Spionage bei der Bundeswehr - Taurus-Abhöraffäre trifft Scholz in einem schwierigen Moment

Russland hat ein Gespräch von Bundeswehroffizieren zu Taurus abgehört und veröffentlicht. Der Kreml verfolgt damit zwei Ziele: Der Bundeskanzler soll in seiner ablehnenden Haltung gegenüber einer Lieferung an die Ukraine bestärkt und die Deutschen als Zauderer in Misskredit gebracht werden.

Bundeskanzler Olaf Scholz / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

So erreichen Sie Thomas Urban:

Anzeige

Eigentlich dürfte niemand in Berlin überrascht gewesen sein, als am Freitag Moskau das Protokoll einer Telefonkonferenz von Spitzenoffizieren der Bundesluftwaffe veröffentlichte. Denn dass es den Geheimdiensten des Kremls immer wieder gelingt, elektronische Kommunikationssysteme in den Nato-Staaten zu knacken, somit sensible Informationen mitzulesen oder mitzuhören, ist kein Geheimnis. Laut dem Gesprächsprotokoll haben der Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, Brigadegeneral Frank Gräfe vom Kommando Luftwaffe in Berlin sowie zwei Stabsoffiziere die mögliche Übergabe von Marschflugkörpern des Typs Taurus an die Ukraine sowie deren Einsatzmöglichkeiten erörtert.

Margarita Simonjan, die Chefpropagandistin des Kremls, stellte die Übersetzung in das soziale Netzwerk vk.com, das russische Gegenstück zu Facebook. Simonjan erklärte, sie habe zunächst in Berlin um eine Stellungnahme gebeten, da ihre Bitte ignoriert worden sei, habe sie den Text veröffentlicht. Deutsche Experten stellen seine Echtheit nicht in Frage.  

Abhöraffäre ist peinlich für die Bundeswehr und Bundesregierung

Dass ein Gespräch, dessen Inhalt strengster Geheimhaltung unterliegen sollte, so leicht abgehört werden konnte, ist nicht nur für die beteiligten Generäle äußerst peinlich, sondern auch für die gesamte Bundeswehr und die Bundesregierung. Vor allem aber trifft die Publikation durch den Kreml Bundeskanzler Olaf Scholz in einem überaus schwierigen Moment: Wegen seiner Weigerung, der bedrängten Ukraine die Taurus-Rakete zu liefern, sieht er sich nicht nur heftiger Kritik von Seiten der grünen und liberalen Koalitionspartner ausgesetzt, sondern auch offenen Attacken aus Großbritannien und Frankreich. Überdies hat das Europa-Parlament in der vergangenen Woche den Bundeskanzler aufgefordert, grünes Licht für die Taurus-Lieferung zu geben.

Das Gespräch enthält keinerlei Informationen, die den Russen nicht längst bekannt sein dürften. Üblicherweise machen Regierungen keine Mitteilungen über Abhöraktionen ihrer Geheimdienste, denn man begäbe sich sonst der Möglichkeit, noch mehr aus den angezapften Quellen zu erfahren. Die Publikation des Protokolls belegt, dass Putins Generäle sehr wohl den Einsatz der Taurus fürchten, sie könnte den russischen Nachschub empfindlich beeinträchtigen. Gleichzeitig ist der Zweck offensichtlich: Der Bundeskanzler soll in seiner ablehnenden Haltung bestärkt werden, gleichzeitig sollen die Deutschen als Zauderer und Blockierer in den Augen der anderen Nato-Staaten in Misskredit gebracht werden.

Scholz hat westliche Verbündete schwer brüskiert

Scholz hatte seine Ablehnung mit dem Risiko für Deutschland begründet, Kriegspartei zu werden. Er bezog sich damit auf die Vereinbarung unter den Unterstützerländer, dass die von ihnen gelieferten Waffensysteme nur Ziele in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine erreichen, auf keinen Fall aber russisches Staatsterritorium beschießen dürfen. Eine eigentlich naheliegende Diskussion, warum überhaupt die Ukrainer nicht die Orte angreifen sollen, von denen sie permanent mit Raketen beschossen werden oder von denen russische Bomber starten, ist in Berlin tabu. In Moskau ist man hoch erfreut darüber, sieht aber trotz der Beteuerungen des Kanzlers die Deutschen längst als Kriegspartei.

Nach Scholz’ Darstellung kann nur deutsches Personal die Zieleinrichtung der Taurus, die mit einer Reichweite von 500 Kilometern Kommandozentralen, Munitionslager und Militärflugplätze im russischen Hinterland treffen könnte, so programmieren, dass diese Vorgaben eingehalten werden. Die Bundesrepublik aber werde auf keinen Fall Soldaten in die Ukraine abstellen. Dann sagte der Kanzler einen Satz, den man ihm in London und Paris überaus übelnimmt: „Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden.“ Er bestätigte auf diese Weise nämlich ungewollt die Version, dass britische und französische Spezialisten entgegen den Darstellungen ihrer Regierungen den Ukrainern sehr wohl unmittelbar aktiv Hilfe leisten.

 

Passend zum Thema: 

 

Scholz hat somit unbedacht eine geheime Information ausgeplaudert und die Verbündeten schwer brüskiert, da diese offiziell ebenfalls darauf beharren, keine Kriegspartei zu sein. Der frühere britische Verteidigungsminister Ben Wallace sagte über ihn: „Der falsche Mann am falschen Ort zur falschen Zeit.“ Dass man auch in Paris Scholz für einen unsicheren Kantonisten hält, hatte erst vor wenigen Tagen Staatspräsident Emmanuel Macron unverblümt zu erkennen gegeben, ohne die Bundesregierung beim Namen zu nennen, sprach er von denjenigen, die anfangs die bedrohte Ukraine nur mit „Schlafsäcken und Helmen“ unterstützen wollten. Die französische Presse erinnerte erneut daran, dass es ja die grob fahrlässige Russland-Politik Berlins war, die Putin jahrelang den Eindruck vermittelt hatte, er könne die Ukraine ohne großes Risiko angreifen.

London und Paris haben Kiew Marschflugkörper der Typen Storm Shadow und Scalp zur Verfügung gestellt, deren Reichweite 300 Kilometer beträgt. Nicht nur der Vorsitzende des Europa-Ausschusses des Bundestags, der Grüne Anton Hofreiter, hat in beispielloser Weise Scholz vorgeworfen, im Falle der Taurus „erkennbar die Unwahrheit zu sagen“, sondern auch britische Parlamentarier und französische Militärexperten tun dies: Deutsche Experten seien keineswegs für deren Bedienung erforderlich.

Kertsch-Brücke wurde als mögliches Ziel im Telefonat genannt

Dies ist der Punkt, der auch dem abgehörten Gespräch der vier Offiziere der Luftwaffe Brisanz verleiht. Denn sie erörtern Pläne zur Ausbildung ukrainischer Experten für die Bedienung der deutschen Marschflugkörper. Brigadegeneral Gräfe sprach von vier Monaten; einer der Fachoffiziere meinte, die Ausbildung ukrainischer Spezialisten, die bereits Erfahrung mit anderen Typen von Lenkraketen hätten, sei sogar in vier Wochen möglich. An keiner Stelle ist in dem Telefonat davon die Rede, dass nur deutsche Spezialisten den Taurus bedienen könnten oder sollten.

Als mögliches Ziel von Attacken durch den Marschflugkörper wurde die Kertsch-Brücke genannt, die 19 Kilometer lange Verbindung von der russischen Region Krasnodar durch das Schwarze Meer zur Halbinsel Krim, die Kremlchef Wladimir Putin am Steuer eines Lastwagens 2018 persönlich eröffnet hat. Einer der Offiziere äußerte sich aber skeptisch dazu: Um die Brücke als Nachschubweg für die russischen Besatzer dauerhaft auszuschalten, seien nicht zehn, sondern wohl eher 20 Taurus erforderlich. 

Anlass der Viererkonferenz war demnach der Auftrag von Verteidigungsminister Boris Pistorius, ein Konzept für den Fall zu entwerfen, dass der Bundeskanzler seine Position doch noch ändert. Eingehend erörterten die Vier die Vorgabe, bei ihren Planungen keinesfalls die von Berlin gezogene „rote Linie“ zu überschreiten: Die Bundeswehr beteiligt sich nicht aktiv am Kriegsgeschehen, sie wird auch keine Spezialisten auf ukrainisches Territorium schicken, wie man es offenbar den Amerikanern unterstellt. Gerhartz sagte laut dem Protokoll, das indes nur auf Russisch vorliegt: „Es ist schließlich bekannt, dass es dort viele Leute in Zivil gibt, die mit amerikanischem Akzent sprechen.“

Moskauer Propagandisten arbeiten sich an dem Leak ab

Die Moskauer Propagandisten arbeiteten sich besonders an einem anderen Satz des Drei-Sterne-Generals ab: „Wir führen jetzt einen Krieg, in dem viel mehr moderne Technologien genutzt werden als in der guten alten Luftwaffe.“ Es ist ein offenkundiger Verstoß gegen die Sprachregelung, dass die Deutschen keine Kriegspartei sind; auch Außenministerin Annalena Baerbock war es im Januar 2023 so über die Lippen gekommen, in einer Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Gerhartz ist seit sechs Jahren der Chef der Luftwaffe. Er gilt nicht nur als effizienter Manager, unter dessen Ägide sich die Einsatzbereitschaft des Fluggeräts signifikant verbessert hat, sondern auch als Kenner der ukrainischen Möglichkeiten: In jungen Jahren wurde er an einer aus DDR-Beständen übernommenen sowjetischen MiG-29 ausgebildet, die das Standardkampfflugzeug der Ukrainer ist.

Die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa nannte das Gesprächsprotokoll einen Beleg dafür, „dass der hybride Krieg, den der Westen entfesselt hat, in vollem Gange ist“. Ihr Chef, Außenminister Sergej Lawrow, sprach von „hinterlistigen Plänen der Bundeswehr“, das Gespräch der vier Offiziere sei eine „schreiende Selbstentlarvung“. Der frühere Präsident Dmitri Medwedew erklärte auf der Plattform X: „Unsere historischen Gegner, die Deutschen, sind zu unseren Erzfeinden geworden.“ Sie würden Raketenangriffe auf „unser Mutterland“ planen, gleichzeitig aber behaupten, an dem Konflikt nicht beteiligt zu sein. Medwedew schloss mit dem Satz: „Die Ära des Zweiten Weltkriegs ist wieder relevant: Tod den Faschisten!

Das Verteidigungsministerium in Berlin hüllte sich bislang in Schweigen über mögliche Konsequenzen für die Teilnehmer des Vierertelefonats. Offenkundig haben sie gegen Dienstvorschriften verstoßen, als sie nicht über verschlüsselte Verbindungen, sondern über die leicht zu knackende Plattform Web.ex telefonierten. Immerhin hat die Causa auch etwas Gutes: Bundesregierung und Bundeswehr werden sich in Zukunft besser gegen elektronische Eindringlinge wappnen.

Anzeige