Moskaus Strategie gegen den Westen - Putins Plan und Deutschlands Beitrag

Mit der Invasion der Ukraine verfolgt Russland nicht nur geopolitische Interessen, sondern will auch das westliche Wirtschafts- und Lebensmodell schwächen. Tatsächlich hat Wladimir Putin seinen Angriff auf Europa schon sehr lange vorbereitet, indem er Stück für Stück Abhängigkeiten schuf. Deutsche Spitzenpolitiker waren ihm gern behilflich. Jetzt befinden wir uns in einem Weltwirtschaftskrieg mit ungewissem Ausgang.

Alles nach Plan: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der russische Präsident Wladimir Putin 2017 bei einem Treffen im Kreml / picture alliance
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Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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So folgenreich der Einmarsch Russlands in die Ukraine auch ist, das strategisch wichtigste Ereignis der vergangenen Wochen war der globale Wirtschaftskrieg zwischen Russland und den USA sowie ihren Verbündeten. Russland bereitet sich jedoch seit langem auf eine Konfrontation mit dem Westen und auf das Herausfordern des westlichen sozioökonomischen Modells vor.

Die strategischen Interessen Russlands in der Ukraine sind bekannt. Die Geografie und die Geschichte Russlands zwingen die russische Führung, einen Puffer zwischen Moskau und Westeuropa zu schaffen und zu bewahren sowie den Zugang zum Schwarzen Meer zu sichern. Die Ukraine ist für beide Ziele von entscheidender Bedeutung. Doch über die Ukraine hinaus betrachtet der Kreml die Ausdehnung des westlichen Einflusses nach Osten, einschließlich nach Russland, als eine moderne, heimliche Invasion, die das russische Regime bedroht.

Es sind nicht westliche Organisationen wie die Nato und die Europäische Union, die den Kreml herausfordern, sondern das sozioökonomische Modell, das es dem Westen ermöglichte, den Kalten Krieg zu gewinnen – und das die Osteuropäer dazu verleitete, sich dem Westen anschließen zu wollen. Als Wladimir Putin im Jahr 2000 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wirtschaftskrise der 1990er-Jahre Präsident Russlands wurde, erbte er ein zerrüttetes Land. Viele Russen zogen einen Beitritt zur Europäischen Union in Erwägung, in der Hoffnung, dass eine Annäherung an den Westen ein besseres Leben bringen würde.

Putin wollte politisch überleben

Priorität für das russische Establishment hatten die Stabilisierung und der Wiederaufbau des Landes. Putin wollte einfach nur politisch überleben. Dem Beispiel früherer erfolgreicher russischer Führer folgend, zentralisierte er die Macht. Da er wusste, dass er Stabilität und Wachstum brauchte, um die Auswanderungsrate zu verlangsamen und die schlechte demografische Lage Russlands in den Griff zu bekommen, versuchte er, Europa wirtschaftlich von Moskau abhängig zu machen. Mit Blick auf die Geschichte und das aktuelle Machtgleichgewicht erkannte er Deutschland als Dreh- und Angelpunkt seiner Strategie der Abhängigkeit.

Die russischen Beziehungen zu Deutschland waren der Schlüssel zum Aufbau von Beziehungen zur Europäischen Union im weiteren Sinne, aber dies war nur der Anfang von Russlands Strategie in Europa. Russland öffnete seine Wirtschaft für westliche Investitionen, knüpfte Verbindungen auf dem gesamten Kontinent und versuchte, die innere Funktionsweise der EU-Bürokratie zu verstehen. Es knüpfte enge Geschäftsbeziehungen zu Italien, Frankreich und später Ungarn und baute ein politisches Netzwerk auf, das dazu beitragen sollte, seinen Einfluss in Europa auszuweiten. Für Moskau war es ebenso wichtig, die Schwachstellen Europas kennenzulernen, wie seine Wirtschaft auszubauen und Russland zu einer stabilen Wirtschaftsmacht zu machen.

Der Kreml setzte sich auch für den Beitritt zur Welthandelsorganisation ein, um engere Beziehungen zu den größten Wirtschaftsakteuren der Welt aufzubauen. Dabei profitierte das Land von ausländischen Investitionen in Russland und lernte, wie die Weltwirtschaft funktioniert, indem es Partnerschaften nicht nur mit westlichen Ländern, sondern auch mit anderen Wirtschaftsmächten einging. Das einzige Problem war, dass China, sein wichtigster Verbündeter gegen den Westen, nicht das erhoffte beschleunigte Wachstum verzeichnete und immer noch sehr stark vom US-Markt abhängig war, was Peking nur begrenzte Möglichkeiten gab, den US-Interessen in der Welt entgegenzuwirken – und Russland dazu zwang, sich weiterhin auf Europa zu konzentrieren.

Der Westen schien für viele Russen attraktiv

Für den durchschnittlichen Russen hat sich der Lebensstandard unter Putin verbessert. In den großen russischen Städten war das Leben ähnlich wie im Westen. Als Russland jedoch zu einem wichtigen Akteur auf dem Energiemarkt wurde, wurde es auch stärker von den globalen Wirtschaftszyklen beeinflusst. Die europäische Wirtschaftskrise der 2010er-Jahre ließ Moskau erschaudern. Die russische Wirtschaft blieb insgesamt anfällig, und die Kluft zwischen städtischen und ländlichen Gebieten blieb gefährlich groß, was Putins Kontrolle hätte bedrohen können.

Gleichzeitig schien der Westen attraktiv. Es war nicht so sehr der wachsende westliche Einfluss in Russlands Pufferzone, der den Kreml beunruhigte, sondern die Tatsache, dass gewöhnliche Russen auf Ost- und Mitteleuropa blicken und dort ein besseres Modell für politische Strukturen und wirtschaftliches Wachstum hätten erkennen können.

Dann kam die Pandemie. Der russische Präsident befürchtete offenbar, dass die durch Corona verursachte wirtschaftliche Unsicherheit die Stabilität seines Landes gefährdet. Als die schlimmsten sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie abklangen, wurden Maßnahmen gegen den Westen dringend notwendig. Aus Sicht des Kremls war dies ein einzigartiger Moment. Die USA haben versucht, ihre Präsenz in Europa zu verringern, und sich stattdessen auf den indopazifischen Raum und auf innenpolitische Probleme konzentriert. Mit anderen Worten: Aus Sicht des Kremls erscheinen das transatlantische Bündnis und die Europäische Union schwach. Vor allem aber glaubt die russische Führung, die Funktionsweise des Westens hinreichend kennengelernt zu haben und ihn wirksam bekämpfen zu können.

Spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre bereitet sich Russland auf eine Konfrontation mit dem Westen vor. Neben der Anhäufung von Devisenreserven baute Moskau Handelsblöcke auf und vertiefte die Beziehungen mit Projekten wie der Eurasischen Wirtschaftsunion. In Europa lockte es Deutschland in die Abhängigkeit von russischem Erdgas, was es Europa, wie sich heute zeigt, äußerst schwer macht, sich von russischen Energieimporten abzukoppeln. Eine Abkehr vom Gas würde den Aufbau einer neuen Infrastruktur in Europa erfordern – ein kostspieliger und zeitaufwändiger Prozess.

Die enge deutsch-russische Partnerschaft kam der Europa-Strategie des Kreml auch in anderer Hinsicht zugute. Ein praktisches Beispiel: Die EU hatte Pläne, die Donau durch den Bau zusätzlicher Kanäle vollständig schiffbar zu machen und damit die Verbindung Mitteleuropas mit dem Schwarzen Meer zu verbessern. Dies hätte Europa ein größeres Druckmittel gegenüber Russland verschafft, zumal der Krieg in der Ukraine die Umleitung der Handelsströme vom Schwarzen Meer auf wesentlich teurere Landrouten erzwungen hat. Stattdessen ließen die guten Beziehungen zu Moskau das Projekt unnötig erscheinen, und es verschwand in der Versenkung.

Russlands Einfluss in Europa

Es ist kein Zufall, dass Europa nach 2012, dem ersten vollen Jahr, in dem Nord Stream 1 in Betrieb war, sehr viel zurückhaltender wurde, wenn es darum ging, eine Politik zu verfolgen, die als antirussisch hätte angesehen werden können. Vor allem in Deutschland bestand einfach kein Interesse daran. Es ist auch kein Zufall, dass sich die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland in dieser Zeit abgekühlt haben. Die Amerikaner waren darauf angewiesen, dass Deutschland die Führung in Europa übernahm oder zumindest seine Neutralität wahrte, um zu verhindern, dass Russland seinen Einfluss in Europa ausweitete, während sich die USA zurückzogen. Die Tatsache, dass Russland 2012 der Welthandelsorganisation beigetreten ist, hat dem Land noch mehr Einfluss in der Weltwirtschaft verschafft.

Es ist auch erwähnenswert, dass der Kreml persönliche Beziehungen nutzte, um seinen Einfluss zu stärken. Der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde zum Leiter von Nord Stream 1 ernannt. Die Nord Stream AG hat auch den ehemaligen finnischen Ministerpräsidenten Paavo Lipponen als Berater eingestellt, um das Genehmigungsverfahren in Finnland zu beschleunigen. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Matteo Renzi war im Vorstand von Delimobil, einem russischen Carsharing-Dienst, tätig. Der ehemalige finnische Premierminister Esko Aho war im Vorstand der größten russischen Bank, der Sberbank. Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Christian Kern trat in den ersten Tagen des Ukraine-Krieges aus dem Vorstand der staatlichen russischen Eisenbahngesellschaft zurück, während ein anderer Ex-Kanzler, Wolfgang Schüssel, im Vorstand der russischen Lukoil verblieb. Dies ist nur eine kurze Liste von Spitzenpolitikern, die alle zumindest einen gewissen Einfluss auf die außenpolitischen Diskussionen in ihrem Land hatten. Sie waren sicherlich nützlich für das russische Wirtschaftswachstum und den Fortschritt der russischen Wirtschaftsstrategie in Europa.

Durch die enge Zusammenarbeit mit den Europäern in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten hat Russland gelernt, was für die Stabilität ihrer Länder wichtig ist. Sie hat dem Kreml auch geholfen, die politische Agenda der Europäer besser zu verstehen und Dinge zu unterstützen, die für Russland von Vorteil sind. So hat Russland beispielsweise mit Begeisterung viele umweltfreundliche Maßnahmen gefördert, wie etwa Deutschlands Entscheidung, aus der Kernenergie auszusteigen, was zu einer größeren Abhängigkeit von russischem Gas führte. Außerdem hat Russland offen populistische Parteien in ganz Europa unterstützt und einen Informationskrieg geführt, um Europa zu destabilisieren und letztlich zu spalten.

Auf globaler Ebene hat Russland enge Beziehungen zu traditionellen Feinden und Konkurrenten des Westens unterhalten. Der Beitritt zur WHO verschaffte dem Land eine stärkere Position auf der Weltbühne, die genutzt wird, um den Einfluss und die Interessen aufstrebender globaler Akteure zu fördern, darunter die Brics-Länder, zu denen auch Brasilien, Indien, China und Südafrika gehören. Obwohl die Ergebnisse bescheiden waren, warb Russland für die Gruppe als Alternative zum Westen und konzentrierte sich weiterhin auf den Aufbau von Beziehungen zu China und Indien, von denen es hoffte, dass sie einer möglichen Konfrontation mit dem Westen standhalten würden, die wir heute erleben.

China als Russlands Helfer

Um den aktuellen Sanktionen entgegenzuwirken, hat Moskau China um Hilfe gebeten. Die Eurasische Wirtschaftsunion gibt dem Land die Möglichkeit, weiterhin Geschäfte mit der Welt zu machen. Gleichzeitig hilft Russlands Präsenz im Nahen Osten und in Teilen Afrikas dem Land, den Ölpreis hoch zu halten – hoch genug, um seine Rechnungen bezahlen zu können. Der Einfluss im Nahen Osten und in der Sahelzone, zwei äußerst instabilen, aber rohstoffreichen Gebieten, verleiht Russland auch mehr Einfluss auf die Weltwirtschaft.

Beim Aufbau seines Beziehungsgeflechts hat Russland versucht, sich auf die Wirtschaft zu konzentrieren und Schwachstellen im globalen Netzwerk zu beheben. Es dehnte seinen Einfluss im Ausland aus und sorgte dafür, dass die Abhängigkeiten, die es förderte, stark genug waren, um mitreden zu können, aber auch so schwach, dass es sich bei Bedarf zurückziehen konnte. Die russische Strategie hat sicherlich ihre Schwächen – aber Russland hat Möglichkeiten, dem Westen im derzeitigen globalen Wirtschaftskrieg entgegenzutreten. Die EU durch wirtschaftliche Beziehungen in Europa zu zersplittern und Moskaus Nutzung seiner über die Jahre erworbenen Kenntnisse der europäischen Politik sind wahrscheinlich die wichtigsten Elemente von Putins Strategie. In dem Moment, in dem die europäischen Bürger die Auswirkungen der westlichen Sanktionen zu spüren bekommen, wird die Union schwächer werden, was es Russland ermöglichen wird, die Schwächen der EU auszunutzen.

Die Welt ist Zeuge des ersten wirtschaftlichen Weltkriegs der Neuzeit. Die Regeln sind nicht festgelegt, und die Weltwirtschaft ist komplex – was bedeutet, dass Kollateralschäden unvermeidlich und häufig unvorhersehbar sind. Langsam wird uns bewusst, welche Auswirkungen die Sanktionen gegen Russland auf die Weltwirtschaft haben. Weniger klar sind die Instrumente, die Russland gegen den Westen einsetzen kann. Wie dies die Welt verändern wird, ist ungewiss. Wir können nur darauf zurückblicken, worauf sich Russland vorbereitet hat – und erahnen, was als nächstes kommen könnte. Dies ist erst der Anfang.

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