Nawalny-Freund über die Proteste in Russland - „Vielen hat Alexejs Vergiftung die Augen geöffnet“

Der russische Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa wurde zwei Mal vergiftet und überlebte. Im Interview spricht er über seinen Mitstreiter Alexej Nawalny, gezielte Sanktionen gegen das Putin-Regime, die Proteste in Russland und die Angst.  

Proteste gegen Putin: Tausende Teilnehmer wurden am vergangenen Wochenende in Russland verhaftet / dpa
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Autoreninfo

Simone Brunner lebt und arbeitet als freie Journalistin in Wien. Sie hat in Sankt Petersburg und in Wien Slawistik und Germanistik studiert und arbeitet seit 2009 als Journalistin mit Fokus auf Osteuropa-Themen.

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Wladimir Kara-Mursa, 39, ist ein russischer Oppositionspolitiker, Journalist und Vorsitzender des Fonds Boris Nemzow – Für Freiheit. 2015 und 2017 überlebte der Kremlkritiker zwei Giftanschläge in Russland. Zudem ist Kara-Mursa der stellvertretende Leiter der Organisation „Open Russia“ des ehemaligen Oligarchen und Putin-Kritikers Michail Chodorkowski.

Herr Kara-Mursa, nach der Inhaftierung des Kremlkritikers Alexej Nawalny ist es in Russland am vergangenen Wochenende zu großen Protesten gekommen, auch dieses Wochenende soll es Proteste geben. Sie sprachen zuletzt vom „Erwachen der Zivilgesellschaft.“ Sind diese Proteste wirklich anders als die Proteste zuvor?  

Die Proteste unterscheiden sich in ihrem Umfang und in ihrer Zusammensetzung von bisherigen Protesten. Alexejs Team hat es geschafft, eine landesweite Protestbewegung zu formen. Normalerweise wird nur in Moskau und Sankt Petersburg demonstriert, aber diesmal gab es Proteste in 110 Städten, von der Ostsee bis zum Stillen Ozean. Außerdem sind die Teilnehmer sehr jung. Schüler und Studenten, eine Generation, die unter Putin aufgewachsen ist. Trotz aller Repressionen und der Gefahr, verhaftet zu werden, den Studienplatz oder den Job zu verlieren, gehen sie auf die Straße.

Am 2. Februar beginnt der Prozess, in dem darüber entschieden wird, ob Nawalny mehrere Jahre hinter Gitter muss. Im Herbst finden in Russland Parlamentswahlen statt. Was erwarten Sie?  

Wenn die Staatsmacht glaubt, dass sie damit Alexej zum Schweigen bringen und seine Autorität untergraben kann, dann hat sie sich geirrt. Eine Haft wird ihn nur noch stärker und populärer machen, seine Reichweite steigern. Die meisten Diktatoren mussten nicht abtreten, weil ihre Gegner so stark sind, sondern weil sie selbst zu viele Fehler gemacht haben. Möglich, dass wir schon jetzt diese Fehler sehen. Das Putin-Regime hat sich bisher auf Repressionen und Propaganda, aber auch auf die Passivität und das Schweigen der Bevölkerung gestützt. Bis jetzt. Am Ende werden die Wahrheit und der Sieg auf unserer Seite sein.

Sie sind da natürlich sehr optimistisch, in Moskau haben laut Reuters 40.000 Menschen demonstriert. Würde es die Bewegung nicht doch stark schwächen, wenn Nawalny wirklich einige Jahre hinter Gitter müsste? 

Die Geschichte ist voll mit inhaftierten Oppositionspolitikern, Dissidenten oder Regimegegnern. Nelson Mandela war einige Jahre im Gefängnis. Sacharow verbrachte einige Jahre in der Verbannung. Hat das ihre Autorität geschmälert? Nein, im Gegenteil. Das Regime weiß auch, dass es gefährlich ist, seine Gegner ins Gefängnis zu stecken. Deswegen haben sie zuerst auch versucht, Alexej zu töten. Er hat überlebt. Dann haben sie versucht, ihn an seiner Rückreise zu hindern. Er ist zurückgekehrt. Sie hatten jetzt keine andere Wahl, als ihn einzusperren. Alle Versuche, ihn zum Schweigen zu bringen, sind gescheitert.

Fürchten Sie um Nawalnys Leben? 

Natürlich. Diese Lebensgefahr begleitet dich ständig, wenn du Oppositioneller in Russland bist. Schauen Sie sich die lange Liste derer an, die unter der jetzigen Staatsführung getötet wurde. Denken Sie an Boris Nemzow, den Führer der russischen Opposition, der am 27. Februar 2015 vor der Kremlmauer erschossen wurde, in den Rücken. Fast sechs Jahre sind seit dieser schrecklichen Nacht vergangen, und bis heute hält der russische Staat seine schützende Hand über die Auftraggeber dieses Mordes.

Sie selbst wurden zwei Mal vergiftet, 2015 und 2017. Heute pendeln Sie zwischen Washington und Moskau. Wie kann man nach solchen Erlebnissen weitermachen? 

Sie haben zwei Mal versucht, mich umzubringen. Zwei Mal lag ich im Koma. Meiner Frau haben die Ärzte gesagt: Seine Überlebenschancen liegen bei fünf Prozent. Aber ich habe überlebt und mich im Ausland auskuriert. Sobald es grünes Licht von den Ärzten gab, habe ich mich wieder in den Flieger nach Russland gesetzt. Hier, in Washington, ist meine Familie, aus Gründen, die ich Ihnen wohl nicht erklären muss. Aber den größten Teil meiner Zeit verbringe ich in Russland. Vor den Parlamentswahlen im Herbst werden wir eine Wahlkampftour durch das Land machen. Ein russischer Politiker muss in Russland sein. Das ist bei mir wie bei Alexej. Es geht nicht anders.

Haben Sie denn selbst keine Angst? 

Wenn alle Menschen, die jemals etwas verändert haben, nur an ihre persönliche Angst gedacht hätten, dann wären doch alle Diktatoren ewig an der Macht geblieben. Wenn wir immer nur Angst haben, dann wird sich nie etwas ändern. Diesen Gefallen können wir dem Kreml nicht  tun. Es ist natürlich schrecklich, vergiftet zu werden und im Koma zu liegen. Aber wir finden, dass unser Land etwas Besseres verdient hat, als ein autokratisches, kleptokratisches Regime mit einem ehemaligen KGBler an der Spitze.

Seit Jahren werben Sie mit dem „Magnitsky Act“ für gezielte Sanktionen gegen Putin-nahe Personen.  Was steht dahinter?  

Der größte Export des Putin-Regimes in den Westen sind weder Öl nach Gas, sondern die Korruption. Wenn du etwas exportierst, brauchst du auch jemanden, der das importieren will. Das funktioniert nur wechselseitig. Seit vielen Jahren sehen wir aber, dass die Staaten, die Regierungen und die Finanzinstitute im Westen ihre Augen davor verschließen und dabei helfen, die schmutzigen Gelder von Leuten aus dem Putin-Umfeld, von Beamten und Oligarchen, zu verstecken. Das ist so eine ungeheuerliche Heuchelei: Sie rauben Russland aus, verletzten jede Grundlage von Demokratie, Recht und Humanität, nutzen aber zugleich die Privilegien und Wohltaten der demokratischen und freien Welt aus. Sie haben hier ihre Häuser, ihre Bankkonten, ihre Familien und Liebhaberinnen.  

Wie soll der Magnitsky-Act konkret wirken?  

Alle Personen, die nachweislich in die Verletzung von Menschenrechten verwickelt oder korrupt sind, sollen Einreiseverbote bekommen und ihre Konten eingefroren werden. Das sind keine Sanktionen gegen die russische Wirtschaft insgesamt, sondern gegen ausgewählte Schurken, die Russland ausrauben und das Geld im Westen verstecken und die Menschenrechte in Russland verletzen. Ich bin stolz, dass dieser Mechanismus im Dezember im EU-Rat angenommen wurde. Aber es ist wichtig, dass dieses Gesetz nicht nur auf dem Papier bleibt, sondern auch umgesetzt wird. Sonst verrät der Westen seine eigenen Prinzipien.

Doch gerade in dieser Woche hat der EU-Rat entschieden, die Entscheidung über konkrete Sanktionen im Fall Nawalny erst im März zu treffen. Hat Sie das enttäuscht? 

Das ist doch leider nichts Neues. Es hat noch in allen Ländern Widerstand gegeben. Jeder will mit Putin befreundet sein. Der sowjetische Dissident Wladimir Bukowski schrieb einmal: „Die meisten Politiker im Westen ziehen es vor, ihren Frühstücks-Speck mit sowjetischem Gas zu braten, als Menschenrechte zu achten.“ In den 40 Jahren seither hat sich nicht viel verändert.

Gerade Deutschland gilt bei Sanktionen als zurückhaltend.  

Ich war im September in Berlin, als Nawalny schon in der Klinik war. Ich denke, dass die Vergiftung einen großen Eindruck auf die Deutschen gemacht hat. Als sie sahen, dass der Führer der russischen Opposition in Berlin im Koma liegt. Vielen hat Alexejs Vergiftung die Augen geöffnet, was das wirklich für ein Regime ist. Die Stimmung ändert sich. Auch im Fall von Nord Stream 2. Denn es ist schwer, etwas gegen die Wahrheit, gegen das Offensichtliche zu sagen. Das Wichtigste ist, dass es diesen Mechanismus gibt, und wenn der öffentliche Druck groß genug wird, wird sich der politische Wille durchsetzen, und es wird zu Sanktionen kommen.

Zugleich sprechen Sie immer wieder auch davon, Brücken zu Russland zu bauen. Wie soll das geschehen? 

Wir dürfen das Regime und das Land nicht verwechseln: Russland und Putin sind nicht ein- und dasselbe. Wir haben viele Menschen im Land, die gegen den Putinismus sind und die gerne in einem normalen, europäischen Land leben würden. Deswegen sollten wir Visumserleichterungen für die russischen Bürger in den westlichen Staaten einführen. Es gibt keinen größeren Widerstand gegen die Propaganda als die Realität.

Die Fragen stellte Simone Brunner. 

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