Neues Mittelalter und Eiserner Vorhang - Russlands Weg in die kulturelle Selbstisolation

Utopie und Dystopie liegen in Russland seit jeher nah beieinander. Das gilt insbesondere für die Begriffe des „Neuen Mittelalters“ und des „Eisernen Vorhangs“. Ursprünglich wurden sie von russischen Denkern geprägt, die die Exzesse der Oktoberrevolution kritisch beobachtet hatten. Angesichts der kulturellen Selbstisolation Russlands erscheinen sie heute aktueller denn je.

Telegram ist heute für viele in Russland eine der wenigen unabhängigen Informationsquellen / dpa
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Nathan Giwerzew ist Journalist in Berlin.

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Die wirtschaftlichen und politischen Sanktionen gegen Russland infolge des Ukraine-Krieges sowie seine kulturelle Selbstisolation werden in nichtoffiziellen russischen Telegram-Kanälen rege diskutiert. Es rückt dabei insbesondere die Frage in den Vordergrund, wie die aktuellen Ereignisse geschichtlich zu interpretieren sind. Ein Beispiel aus dem moderat regimekritischen Telegram-Kanal „Tolkovatel’“ („Der Interpret“): „Putin trifft sich im Kreml mit dem israelischen Premierminister Bennett. Wie ich bereits geschrieben habe, nimmt die Bedeutung Israels und der gesamten jüdischen Gemeinde in Russland dramatisch zu. Sie sind die letzte Verbindung zur Ersten Welt und das letzte Bollwerk gegen den Absturz unseres Landes in ein Neues Mittelalter. Wie ein prominentes Mitglied der jüdischen Gemeinde Russlands, Stas Belkovskij, schreibt: ,Wir beobachten und verfolgen die Situation genau.‘“

Wenn wir zunächst einmal von der Frage absehen, wie realistisch „Tolkovatel’“ die Vermittlerrolle Israels und der jüdischen Gemeinde in Russland überhaupt einschätzt – es fällt auf, dass er von einem „Neuen Mittelalter“ spricht. Was meint er damit? Und wo liegen die Wurzeln dieses Begriffs?

Die religiöse Vision des „Neuen Mittelalters“

Die Vision des „Neuen Mittelalters“ entstand ursprünglich als Reaktion auf die atheistischen Exzesse der Bolschewiki in Russland nach 1917. Geprägt hatte sie der russische Religionsphilosoph Nikolaj Berdjaev. Er hatte sich vom Sozialdemokraten zum Theologen entwickelt. Weil er schon früh den Machthunger der Bolschewiken kritisiert hatte, wurde er zusammen mit anderen namhaften Denkern 1923 auf dem „Philosophenschiff“ aus der Sowjetunion ausgewiesen.

Berdjaev befand sich bereits im Berliner Exil, als er seine Vision mit den Worten umriss: „Das Neue Mittelalter wird den Atomismus der Neuzeit überwinden. … Die Neuzeit lehnte die Hierarchie in allen Bereichen ab. Der Mensch ist aber kein Atom eines unbeseelten universellen Mechanismus, sondern Teil einer organischen Hierarchie … Wir leben in einer Zeit, in der eine freie Rückkehr zu hierarchischen Prinzipien überall unvermeidlich ist. Nur hierarchische Prinzipien zeugen von der kosmischen Harmonie des Universums. Denn auch der Kommunismus … ist hierarchisch aufgebaut. Er lehnt die formalen Freiheiten und die Gleichheitskonzepte der Neuzeit ab und entwickelt seine eigene satanische Hierarchie. Er strebt danach, eine falsche Kirche und eine falsche Synode zu sein. Und dem Kommunismus kann man nicht mehr mit den anti-hierarchischen, humanistischen und liberal-demokratischen Ideen der Neuzeit begegnen. Man kann ihm nur noch eine authentische, ontologisch begründete Hierarchie, eine echte organische Synodalität entgegensetzen.“

Wie Berdjaev es sich ausgemalt hat, sollte also das „Neue Mittelalter“ die neuzeitliche Atomisierung des Einzelnen aufheben. Es sollte ein lebensfähiges Gegenmodell sowohl zum westlichen Liberalismus als auch zum „satanischen“ Sowjetkommunismus sein. Sein Grundprinzip sollte die Synodalität werden: Sie wird im Russischen „sobornost’“ genannt. Damit ist im Russischen die geistliche Gemeinschaft aller Gläubigen gemeint, die die orthodoxe Kirche zwar hierarchisch, aber dennoch auf freiwilliger Basis organisieren und ihre Mysterien hüten.

Das „Neue Mittelalter“ als real gewordene Dystopie

Mit dem, was der Telegram-Blogger Tolkovatel’ unter dem „Neuen Mittelalter“ versteht, hat Berdjaevs Vision freilich wenig zu tun. Denn allein schon die Geschichtsepoche des Mittelalters bewerten beide offenbar komplett unterschiedlich. Der slawophile Religionsphilosoph Berdjaev assoziiert mit dem russischen Mittelalter eine Zeit der kulturellen und geistigen Blüte, in der jeder gläubige Mensch im Einklang mit der „kosmischen Harmonie des Universums“ gelebt haben soll. Der eher in Richtung Westen orientierte Blogger malt sich das russische Mittelalter eher als das Gegenteil dieser Vision aus. Für ihn ist es eine Zeit der geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Armut Russlands gewesen, eine Epoche der politischen Despotie und der Korruption.

Das Mittelalter war für Russland schließlich auch eine Zeit der Fremdherrschaft: 300 Jahre lang lebte das Moskowiter Fürstentum unter mongolischer Besatzung, entrichtete der Goldenen Horde Tribut und agierte als deren Steuereintreiber. Was dementsprechend Tolkovatel’ zuallererst fürchtet, ist eine neue Abhängigkeit Russlands von China: „In den 1990er Jahren glaubten die russischen Staatsfunktionäre naiv, dass Amerika uns erlösen würde. Jetzt glaubt man blauäugig, dass China uns retten wird“, heißt es in einem Telegram-Post.

Das Ende aller freien Medien

Ein weiterer zentraler Aspekt dieses „Neuen Mittelalters“, das über Russland hereinbricht, darf hier nicht unerwähnt bleiben: vor allen Dingen die mediale Isolation, in die sich Russland selbst hineinmanövriert hat. Infolge einer besonders strengen Militärzensur sind die Tage der Meinungs- und Pressefreiheit in Russland gezählt.

Die Liste aller Fernseh- und Radiosender, Auslandskanäle und Zeitungen, die in den letzten Tagen in Russland ihren Betrieb einstellen mussten, ist sehr lang. Von Telekanal Dožd’ bis hin zu Echo Moskvy, Meduza oder Radio Free Europe ließe sich die Liste lang fortführen. Auch die Redaktion der Novaja Gazeta hat sich entschlossen, für einen unbestimmten Zeitraum die Berichterstattung einzustellen. In einer öffentlichen Stellungnahme erklärte der Nachrichtenredakteur Nikita Kondrat’jev, wie es zu dieser schwerwiegenden Entscheidung kam. Wer „bewusst Falschinformationen“ über die „Spezialoperation“ der russischen Streitkräfte in der Ukraine verbreite, so Kondrat’jev, habe in Russland mit bis zu 15 Jahren Lagerhaft zu rechnen. Der Rahmen für das, was in Russland als „bewusste Falschinformation“ verstanden wird, ist absichtlich weit gesteckt worden. Allein schon von explizit von einem „Krieg“ zu sprechen ist strafbar, von Begriffen wie „Angriffskrieg“ oder „Invasion“ ganz zu schweigen.

Und die Verbotsliste reicht noch weiter. O-Ton Kondrat’jev: „,Bewusst falsche‘ Informationen sind Daten über Gefangene, getötete Menschen und den Beschuss von Zivilisten in der Ukraine. Wir werden aufgefordert zuzugeben, dass nichts von alledem geschehen ist. … Sobald die militärischen Zensurgesetze in Kraft treten …, müssen wir leider auf die Veröffentlichung von Zusammenfassungen von den Fronten verzichten. Wir werden nicht mehr in der Lage sein, wahrheitsgemäß über die Kämpfe in der Ukraine zu berichten und beiden Seiten das Wort zu erteilen. Wir werden den Beschuss der Städte des Bruderlandes vorübergehend vergessen müssen. Wir werden wieder einmal – vorübergehend – das Schicksal unserer Soldaten, unserer Kameraden, vergessen müssen, die sich oft gegen ihren Willen in Krisengebieten befinden.“

Selbstzensur als Überlebensgarantie

Dass Kondrat’jev im Namen seiner Kollegen erklärt, in Russland bleiben zu wollen, muss vor diesem Hintergrund bemerkenswert erscheinen. Schließlich müssen gerade die Journalisten der Novaja Gazeta um die Risiken der Kriegsberichterstattung in Russland wissen: Eines der ersten Opfer Putins war Anna Politkovskaja, eine Journalistin der Novaja Gazeta, die 2006 wegen ihrer kritischen Berichterstattung im Tschetschenien-Krieg im Treppenhaus vor ihrer Wohnung erschossen wurde. Mangels verfügbarer Flugtickets verlassen viele Journalisten Russland zurzeit auf dem Landweg – trotz bestehender Finanzsanktionen und strikter Zollbeschränkungen. Die Mitarbeiter der Novaja Gazeta haben sich aber fest entschlossen zu bleiben. Und vermutlich weil sie strafrechtliche Konsequenzen fürchten, löschen die Redakteure der Novaja Gazeta zurzeit alle Online-Berichte, in denen die Schlagwörter „Krieg“ oder „Invasion“ auftauchen, von der Website ihrer Zeitschrift.

Dieselbe Art der Selbstzensur empfahl am Samstag der Telegram-Blogger Il’ja Krasil’ščik allen Menschen, die in Russland bleiben wollen oder das Land nicht verlassen können. Er selbst hatte zuvor Zoom-Gespräche mit Ukrainern online gestellt, die vom Krieg betroffen sind. Wie er am Samstag ausgeführt hatte, sind neben „Falschmeldungen“ über den Krieg auch Aufrufe zu seiner Beendigung oder der Ruf nach Sanktionen neuerdings strafbar. Er schrieb auf seinem Kanal: „Was die Strafverfolgung angeht, erstreckt sich die Zuständigkeit auf alle Posts, einschließlich der früher veröffentlichten Posts ... Ich empfehle daher: Überprüft eure sozialen Netzwerke in den letzten 10 Tagen, löscht umstrittene und fragwürdige Social Media. Überprüft auch die sozialen Netzwerke eurer Freunde und Familienmitglieder. … Beobachtet, wie in welchem Ausmaß das Gesetz durchgesetzt wird, und entscheidet dann, wie und was ihr in den sozialen Netzwerken schreibt.“ Wie er in einem längeren Statement erklärt hat, hat Il’ja Krasil’ščik am Montag Russland verlassen. Darin heißt es unter anderem: „Wir haben unsere Koffer gepackt, sind in den Flieger gestiegen, und unsere warmen, festen Häuser gehören uns nicht mehr. Wir haben uns ein Leben aufgebaut, und es stellt sich jetzt heraus, dass es keines mehr gibt.“

Soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter sind in Russland bereits gesperrt worden. Auch diverse Auslandssender stellen ihren Betrieb in Russland ein, so etwa BBC, die Deutsche Welle, ARD oder ZDF. Und zu allem Überfluss plant Russland auch noch, zum 11. März eine noch strengere Internetzensur einzuführen, um – ähnlich wie China – eine Art nationales Intranet aufzubauen, das in Russland an die Stelle des globalen Internets treten soll. Für westliche Beobachter stellt sich daher zwangsläufig die Frage: Wie können Russen, die sich unabhängig informieren wollen, die staatlich verordnete Informationsblockade durchbrechen?

Restaurant-Rezensionen, VPN-Server und Telegram-Kanäle als Informationsquellen

In den westlichen Medien war zuletzt oft davon die Rede, dass Informationen über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine bisweilen in Google-Restaurantrezensionen untergebracht werden. In der Regel werden darin Lokale auf russischem Staatsgebiet (und vor allem in Moskau) neben einer Sterne-Bewertung mit einer Beschreibung versehen. Wie Der Spiegel berichtet, hatte das Hacker-Netzwerk Anonymous dazu aufgerufen. Das ist aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Denn das Zauberwort für alle regimekritischen und internetaffinen Russen heißt Virtual Private Network, kurz: VPN.

Das Funktionsprinzip von VPN-Servern ist simpel. Mit ihrer Hilfe lässt sich simulieren, dass der User sich in einem anderen Land befindet. Mit einem VPN-Server kann man so beispielsweise aus Deutschland auf Inhalte zugreifen, die hier gesperrt, aber in den USA frei verfügbar sind. Und man kann umgekehrt aus Russland Inhalte empfangen, die der Zensur unterliegen. Dazu gehören etwa ukrainische Telegram-Kanäle, die über den Verbleib gefangener oder im Kampf getöteter russischer Soldaten aufklären.

„Išči svoich“ heißt ein ukrainischer Telegram-Kanal, der über 800.000 Follower hat. Zu Deutsch: „Suche die Deinen“. Wer auf der Suche nach einem männlichen Freund oder Verwandten ist, der in der Ukraine als verschollen, gefangen oder tot gemeldet wurde, kann mithilfe eines Formulars die Datenbank des Kanals durchsuchen. Oder wenn man hartgesotten ist, kann man auch auf die unzensierten Bilder der Soldaten zugreifen, die leblos aufgefunden wurden (oft mit dem Kommentar „nicht identifiziert“). Auf „Išči svoich“ werden Soldaten fotografiert oder auf Video aufgenommen, die es mit einigem Glück lebend aus dem Kampf herausgeschafft haben oder aber in ukrainische Gefangenschaft geraten sind. Oft sind auch Fotos der Abzeichen oder der Pässe von getöteten russischen Soldaten zu finden – in der Hoffnung, dass die Familie des Getöteten die Dokumente anfordern könnte. Auch wenn die Videoaufnahmen gegen die Genfer Konvention verstoßen, die die öffentliche Vorführung von Kriegsgefangenen verbietet, ist dieser Telegram-Kanal für deren Angehörige oft die einzige Möglichkeit, die offizielle Informationssperre zu umgehen.

Aus Rücksicht auf die Leser haben wir diesen Kanal hier nicht verlinkt. Dennoch ist es wichtig, auch die toten Soldaten zu dokumentieren. Denn Russland äschert die Soldaten mittlerweile schon vor Ort ein: Die mobilen Krematorien sollen verhindern, dass die Soldaten nach Russland – wie in allen sowjetischen oder russischen Kriegseinsätzen nach 1945 – in Zinksärgen zurückkehren. Das könnte nämlich Panik erzeugen, befürchtet man. Gerade deshalb ist der Telegram-Kanal des Öfteren von russischen Hackern attackiert worden.

Zurück hinter den Eisernen Vorhang

Der Artikel begann mit der Idee des „Neuen Mittelalters“, die in der russischen Religionsphilosophie ursprünglich eine religiöse Utopie bezeichnen sollte. Vielleicht ist es zum Schluss des Artikels passender, stattdessen eine andere, ebenfalls aus Russland stammende Metapher aufzugreifen, die von Anfang an dystopisch gemeint gewesen war: die des Eisernen Vorhangs.

In den russischen Sprachgebrauch hatte diese Metapher erstmals der religiöse Publizist und Schriftsteller Vassilij Rozanov eingeführt. Entlehnt hatte er sie der theatralischen Aufführungspraxis. Auch er beobachtete nach dem bolschewistischen Staatsstreich die zunehmende Isolation Russlands mit großer Sorge. In seinem schmalen Band „Die Apokalypse unserer Zeit“ von 1918 heißt es:

„Mit einem Klirren, einem Knarren, einem Kreischen fällt der eiserne Vorhang über die Russische Geschichte.
,Die Vorstellung ist vorbei.‘
Das Publikum hat sich erhoben.
,Es ist an der Zeit, sich die Mäntel anzuziehen und nach Hause zu gehen.‘
Wir haben uns umgesehen.
Aber es hat sich herausgestellt, dass es weder Pelzmäntel noch Häuser mehr gab.“

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