singen, saufen. 

„Ich bin müde“

Auf einer Wiese ein paar Meter weiter steht Karl Atin, 28 Jahre alt, ein schlanker, sportlicher Bankangestellter von knapp zwei Metern. Seit Beginn der Corona-Krise arbeitet er wie alle seine Kollegen von zu Hause aus. Eine Gruppe von zehn, zwölf Freunden hat sich um einen Holztisch versammelt. Kurz vor Ladenschluss haben sie zwei Stiegen Bierdosen aus dem Alkoholmarkt geholt und sind in den Park umgezogen, denn in der Kneipe würden sie jetzt ungern um einen Tisch herumsitzen. Die Gesundheitsbehörde Folkhalsomyndigheten sagt ja: Distanz halten. „Aber hey, ich hatte die Krankheit schon im März  – ich bin in der Herde“, sagt Atin mit einem Lächeln. 

Ann-Christine Johansson, eine schmale, aber resolute 50-Jährige, wird diesen Freitagabend alleine in ihrer Wohnung verbringen. So wie den letzten Abend und den Abend zuvor, so wie jeden Abend in den vergangenen acht Wochen. Die Gedanken an die Bewohner des Pflegeheims, das sie leitet, werden sie wieder bis nach Hause verfolgen. Fünf Menschen sind weggestorben im April, während der ersten Welle. In dieser Woche bahnt sich die nächste Welle an. „Ich bin müde. Aber ich laufe wie ein deutscher Dieselmotor“, sagt Johansson.

Den Krisenmodus verlernt?

Seit die Corona-Krise überall in der Welt zugeschlagen hat, streitet die Welt über den schwedischen Weg durch die Krise: Ist er eine Alternative zum Lockdown, den praktisch alle anderen Länder der Welt verhängt haben? Sind die höheren Todeszahlen der Preis, den eine Gesellschaft am Anfang zahlen muss, um auf längere Sicht alle Vorteile einer Herdenimmunität zu haben? Und warum rebellieren die Schweden eigentlich nicht gegen eine Strategie, die ihnen eine Zahl von Corona-Toten gebracht hat, die zwar halb so groß ist wie jene von Deutschland, aber das bei einer Bevölkerung von nur zehn Millionen?

Es ist nicht einfach, im Mai noch jemanden zu finden, der sich offen gegen die Corona-Strategie des Landes auflehnt. Man findet sie vor allem unter den Ausländern, unter den Migranten aus Somalia und unter den eingewanderten Akademikern. 

„Ich bin wütend auf die Regierung, weil sie rücksichtslos gehandelt hat“, sagt Wouter van der Wijngaart. Der Mittvierziger leitet an der Königlichen Technischen Hochschule den Bereich Mikro- und Nanotechnologie, mit Viren hat er dort höchstens in ihrer Computerversion zu tun. Doch Ende März tat er sich mit drei Epidemiologen und zwei Computermodell-Experten zusammen.

Wijngaart stammt aus Belgien, auch die meisten anderen „Rebellen“ kamen aus dem Ausland. „Wir spürten, dass dieses Land außer Kontrolle geriet“, sagt er mit aufgeregter Stimme. „Schweden hat zwei Jahrhunderte keinen Krieg erlebt. Sie haben vergessen, wie es ist, ein Land im Krisenmodus zu regieren.“ 

Die Apokalypse ist ausgeblieben

Es war die Zeit, als die Welt erstarrte angesichts der Armeelastwagen, die in Norditalien die Toten abtransportierten. Doch während praktisch alle anderen Länder der Welt angesichts der steigenden Infektionszahlen auf den Lockdown zusteuerten, blieb die schwedische Regierung bei Empfehlungen an die Bürger: bei Symptomen zu Hause bleiben, regelmäßiges Händewaschen, wenn möglich, von zu Hause aus arbeiten, Abstand wahren, keine Veranstaltungen mit mehr als 50 Personen. Die einschneidendste Maßnahme war die Schließung der Universitäten und weiterführenden Schulen.

Panik verspürten nur Bewohner Schwedens mit Migrationshintergrund: Die französische Schule schloss entgegen den Empfehlungen der Behörden ihre Pforten, viele Migranten in den Vor­orten schickten ihre Kinder nicht mehr in die Schulen und Kindergärten. Auch Wijngaart ließ seine drei Kinder zu Hause.

Am 15. April veröffentlichten die Rebellen um Wijngaart ihre Prognose, in der sie vorrechneten, dass das schwedische Gesundheitssystem im Mai zusammenbrechen und es bis Ende Juni 96 000 Tote geben werde – wenn die Regierung ihre Strategie weiter verfolgen würde. Die schwedischen Medien berichteten zwar, aber auf Twitter ergoss sich ein Shitstorm über die Autoren. „Uns wurde vorgeworfen, wir seien nicht loyal zu unserem Land“, erinnert sich Wijngaart. Es gab auch andere Wissenschaftler, die in dieser Zeit protestierten, aber seitdem ist die öffentliche Kritik an der Strategie immer mehr verstummt. Wohl auch, weil die apokalyptischen Prognosen nicht eingetreten sind. Das schwedische Gesundheitssystem hat standgehalten.

Die Stunde der Experten

Um die Ruhe der Schweden zu verstehen, muss man einen Blick auf das Regierungssystem werfen, in dem die von Politikern geführten Ministerien sehr wenig zu sagen haben, die Behörden dagegen sehr viel. Die Macht der Behörden ist in der Verfassung festgeschrieben, im Volksmund gibt es sogar ein Schimpfwort dafür, wenn sich Minister in die Arbeit der Experten einmischen: Ministerstyre, Ministerlenkung. Premierminister Stefan Löfven führt zusammen mit den Grünen eine Minderheitsregierung: Man hätte erwarten können, dass die Opposition angesichts der steigenden Infektionsraten auf die Barrikaden geht. Aber selbst die rechtspopulistischen Schwedendemokraten hielten still. Weil es die Stunde der Experten ist.

Insbesondere ist es die Stunde eines Mannes, den im Februar kaum ein Schwede kannte und dessen Gesicht inzwischen auf T-Shirts gedruckt wird, mit dem Zusatz „Hell Tegnell“ (Heil Tegnell). Seine Zustimmungswerte liegen bei über 80 Prozent. Anders Tegnell, oberster Epidemiologe der Gesundheitsbehörde, wirkt wie ein gealterter, aber recht cooler Oberstudienrat: schlabberige Hosen, immer etwas strubbelige ergraute Haare, Sneakers. Der 64-Jährige ist das Mastermind des schwedischen Weges.

Jeden Tag um 14 Uhr zeigt er dem Land sein kauziges Pokerface, das keine Emotionen preisgibt angesichts der Zahlen, die er präsentiert. Manche bezeichnen ihn als den Inbegriff des schwedischen Mannes: trocken wie Knäckebrot.

Wird die Herdenimmunität ausreichend sein?

An diesem Tag im Mai steht er wieder auf dem kleinen Podest im Karolinska-­Institut, einer medizinischen Universität von Weltrang, auf deren Gelände seine Gesundheitsbehörde ihren Sitz hat. „Sie haben gesagt, 3000 Tote seien eine fürchterliche Zahl. Nun hat Schweden diese Grenze überschritten. Bringt Sie das dazu, Ihre Strategie zu überdenken?“ Tegnell, einen Pappbecher mit Kaffee in der einen Hand, die andere in der Hosentasche, verzieht seinen Mund zu einem nach unten offenen Halbmond. „Nicht die Strategie an sich. Es ist eine stabile Situation, die selbst in den Pflegeheimen leicht besser wird. Aber natürlich denken wir darüber nach, wie wir ältere Menschen besser schützen können, besonders jene in den Pflegeheimen.“ Da steht kein gewählter Politiker, der sich gegen die Vorwürfe der Opposition wehren muss. Tegnell ist die fleischgewordene Wissenschaft. Und durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

Umso mehr, als seine Behörde Daten präsentieren kann, die darauf hinweisen, dass der Höhepunkt der Epidemie auch in Schweden Anfang Mai überschritten wurde. Allerdings auf einem weit höheren Niveau als in den kleineren skandinavischen Nachbarländern: Schweden kommt Mitte Mai auf über 3500 Tote, Dänemark auf 500, Finnland auf 300, Norwegen sogar auf nur 230. 

Hat Schweden „den besten Weg“ gewählt, wie Tegnells Amtsvorgänger jüngst posaunt hat? Der Herbst wird zeigen, ob die „Lockdown-Länder“ angesichts einer zweiten Welle wieder harte Einschränkungen erlassen müssen, während Schwedens Gesellschaft genügend Immunität aufgebaut hat. Selbst Tegnell ist vorsichtig, wenn es um die Frage geht, ob Schweden, zumindest aber Stockholm die sogenannte Herdenimmunität erreicht. „Es gibt Anzeichen dafür, dass wir uns in diese Richtung bewegen“, sagt er. Ende Mai will er die Ergebnisse einer repräsentativen Antikörperstudie vorlegen.

Es war sehr knapp

Auf einem anderen Blatt steht, ob Schweden auch wirtschaftlich profitieren wird. Im März stand das Land noch deutlich besser da als Resteuropa, aber die Prognosen der EU-Kommission für das Gesamtjahr sind ähnlich schlecht wie jene für Deutschland: Die Arbeitslosigkeit könnte von 6,8 Prozent im letzten Jahr auf über 10 Prozent wachsen, das Bruttoinlandsprodukt schrumpft wohl um 6,1 Prozent. Denn das Land ist stark vom Export abhängig: 2018 exportierte es Lastwagen, Autos, Maschinen, Elektronik und Papier im Wert von 143 Milliarden Euro, etwa ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Wenn nun die Wirtschaft weltweit in die Rezession schlittert, wird Schweden ebenso leiden wie die „Lockdown-Länder“. 

Restaurants, Friseurläden und der Einzelhandel haben die Krise bisher aber besser überstanden als in anderen Ländern. Ein Drittel seiner Kunden, so erzählt ein Friseur im Stadtzentrum, würde nicht mehr kommen, vor allem die Älteren. Die Restaurants retten sich, weil die Schweden ein „Lunch-Volk“ sind: Es ist sehr üblich, sich zum Mittagessen mit Arbeitskollegen zu verabreden. Schwer getroffen sind dagegen die Hotels in Stockholm: Manche vermieten ihre Zimmer nun für 500 Euro im Monat, inklusive Frühstück, weil trotz der offenen Grenzen keine Touristen ins Land kommen.

Kritiker wie Wijngaart werfen Tegnell und seiner Behörde vor, dass eine Auslöschung des Virus, wie es etwa Neuseeland gelungen ist, nie in Betracht gezogen wurde. „Es gab keine Diskussion! Dabei hätten wir mit unserer geografischen Lage und unseren technischen Möglichkeiten ähnliche Chancen gehabt“, sagt Wijngaart. Stattdessen habe Tegnell Fehler gemacht und seine Strategie immer wieder angepasst. „Zuerst hat er behauptet, es gebe wohl keine asymptomatische Verbreitung. Später hat er eingeräumt, dass es sie doch gibt“, erregt sich Wijngaart. Am Ende konzentrierte sich Tegnells Strategie darauf, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Das ist dem Land gelungen. Aber es war sehr knapp.

Ein vorläufiger Sieg mit einzelnen Niederlagen

Fredrik Rücker stand in den letzten zwei Monaten an vorderster Front in dem Kampf, den Tegnells Strategie verursachte. Der 41-Jährige ist Facharzt für Infektionskrankheiten und verbrachte die letzten Wochen auf der Intensivstation der Klinik in der Kleinstadt Falun, die für die knapp 300 000 Bewohner eines Gebiets von der Größe Nordrhein-Westfalens zuständig ist. „Es war eng, besonders an den Wochenenden“, sagt Rücker an diesem Mittwoch in einem Café im Stadtzentrum. Es ist sein erster freier Arbeitstag seit März. Seine Frau, die als Krankenschwester arbeitet, hat er praktisch nicht gesehen: Sie wechseln sich in ihren Schichten ab. Auch hier war die Spitze der Infektionen Ende April erreicht, seitdem geht die Zahl zurück. Auf 100 Intensivbetten für Corona-­Kranke hatten sie aufgestockt und waren hart an der Grenze zur Überlastung. Aber sie scheinen es überstanden zu haben. Nun ist nur noch die Hälfte der Betten belegt, Rücker überlegt, die Kapazitäten zurückzufahren.

Doch der Preis war hoch: Bis Mitte Mai vermeldete die Region 159 Todesfälle, bei gut 1000 nachgewiesenen Infektionen – eine weit überdurchschnittliche Todesrate, die damit zu tun hat, dass die Region überaltert ist.

2014 hat Rücker in Liberia die Ebola-Epidemie bekämpft. Seitdem weiß er, wie wichtig es ist, sich zu schützen. Aber auch, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist. Tegnells Strategie unterstützt er. „Die Daten in der ersten Maiwoche sind vielversprechend. Möglicherweise gibt es in unseren Nachbarländern im Herbst eine zweite Welle und bei uns nicht. Die Zeit wird es zeigen.“ Die hohe Zahl an Todesfällen in den Pflegeheimen sieht er als Niederlage – die er auch sich selbst zuschreibt. „Wir waren sehr auf unsere Intensivstation konzentriert, aber hätten wohl früher mit den Pflegeheimen sprechen sollen“, sagt er. Auch, dass die Gesundheitsbehörde Besuche in Pflegeheimen erst Anfang April untersagte, war wohl ein Fehler. „Und wir haben zu wenig getestet, erst im Laufe des Aprils hatten wir genug Kapazitäten, um auch Personal regulär zu testen, im Krankenhaus wie in den Pflegeheimen.“ 

Selbstbewusstsein oder Ignoranz?

Anfang März erreichte die Krankheit Falun, kurz nachdem die ersten Übertragungen aus Stockholm gemeldet wurden. Aber wie hatte es das Virus so schnell von Stockholm in die 250 Kilometer entfernte Region geschafft? Die Überträger der Krankheit, da ist sich Rücker sicher, waren Migranten. Wie sonst ist zu erklären, dass die ersten Menschen, die mit heftigen Corona-Symptomen in sein Krankenhaus eingeliefert wurden, Migranten waren?

Tegnells Behörde hatte die Migrantenviertel, in denen sich die ersten Infektionscluster bildeten, nicht auf dem Schirm. Während das Virus in den Wohnblocks draußen vor der Stadt die ersten Opfer forderte, ließ Tegnell die aus den Alpen zurückkehrenden Skitouristen testen. Sechs der 15 ersten Corona-­Toten in Stockholm waren Somalier. Aber erst Mitte April gab Tegnell öffentlich zu, dass Migranten unter den Infizierten „überrepräsentiert“ seien. Die Wahrheit ist: In Stockholm lag der Anteil der an Covid-19 Gestorbenen in den Migrantenvierteln bei 14 von 10 000, in den mehrheitlich von Schweden bewohnten Stadtvierteln ist er viermal niedriger. 

Während die jungen Partygänger im Zentrum von Stockholm darüber scherzen, dass sie „in der Herde seien“, schreibt der aus der Türkei stammende Journalist Nuri Kino Ende April in einem herzzeißenden Text über die 26 Corona-Opfer, die er persönlich kenne – und prangert die Ignoranz der Behörden an.

Wo das Virus in Schweden seinen Ausgang nahm

Über ein Viertel der Bewohner Schwedens haben heute Migrationshintergrund, die größten Gruppen sind Iraker und Syrer, aber auch viele Somalier, Polen und Iraner kamen in den letzten Jahrzehnten in das Land, das lange als Integrationsvorbild galt. Mit blutigen Unruhen in den Migrantenvierteln von Stockholm und Malmö bekam das Bild in den vergangenen Jahren erste Risse. In der Corona-Krise zeigt sich nun, wie gespalten das Land ist. 

In Stockholm, aber auch in Kleinstädten wie Falun wohnen die Migranten abgetrennt von der autochthonen Bevölkerung in eigenen Wohnblocks, die meist aus dem „Millionenprogramm“ stammen: Bis Mitte der 1970er Jahre ließ der Staat an den Stadträndern eine Million neuer Wohnungen bauen.

Inzwischen liegt der Migrantenanteil in vielen dieser Viertel bei über 90 Prozent. Wer sich auf den Weg dorthin macht, bekommt von Stockholmern ein Stoßgebet mit auf den Weg. Schweden setzen normalerweise keinen Fuß in diese Gegenden. Dafür scheinen alle zu wissen, wie gefährlich es ist.

In der Siedlung Akalla, Endstation einer U-Bahnlinie, sieht man nur noch Menschen aus Äthiopien, Somalia, aus Ägypten und dem Iran. Aber es ist sauber, und auch Schulen, Kindergärten und Spielplätze sehen ordentlicher aus als in manchem Berliner Innenstadtbezirk.

Von hier aus hat sich das Virus erstmals in Schweden ausgebreitet, Anfang März gab es die ersten Toten. „Das jüngste Opfer“, erzählt eine lokale Ärztin, die anonym bleiben muss, „war knapp über 30.“ Die Erzählung eines Patienten hat sie tief berührt: Bei seinem letzten Moscheebesuch, so erzählte dieser, sei die erste Reihe mit den ältesten Mitgliedern der Gemeinde leer gewesen. Sie waren alle nach einer Corona-Infektion gestorben.

Warum viele Migranten unter den Erstinfizierten waren 

„Schweden ist sehr gut in Migrationspolitik, aber nicht gut in Integration“, sagt die Ärztin, die hier seit fünf Jahren arbeitet. „Das Coronavirus hat die Schwächen unserer Gesellschaft offengelegt.“

Die Gründe für die Corona-Explosion unter den Migranten sind vielfältig: Da ist einerseits ihre allgemein schlechtere Gesundheit, die das Erkrankungsrisiko steigert: „Diabetes, Übergewicht, Bluthochdruck“, zählt die Ärztin auf. Zudem leben sie auf viel engerem Raum als der Durchschnittsschwede. Nirgendwo ist die Zahl der Alleinlebenden so hoch wie in Schweden; mehr als die Hälfte leben in Single-Haushalten. In den Migrantenvierteln dagegen wohnen die Menschen auf engem Raum, manchmal auch zusammen mit den Großeltern – für einen Schweden unvorstellbar. Die Ärztin glaubt sogar, dass das Virus lange vor dem ersten offiziellen Fall über die Migranten nach Schweden gekommen ist, mitgebracht von einem Verwandtenbesuch in Frankreich oder Italien. Auch der bis heute erste bekannte Corona-Fall in Europa war ein Migrant: Der algerische Fischverkäufer Amirouche Hammar aus Paris – eine Stadt, in der die Migranten ähnlich abgetrennt von der übrigen Bevölkerung leben wie in Schweden.

Der wichtigste Grund aber dafür, dass die Migrantenviertel zum Verbreitungsgebiet wurden, ist ein anderer: Während die Schweden die Vorzüge eines hochdigitalisierten Landes genießen und die meisten mit dem Beginn der Epidemie ins Homeoffice wechselten, haben die Migranten keine Jobs, die sie am Computer erledigen können. „Über zwei Drittel meiner Patientinnen arbeiten in der Altenpflege, der Rest als Putzfrauen. Die Männer sind Köche, Bus- und Taxifahrer“, zählt die Ärztin auf. 

Und während die Schweden im restlichen Stockholm im Glauben an ihren obersten Epidemiologen weitgehend ihrem gewöhnlichen Leben nachgehen, regiert in den Migrantenvierteln die Angst: Im Gegensatz zum Zentrum trägt hier in Akalla jeder Zweite eine Maske. In das persische Restaurant nahe der U-Bahnstation hat sich seit Anfang April kein einziger Gast mehr verirrt, wie Besitzer Amir Soleimani erzählt: „Wir können nur überleben, weil wir Essen liefern.“ 

Erst Häme, dann der Schock

Das Interesse für die Situation der Migranten blieb in Schweden lange äußerst gering, in Foren von Schwedendemokraten-Anhängern wurden Berichte über die Corona-Opfer voller Häme kommentiert. Erst als das Virus über die Migranten die Pflegeheime erreichte, wachte das Land auf: 40 Prozent der Corona-Toten sind in den Pflegeheimen verstorben.

Seit Anfang April nun streitet sich die Gewerkschaft der Pflegekräfte mit den Pflegeheimen über die Frage, ob die Angestellten standardmäßig zu den Plastikvisieren Schutzmasken tragen sollen.

Ann-Christine Johansson, die mit ihrem Pflegeheim südlich der Innenstadt genau an der Schnittstelle zwischen Migranten und Alten steht, kann diesem Streit nichts abgewinnen. Auch sie hat die Angst unter ihrem Personal gespürt, das zu 90 Prozent aus Ländern wie Äthiopien, Somalia und Spanien stammt. Johansson hat deshalb schon im April verfügt, dass ihre Pfleger im Umgang mit Corona-Patienten zusätzlich zu den Plastikvisieren Schutzmasken tragen. Aber inzwischen ist sie sich sicher: „Unsere Pfleger stecken sich untereinander an.“ 

Der Grund dafür sei, dass sie zwar im Umgang mit den Patienten vorsichtig seien, aber dann in der Kaffeeküche eng beieinandersitzen, weil niemand erkennbare Krankheitssymptome hat. Auch die Beschränkung der Sozialkontakte falle ihnen schwer: „Sie sagen: Ich habe nur meine Schwester getroffen. Aber ich sage ihnen: Nein, du darfst niemanden mehr treffen!“ Seit Wochen hält sie diese Predigt, man sieht ihr die Verzweiflung an. Sie selbst geht mit einer selbst verhängten Quarantäne voran – aber Johansson ist schließlich Schwedin, gewohnt an ein Leben ohne viele Sozialkontakte. 

Das Ende ist noch ungewiss

In der zweiten Aprilhälfte fing Johansson damit an, ihre knapp 50 Mitarbeiter mit Symptomen zu testen, inzwischen testet sie „wie verrückt“: Jede Woche 40 Tests, allein unter dem Personal. Trotzdem schafft es das Virus immer wieder hinein. Auch, weil sich ihre Mitarbeiter mit festem Vertrag für zwei, drei Wochen krankmelden. Und sie Teilzeitkräfte anstellen muss, die die Regeln neu lernen müssen.

In dieser Woche haben sich drei Bewohner und neun Beschäftigte angesteckt. Es könnte die nächste Welle sein. Umso verwunderlicher, dass die Verwandten der Bewohner nicht auf die Barrikaden gehen. „Wir schreiben ihnen jede Woche, wir erklären die Lage und die Maßnahmen, die wir ergreifen“, erklärt Johansson. „Sie verstehen, dass wir unser Bestes tun.“ Auch Johansson glaubt an Tegnell: „Nicht über Schuld für Verfehlungen sollten wir sprechen, sondern darüber, was wir besser machen können.“

Nach der Pressekonferenz hat Anders Tegnell auf dem frisch gemähten Rasen des Karolinska-Instituts seine tägliche Routine absolviert, hat in alle Kameras Worte der Beruhigung gesprochen. Seit Anfang Mai, als die Zahlen auch in Schweden langsam zurückgingen, hat das Interesse merklich nachgelassen. Jetzt zieht er seine Kapuzenjacke an, schlurft die wenigen Hundert Meter über den sauberen Asphalt zu seiner Behörde zurück. Ein Kamerateam filmt ihn dabei für einen Dokumentarfilm. Welches Ende wird der Film über diesen Mann haben, auf den die Welt schaut?

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe von Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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