Russlandpolitik - „Einen Weg in den Status quo ante wird es nicht mehr geben“

MdB Johann Wadephul fordert eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik. Im Interview mit Cicero erklärt er, wie eine solche Kommission aussehen könnte. Er spricht über die Fehler der deutschen Russlandpolitik und über Perspektiven für die Zukunft.

Am 6. April sprach Wadephul im Bundestag über das russische Massaker in Butscha / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Dr. Johann Wadephul ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus Schleswig-Holstein. Seit 2009 war er in mehreren parlamentarischen Gremien aktiv, in denen er zu außenpolitischen Fragen gearbeitet hat – so etwa im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten und im Europarat. Bei der Bundestagswahl 2021 erhielt er über die Landesliste Schleswig-Holstein erneut ein Mandat. Er ist Mitglied des „Petersburger Dialogs“.

Herr Wadephul, Sie fordern eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik. Um was genau soll es in diesem Gremium gehen?

Dass wir parlamentarisch analysieren, welche Russlandpolitik in den letzten zwanzig Jahren von verschiedenen Bundesregierungen gemacht wurde. Es ist doch unstreitig, dass sich fast alle in ihrer Einschätzung von Putins Politik geirrt haben – dass er für seine revisionistischen Ziele einen neuen Krieg vom Zaun brechen würde, hat kaum jemand für möglich gehalten. Selbstverständlich steht auch die Frage im Raum, wie wir in Zukunft mit Russland Politik machen wollen. Denn dazu werden wir gezwungen sein, ob wir es wollen oder nicht. Hier meine ich, dass es eine parlamentarische Aufarbeitung braucht.

Ist eine selbstkritische Aufarbeitung überhaupt realistisch? Immerhin dürften insbesondere die Union und die SPD wenig Interesse daran haben, ihre Irrungen mit Bezug auf Russland bestätigt zu sehen.

Das glaube ich nicht. Wenn Sie sich daran erinnern: Es gab sowohl einen Untersuchungsausschuss als auch eine Enquete-Kommission zum gesamten Afghanistan-Einsatz. Die Bereitschaft zur Selbstkritik ist also da. Sie werden in allen Parteien Personen finden, die sich selbstkritisch hinterfragen müssen. Und in allen Parteien gibt es Menschen, die vor den Gefahren deutlicher gewarnt haben als andere. Also das ist unterschiedlich verteilt. Ich glaube aber, dass die Bereitschaft in der SPD, an diesen Fragen zu arbeiten, mit am geringsten ist. Herr Mützenich hat sich bereits dagegen geäußert. Aber je länger der Krieg dauert, desto überzeugender die Argumente derjenigen, die aus den Fehlern der Vergangenheit Lehren für die Zukunft ziehen wollen.  

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat jetzt eigene Fehler im Umgang mit Putin eingestanden. Im Interview mit dem Spiegel sagt er aber auch: „Meine Politik gegenüber Russland hat sich spätestens mit der Annexion der Krim geändert.“ Sehen Sie das auch so?

Es steht außer Frage, dass sich die Politik nach der Krim-Annexion geändert hat. Die Frage ist aber, ob sie sich stark genug geändert hat. Ja, es hat Sanktionen gegen Institutionen, gegen die Wirtschaft und gegen Personen gegeben. Es gab die Nato-Beschlüsse von Wales. Insofern ist die Krim-Annexion nicht folgenlos geblieben. Im Nachhinein lässt sich fragen, ob diese Sanktionen nicht viel entschiedener hätten ausfallen müssen, damit sie Putin von diesem Krieg hätten abhalten können. So hat Putin die EU als „schwach“ bezeichnet und nicht damit gerechnet, dass die EU jetzt so massiv und wirksam reagieren würde. Aber da hatte der Krieg bereits begonnen, und es gab für Putin kein Zurück mehr. Auch das wird eine Frage für die Aufarbeitung sein.

Nord Stream 2 wurde von Steinmeier im vergangenen Jahr noch als eine Art gesamteuropäisches Friedensprojekt gerühmt. War es ein Fehler der Unionsparteien, Steinmeier zum Bundespräsidenten wiederzuwählen?

Es ist nicht Steinmeier allein gewesen, der die Russlandpolitik der letzten 20 Jahre zu verantworten hat. Die CDU war schließlich die letzten 16 Jahre – in verschiedenen Koalitionen – am Ruder. Und wenn man sich die SPD ansieht, merkt man folgendes: Viele „Russlandversteher“ waren weitaus radikaler als Steinmeier. Dazu gehören Matthias Platzeck und Rolf Mützenich, aber auch viele andere aus dem linken Flügel der SPD. Bis zum Kriegsausbruch existierte nicht einmal im Ansatz eine Bereitschaft, das Verhalten von Gerhard Schröder zu hinterfragen. Noch vor wenigen Jahren hat er auf dem Bundesparteitag der SPD gesprochen – aber Thilo Sarrazin konnte man nicht schnell genug rauswerfen.

Also war Steinmeier der richtige Kandidat?

Ja. Denn Russlandpolitik ist ja nicht das einzige Kriterium, nach dem ein Bundespräsident gewählt wird. Steinmeier ist ein Politiker, der gesamtstaatlich denken kann. Das hat er zum Beispiel bewiesen, als die Verhandlungen für die Große Koalition liefen. Bedenken Sie: Alles, was wir heute im Sinn haben, sind Ex-post-Betrachtungen. Aber man muss sich auch die Situation ex ante anschauen.

Wie meinen Sie das?

Natürlich gab es Warnungen. Und es gab genug Leute, die von heute aus gesehen realistischer waren. Aber andererseits kann man nicht einfach die Akteure als irrational abtun, die auf eine stärkere wirtschaftliche Kooperation mit Russland gesetzt hatten: Sie dachten, dass Russland besser kontrollierbar sei, wenn man es in internationale Prozesse einbindet. Dahinter steht eine durchaus rationale Erwägung, die sich allerdings als unrealistisch herausgestellt hat. Ich persönlich habe nie an das Dogma „Wandel durch Handel“ geglaubt. Aber dass Russland einen derart extremen Weg in eine kriegerische Diktatur gehen würde, habe ich nicht für möglich gehalten.

Sie selbst sind Mitglied des „Petersburger Dialogs“, eines bekannten Forums für den Austausch zwischen Russland und Deutschland. Viel Kritik war aus dieser Organisation nicht zu hören in der Vergangenheit. War man da zu naiv?

In jüngerer Zeit hat es vonseiten des Petersburger Dialogs viel Kritik an der russischen Politik gegeben. Aber der Petersburger Dialog ist ja jetzt nicht geschaffen worden, um wirtschaftlichen oder politischen Austausch, sondern um einen zivilgesellschaftlichen Austausch zu organisieren. Es war immer wichtig, dass noch Kontakte zwischen den Zivilgesellschaften bleiben. Aber es wird in Russland immer schwerer, regimekritische Meinungen zu äußern. Dabei waren im Petersburger Dialog auf russischer Seite etliche Menschen dabei, die auf Verständigung gesetzt haben. Sie sind jetzt alle entlassen worden. Wie zum Beispiel Aleksej Gromyko, der Enkel des sowjetischen Außenministers, der sich gegen den russischen Krieg ausgesprochen hat.

Wie haben Sie selbst als Außenpolitiker die Politik des Kreml in den vergangenen Jahren wahrgenommen? Gab es für Sie einen Kipppunkt?

Seit der Krim-Annexion ist Putin keinen entscheidenden Schritt mehr in eine alte Ordnung zurückgegangen. Da haben wir uns zu viele falsche Hoffnungen gemacht. Vielleicht auch deswegen, weil es Gesprächspartner innerhalb des Kreml gab, die eine stärkere Verhandlungsbereitschaft als ihr Chef signalisiert haben.

Länder wie Polen, aber auch der frühere US-Präsident Donald Trump, haben davor gewarnt, Deutschland mache sich abhängig von russischen Energieträgern. Man hat nicht auf sie gehört, im Gegenteil. Woher dieser Hochmut?

Es ist besonders bitter, dass Donald Trump uns letzten Endes zu Recht kritisiert hat. Wir waren auch bei der Energiezusammenarbeit immer der Auffassung, dass hier eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen Russland und Europa vorhanden war. Die würde dann Russland zu einem bestimmten Handeln veranlassen oder zumindest von radikalen Schritten abhalten, so die Theorie. Das war die Ratio dahinter. Die Begeisterung in Deutschland, aus der Atomenergie auszusteigen, verstärkte den Druck. Um die Ausfälle auszugleichen, war natürlich der Bezug von Gas aus Russland die naheliegende Option. Denn amerikanisches Flüssiggas ist einerseits teurer, und andererseits wird es mithilfe von Fracking gewonnen, das hierzulande nicht sonderlich beliebt ist.

Ohne russisches Gas also keine Energiewende?

Ja. Gas aus Russland war immer die Grundlage der deutschen Energiewende. Denn das schnell verfügbare Gas, das man für die Übergangszeit brauchte, gab es in der Form nur aus Russland. Aber fast die Hälfte unseres Gasbedarfs nur aus einem Land zu beziehen, war ein Fehler, weil unsere Abhängigkeit dadurch deutlich größer war als die von Russland.

Wie abhängig ist die Bundesrepublik denn heute von Öl und Gas aus Russland? Können wir uns ein Embargo überhaupt leisten?

Man muss das genauso realistisch beantworten, wie Robert Habeck es getan hat. Es führt kein Weg an unserer Abhängigkeit von Öl und Gas vorbei. Man wird wahrscheinlich zum Ende des Jahres die Abhängigkeit von russischem Erdöl beenden können, aber beim Erdgas ist das nicht möglich. Es ist ja leicht, nach Katar zu fliegen und ein paar Fotos für die Presse zu schießen. Aber aus Katar oder den USA jetzt Energie zu beziehen, ist doch eine ganz andere Frage. Für das LNG müssen Sie Tanker haben, Sie müssen hier entsprechende Terminals haben, wo Sie es löschen können, und dann müssen Sie zusehen, wie Sie die Mengen ersetzen können, die Sie bisher relativ einfach durch Pipelines aus Russland bezogen haben. Das ist alles nicht trivial.

Wie muss man sich denn das künftige Verhältnis Deutschlands – oder des Westens allgemein – gegenüber Russland vorstellen? Mit Putin und seinem Regime wird man ja kaum noch in Dialog treten können.

Das ist ausgeschlossen. Einen Weg mit diesem Regime in den in den Status quo ante wird es nicht mehr geben. Es hängt zum jetzigen Zeitpunkt entscheidend vom Ausgang dieses Krieges ab. Die Worte Sieg und Niederlage sind sehr relativ. Aber es darf zumindest kein Sieg für Putin werden. Man muss dafür sorgen, dass sich die Ukraine erfolgreich verteidigen kann. Und dass am Ende dieser Angriffskrieg für Putin ein Fehlschlag wird. Für das Ergebnis sind Waffenlieferungen sehr viel wichtiger als Sanktionen.

Sehen Sie eine Perspektive, dass dieser Krieg demnächst ein Ende findet – mit einem für Europa wünschenswerten Ausgang?

Definitiv. Wenn die Ukraine ihre Positionen noch länger halten kann, wird Putins Armee noch erheblich mehr Probleme haben. Aber das ist nur mit westlicher Hilfe möglich. Dann wird Putin ja nicht ein halbes Jahr lang erklären können, dass eine erfolgreiche Militäroperation in der Ukraine zur Befreiung von den Nazis läuft. Aber jetzt hat er das Datum des 9. Mai vor der Nase. Bis dahin muss er liefern. Und wenn er das bis dahin nicht hinbekommt, hat er ein dickes Problem. Wir müssen dafür sorgen, dass er dieses Problem bekommt.

Zumal der Krieg inzwischen um einiges brutaler geworden ist. Wir haben das Massaker in Butscha gesehen und in anderen besetzten Orten. Was bedeuten diese Kriegsgräuel für den Fortgang des Krieges?  

Bis dahin musste man damit rechnen, dass es sie gibt. Durch sie werden die Entschlossenheit des Westens und auch die Entschlossenheit der Ukraine zunehmen. Und die Unterstützung für Putin könnte in verschiedenen Ländern schwinden, die sich bislang zurückgehalten haben. Putin dachte, er könnte durch den Terror den Widerstandswillen der Ukrainer brechen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die unsäglichen Kriegsverbrechen der russischen Truppen haben eine stark motivierende Wirkung für alle, die sich Putin entgegenstellen.  

Halten Sie es für angemessen, zwischen dem Putin-Regime und Russland insgesamt im Hinblick auf den Ukrainekrieg noch zu differenzieren? Es heißt ja in Umfragen, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung die Invasion unterstützt.  

Das ist eine der schwierigsten Fragen. Wir Deutschen haben ja nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder Kollektivschuld-Debatten geführt. Durfte man zwischen den aktiven Unterstützern des Hitlerregimes und dem „verführten Volk“ unterscheiden? Ich denke, dass man es am Ende doch machen muss. Wir dürfen diese Frage nicht nach Umfragewerten entscheiden. Man muss sehen, dass russische Normalbürger seit Jahren eine gesteuerte Wahrheit erfahren. Ich beobachte die große derzeit bestehende Unterstützung für Putin mit großer Sorge. Und ich glaube, dass es eine gewisse Zeit nach diesem Krieg dauern wird, dass die russische Gesellschaft sich es überhaupt in vollem Umfang bewusst macht, was da alles geschehen ist. Diese Hoffnung will ich nicht aufgeben.

Das Gespräch führte Nathan Giwerzew.

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