Scholz in Straßburg, Putin in Moskau - Krieg der Worte

An diesem 9. Mai, dem Tag, an dem Russland den Sieg über Nazi-Deutschland feiert, spricht der Bundeskanzler in Straßburg und der russische Präsident in Moskau. Das Thema ist das gleiche: der Ukrainekrieg. Doch die Perspektiven sind ganz andere.

Ein Tag, zwei Perspektiven auf den Ukrainekrieg / picture alliance
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Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Welch ein Gegensatz: Vision vom künftigen Frieden hier, Krieg und Beschwörung der Vergangenheit dort! Vor dem Europa-Parlament in Straßburg entwirft Bundeskanzler Olaf Scholz das Bild einer ebenso kooperationsbereiten wie wehrhaften Europäischen Union, damit Krieg in Europa unmöglich sein werde. Auf dem Roten Platz in Moskau rechtfertigt Wladimir Putin den Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgerechnet mit der Haltung der EU-Staaten und spricht nur von vergangenen Heldentaten der Roten Armee. 

An diesem 9. Mai, dem Tag, an dem in Moskau traditionell der Sieg über Nazi-Deutschland gefeiert wird, wurde das grundlegende Dilemma des Kremlchefs offenbar: Er hat keine Konzepte für die Zukunft anzubieten, die Russland als Partner für die Nachbarstaaten attraktiv machen. Hingegen hat die EU bei all ihren internen Problemen nichts von ihrer Strahlkraft für die ehemaligen Ostblockstaaten und Sowjetrepubliken verloren. 

„Der Westen hat vergessen“

Es war wichtig und richtig, dass Scholz in seiner Rede aus Anlass des Europatags hierzu eine klare Aussage machte: „Wir haben den Bürgerinnen und Bürgern der Westbalkan-Staaten, der Ukraine, Moldaus und perspektivisch auch Georgiens gesagt: Ihr gehört zu uns. Wir möchten, dass Ihr Teil unserer Europäischen Union werdet.“ Die nächste EU-Erweiterungsrunde solle dazu beitragen, den Frieden nach der „Zeitenwende, die Russlands Angriffskrieg bedeutet, dauerhaft abzusichern“. 

Die abschreckende Wirkung, die Putin wider Willen bei allen Nachbarn entfaltet, verstärken noch seine offenkundigen Lügen und Geschichtsklitterungen sowohl über den russisch-ukrainischen Krieg als auch den Zweiten Weltkrieg. Von Belarus abgesehen hat keiner der Staaten im ehemaligen Machtbereich Moskaus gegen die UN-Resolution gestimmt, die den Überfall auf die Ukraine als schwersten Verstoß gegen das Völkerrecht anprangert. 

Und dass Putin den Sieg der Roten Armee allein für Russland reklamiert, wird auch in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken als unverschämte Geschichtsfälschung angesehen. Die Sowjetunion bestand bekanntlich aus 15 Teilrepubliken, unter ihren Kriegstoten waren weniger als die Hälfte Russen. Anteilmäßig hatten Belarus und die Ukraine am meisten Opfer zu beklagen. 

Doch Putin rühmte die „russischen Befreier“ und fügte hinzu: „Der Westen hat vergessen, wer die Nazis besiegt hat.“ Überdies ist in Russland wieder tabuisiert, dass der Sieg der Roten Armee im Osten ohne die massive Militärhilfe durch die USA und Großbritannien nicht möglich gewesen wäre, darunter fast 30.000 Flugzeuge, 18.000 Panzer und 380.000 Lastwagen.

Als Kanonenfutter in vorderster Linie

In den islamisch geprägten ehemaligen Sowjetrepubliken gehört zur kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, dass Soldaten aus den nicht-slawischen Völkern der UdSSR oft von ihren Kommandeuren als Kanonenfutter in die vorderste Linie getrieben wurden. Dasselbe mussten nun in der Ukraine auch viele russische Wehrpflichtige erfahren, die Angehörige der kaukasischen oder sibirischen Völker sind. 
 

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Erneut rechtfertigte Putin den Angriff auf die Ukraine als Verteidigungskrieg, den ihm der Westen aufgezwungen habe: „Die Zivilisation befindet sich an einem Wendepunkt. Ein wahrer Krieg wurde gegen unser Vaterland vom Zaun gebrochen.“ Der Westen wolle „die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs ausstreichen“. 

Auch verwies er auf die Demontage von Denkmälern für die „sowjetischen Befreier“ in den ehemaligen Ostblockstaaten. An diesem Dienstag empörte man sich überdies in Moskau, dass der russische Botschafter in Warschau die traditionelle Kranzniederlegung auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof ausfallen lassen musste: In der Nacht waren dort Hunderte kleine ukrainische Fahnen sowie Pappkulissen, die ausgebombte Häuser symbolisieren, aufgestellt worden.

„Russophobie und aggressiven Nationalismus“

Nach Putins Worten verbreiten die westlichen Eliten „Russophobie und aggressiven Nationalismus“, das Kiewer Regime habe die Ukrainer „als Geiseln genommen und nutze sie für seine grausamen Pläne“. Scholz spielte in seiner Straßburger Rede auf diese Täter-Opfer-Umkehr an, er sprach vom „Wahn“ Putins. Er bekräftigte, die Ukraine werde so lange unterstützt, „wie dies nötig sei“.

Der Bundeskanzler stellte fest, die EU habe „selten so geschlossen zusammengestanden“ wie seit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Da manche Mitgliedstaaten schnelle Hilfe für die Ukrainer blockiert hätten, plädierte er für eine EU-Reform: Künftig sollten mehr Ratsentscheidungen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können. 

Es war Scholz‘ zweite Grundsatzrede zur Zukunft der EU, im vergangenen Jahr im August hatte er in Prag ebenfalls die Rolle der EU für ein in Zukunft friedliches Europa herausgestellt. Seine heutige Rede war auch ein wichtiges Signal an die osteuropäischen EU-Partner, die wegen der fatalen Russlandpolitik des Tandems Merkel/Steinmeier eher misstrauisch auf Berlin schauen.

Schwächen der heutigen Militärmacht Russland

Von Putin aber kam nur ein Satz zu seiner Idee von der Zukunft: Man werde bei der „Militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine den Sieg davontragen. Auch dies war nichts Neues, er sagt es bei jeder Gelegenheit. An diesem „Siegestag“ hat der Kremlchef ein weiteres Mal bewiesen, dass er sich völlig in einer Vergangenheit verloren hat, die aus Versatzstücken des Imperiums der Zaren und dem Sowjetregime unter Stalin besteht. 

Ungewollt haben die Regisseure der Parade auf dem Roten Platz auch die Schwäche der heutigen Militärmacht Russlands offenbart: Die traditionelle Flugschau mit Kampfflugzeugen wurde abgesagt, da man Störaktionen oder gar Angriffe durch ukrainische Drohnen befürchtete. Auch waren die noch vor Jahresfrist triumphierend vorgeführten neuen Kampfpanzer nicht zu sehen, der Krieg in der Ukraine hat ihre Schwächen gnadenlos aufgedeckt. Stattdessen rollte ein einsamer T-34 über den Platz und illustrierte, dass die Modernisierung des Landes unter Putin gescheitert ist.

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