Russland und der Ukraine-Krieg - „Russland braucht eine neue Stunde Null“

Cicero-Chefreporter Moritz Gathmann war in den ersten Tagen des russischen Einmarschs in der Ukraine unterwegs, hat einen Flüchtlingszug von Lemberg Richtung Westen begleitet. Jetzt ist er wieder in Deutschland, doch die Bilder lassen ihn nicht los. Jahrelang hat er sich für Verständnis zwischen Deutschen und Russen eingesetzt, inzwischen ist er überzeugt: Nur ein Ende des Systems Putin kann Frieden bringen.

Die Bilder der ukrainischen Flüchtlinge graben sich in das Gedächtnis ein / Gathmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Wie es mir geht, fragt ihr mich? Es geht mir gut. Körperlich. Seelisch bin ich am Boden zerstört. Eigentlich kann ich kaum noch geradeaus denken, seit ich vor einer Woche aus der Ukraine zurückgekommen bin. Ich sehe den Frühling einkehren, sehe meine Kinder um mich herum spielen und lachen, und bin doch nicht hier mit ihnen, weil ich an die ukrainischen Kinder denke, die ich auf dem Flüchtlingstreck gen Westen gesehen habe, auf dem Bahnhof Lemberg, wie sie stundenlang auf den kalten Bahnsteigen mit ihren Müttern frieren, in Panik in die Züge geschubst werden, die Richtung Polen fahren, wie sie sich verabschieden von ihren Vätern, die weinend zurückbleiben.

Ich denke an meinen Freund, den Fotografen Jewgenij Maloletka, der in der Stadt Mariupol eingeschlossen ist und von dort weiter berichtet. Und jede Bildergalerie, die er von dort in die Welt hinausschickt, trifft mich aufs Neue. In diesen Straßen war ich mit ihm unterwegs, 2014, als die von Russland gestützten Separatisten dort schon einmal für kurze Zeit die Macht übernommen hatten und dann wieder zurückgeschlagen wurden. Heute hat eine russische Rakete ein Geburtshaus in Mariupol zerstört.

Ich denke an die Hunderttausenden, die in Charkow ausharren, die versuchen, am Bahnhof einen Platz in einem der wenigen Züge Richtung Westen zu bekommen. Die Temperatur soll in der Millionenstadt Charkow, der zweitgrößten ukrainischen Stadt, in den nächsten Tagen auf minus 15 Grad sinken.

„Brudervölker“ werden gegeneinander aufgehetzt

Ich denke an meinen Kiewer Kumpel Wanja, ein waschechter Hipster, der Frau und Sohn in Sicherheit gebracht hat und der jetzt in einer Kompanie in Kiew als Helfer eines Militärarztes arbeitet. „Ich will nicht sterben, ich liebe meinen Sohn sehr“, hat er mir geschrieben.

Ich muss denken an die Millionen Leben, die dieser Krieg zerstört, die 15-Jährige aus der Stadt Saporischje im Bus nach Berlin, die mir Bilder von ihrer Tanzgruppe zeigte, sie im schicken Ballkleid, zusammen mit ihrem Partner, im Trainingslager, beim Wettkampf. Alles kaputt.

 

Moritz Gathmanns Video-Interviews aus der Ukraine:

 

Die Hilfsbereitschaft hier, in Polen und anderswo ist schön anzusehen. Aber sie ist ja nur um die Ecke gedacht ein Trost. Direkt gedacht ist die Tragödie riesig. Und sie ist die Folge der Taten eines Menschen, der einen Rachefeldzug ohne Rücksicht auf Verluste begonnen hat, ohne Rücksicht auf Verluste in der Ukraine und in seinem Land.

Wladimir Putin, offenbar auf einer psychopathologischen Ebene gekränkt durch die ukrainische Revolution von 2014, sät seitdem Hass, hetzt zwei Völker kriegerisch gegeneinander auf, die millionenfach familiär verbunden waren und sind, die kulturell seit Jahrhunderten eng verknüpft sind. Putin, der gerne von den „Brudervölkern“ spricht, lässt den „kleinen Bruder“, denn so ist die Brüder-Rhetorik in Wirklichkeit gemeint, nun bombardieren und töten.

Putin hat den Gedanken der Völkerverständigung verraten

Über die Hälfte meines bisherigen Lebens war ich ein Brückenbauer zwischen Russen und Deutschen, fast fünf Jahre habe ich in Russland gelebt, kenne auch die Nachbarländer gut, habe Freunde von Jerewan über St. Petersburg bis Minsk.

Ich habe immer für Verständnis geworben, habe in Deutschland die besonderen Erfahrungen der Russen und Gemütslagen erklärt, und wurde dafür immer wieder als „Russlandversteher“ abgewatscht. Ich habe es ertragen, sah es als meine Mission, trotz aller politischer Konflikte für Verständigung zu sorgen. Vielleicht ist es meinem sozialdemokratischen Elternhaus geschuldet, den Worten meiner Großmutter, deren Mann an der Ostfront gekämpft hat, meiner Generation, die mit Gorbatschow großgeworden ist, ganz bestimmt auch meinen Russischlehrern, ein Ehepaar, die sich nach 1990 mit großer Verve der Mission der Völkerverständigung zuwandten – und Menschen wie mich mitrissen.

Putin hat diesen Gedanken der Völkerverständigung aufs Widerlichste verraten, er hat Menschen wie mich verraten. Mit seiner revanchistischen Propaganda hat er die Köpfe der Russen, besonders der Älteren, vergiftet. Wie in vielen Familien ist auch in meiner mit aller Macht der Krieg eingekehrt, in Form einer großen Sprachlosigkeit zwischen den Jüngeren und der Elterngeneration. Ich könnte kotzen, wenn ich meiner russischen Schwiegermutter zum Frauentag gratuliere, während die russischen Soldaten die Ukraine zerbomben. Ich weiß nicht, wie wir aus dieser Sprachlosigkeit jemals wieder herausfinden sollen, wenn dieser Krieg irgendwann vorbei ist.

Die Zeit der „Inseln der Freiheit“ ist vorbei

Freunde schicken mir Videos aus Russland, aus der Stadt Kaluga, in der ich drei Jahre lang gelebt und viele Freundschaften geschlossen habe. In diesen Videos werden „Feinde des Volkes“ vorgeführt, mit Adressen und Telefonnummern, die angeblich an „ukrainische Faschisten“ gespendet haben und Fake-Informationen über die russische Spezialoperation verbreiten sollen. Dahinter, da besteht kein Zweifel, steckt der Staat und seine Geheimdienstler. Ich kenne die Leute, die nun als Volksfeinde markiert werden. Und bin fassungslos.

Wie oft habe ich mich über russische Radikaloppositionelle mokiert, die in den letzten Jahren sagten: „Jetzt sind wir wieder im Jahr 1937 angekommen“, wenn der Kreml sich wieder ein neues repressives Gesetz ausgedacht hatte. Der Vergleich zum brutalsten Jahr des Stalinismus erschien mir immer völlig überzogen. Denn die Freiheiten, die es im autoritären russischen System gab, waren immer noch groß: unabhängige Medien, die neben der staatlichen Propagandamaschinerie ihren Job voller Leidenschaft machten – und jedem, der die Wahrheit sehen wollte, die Möglichkeit dazu gaben. Die traurige, ja schockierende Erkenntnis der letzten Tage ist: Das System hat die Psyche vieler Menschen in Russland so deformiert, dass sie fähig sind, die Wahrheit auszublenden, selbst wenn sie in Form explodierender ukrainischer Wohnhäuser vor ihnen steht.

Die Zeit der „Inseln der Freiheit“ ist vorbei. Das System entwickelt sich über die letzte Woche mit großer Geschwindigkeit in Richtung einer finsteren, brutalen Diktatur. Der Hass, der von staatlicher Seite gegen Andersdenkende gesät wird, dringt über den Fernseher und die sozialen Netzwerke in jede Wohnung. Zu Zehntausenden fliehen die Menschen, die Angst vor Verfolgung haben oder nicht in den Krieg ziehen wollen, ins Baltikum, nach Georgien und Armenien, ja sogar nach Kirgisien und Kasachstan. Nur raus aus Russland, solange es noch möglich ist. Die bleiben, fürchten inzwischen, schon mit einem falschen „Like“ in den sozialen Netzwerken in den Fokus der Geheimdienste zu geraten und als Volksfeinde gebrandmarkt zu werden. Diese Menschen haben für mich Gesichter und Namen, sie sind nicht nur Zahlen, nicht nur eine Nachricht in der Zeitung.

Russland braucht eine neue Stunde Null

Ich hätte nach all den Jahren nie gedacht, dass ich einmal so etwas sagen oder schreiben würde. Aber ich bin über die vergangenen Tage zu dem Schluss gekommen: Russland braucht eine neue Stunde Null, ähnlich wie Deutschland im Mai 1945. Mit friedlichen Demonstrationen der Großstadtjugend ist dem System Putin nicht beizukommen, zu loyal – durch Gehirnwäsche und Geld – sind die Schlägertrupps, in die Putin die Polizei des Landes verwandelt hat. Der Oppositionsführer Alexej Nawalny sitzt im Gefängnis, und er wird dort so lange bleiben, wie Putin das will. Das System muss zusammenbrechen, damit auf den Ruinen etwas Neues entstehen kann.

Der Zusammenbruch wird Schockwellen erzeugen: Ich will gar nicht an die ethnischen Konflikte denken, an separatistische Tendenzen in den „nationalen Republiken“ von Tschetschenien bis Baschkirien. Der politische und wirtschaftliche Niedergang Russlands wird auch Zentralasien und den Südkaukasus destabilisieren, wo viele Menschen von den Überweisungen ihrer Verwandten in Russland leben. Und auch Syrien dürfen wir nicht vergessen, wo Russland Schutzmacht des Diktators Baschar Assad ist. Was, wenn es nicht mehr da ist?

Gut möglich, dass den Russen dann eine Rückkehr in die 90er-Jahre bevorsteht, in eine Zeit des Chaos und ökonomischen und gesellschaftlichen Niedergangs. Diese Aussicht ist absurd angesichts der Möglichkeiten, die Russland hatte, angesichts der ausgestreckten Hände in Form von „Modernisierungspartnerschaften“ und „strategischen Partnerschaften“. Wenn es schließlich zu Zusammenbruch und Chaos kommen sollte, gibt es dafür einen Schuldigen. Er heißt Wladimir Putin. 

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