Russische Geländegewinne in der Ukraine - Die tiefe Schlacht

Nach anfänglichen Niederlagen führt Russland seinen Krieg gegen die Ukraine inzwischen weitaus erfolgreicher. Das liegt insbesondere daran, dass die Invasoren anfangs starr ihrer Militärdoktrin gefolgt sind – und mittlerweile dazugelernt haben. Dennoch ist der weitere Verlauf der Kampfhandlungen kein Selbstkäufer, denn auch die Ukrainer haben Erfahrungen gesammelt.

Ein zerstörter russischer Panzer steht am Straßenrand in der Nähe von Huljajpole im Südosten der Ukraine / picture alliance
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Die Stadt Lyssjansk ist an Russland gefallen, das damit die vollständige Kontrolle über die abtrünnige Region Luhansk übernommen hat. Russische Streitkräfte haben auch fast das gesamte benachbarte Donezk besetzt – die andere Region, die der Kreml zwei Tage vor Beginn seiner Invasion als unabhängig anerkannt hatte. Russland hat nun die Wahl, diesen Gewinn als Höhepunkt des Krieges zu akzeptieren. Oder den „vollständigen Sieg“ anzustreben, also die Einnahme der gesamten Ukraine. 

Bevor wir diese Option in Betracht ziehen, müssen wir den konzeptionellen Rahmen verstehen, der Russlands ursprünglichem Plan zugrunde lag.

Alle Streitkräfte folgen einer Doktrin. Die Doktrin legt fest, wie Kriege zu führen sind. In den Vereinigten Staaten hieß die Doktrin während des späten Kalten Krieges „AirLand Battle“ (Luft-Land-Schlacht), die ein kombiniertes Waffensystem für Angriff und Verteidigung vorsah, das als eine einzige Streitkraft unter einheitlichem Kommando operierte. Die Chinesen verfolgten die Doktrin der aktiven Verteidigung, die vorsah, dass der Feind ständig angreift, während die chinesischen Streitkräfte ihn in den meisten Bereichen eindämmen und bei sich bietenden Gelegenheiten Angriffe durchführen. 

In jeder Armee gibt es viele Konzepte, von denen die meisten wenig aussagekräftig sind. Das grundlegende Gefechtsmodell bestimmt die Art der zu beschaffenden Waffen, die richtige Zusammensetzung der Streitkräfte, die Ausbildung, die sie erhalten – und so weiter. Es gibt Doktrinen für einen ganzen Schauplatz und für viel kleinere Einheiten. Alle müssen im Kriegsfall zu einer einzigen Kampftruppe zusammengeführt werden.

„Deep Battle“

Die russische Doktrin, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelt wurde, heißt „Deep Battle“. Sie sieht den Kampf auf jeder Ebene der Kriegsführung vor. Das Ziel ist es, so tief und so schnell wie möglich gegen den Feind vorzudringen. Dazu bedarf es einer intensiven Koordinierung auf allen militärischen Ebenen und auch zwischen den jeweiligen Ebenen. In der Ukraine sollte „Deep Battle“ die allgemeinen Operationen in jedem Einsatzgebiet koordinieren (und in den jeweiligen Einsatzgebieten musste die Schlacht auf so kleinen Ebenen wie Bataillonen geführt werden). Die „Tiefe“ der Doktrin hängt nicht nur davon ab, wie weit gegen den Gegner vorgegangen werden kann, sondern auch davon, wie tief die Führung erfolgt.

„Deep Battle“ ist sehr vielversprechend, wenn die Informationen schnell zur nächsthöheren Führungsebene gelangen. Die russische Armee ist in diesem Zusammenhang gewissermaßen ein Vorschlaghammer. Wenn nun aber Koordinierung, Absprache und Führung nicht funktionieren – und der Schlüssel dazu ist die Kommunikation, die in einer Schlacht notorisch zu spät oder falsch erfolgt –, geht der Hammerschlag nach hinten los: „Deep Battle“ verwandelt sich dann in ein zentralisiertes und ineffizientes Kommandosystem, in dem die oberste Führungsebene die Realitäten auf der unteren Ebene nicht mehr überblicken kann.

 

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Der erste Angriff auf die Ukraine folgte dem „Deep Battle“-Konzept. Dabei wurden die um Panzer herum aufgebauten Streitkräfte in drei Stoßrichtungen gelenkt und stießen von Norden in Richtung Kiew, von Süden in Richtung Odessa und ein kurzes Stück in den Donbass im Osten vor. Die ursprünglichen Befehle schienen unabhängig von den aktuellen Ereignissen einfach weiter zu gelten; die nördliche Truppe etwa blieb auf einer Straße stecken und verharrte dort tagelang, ohne dass die Befehle korrigiert wurden. Diese Truppe sollte wahrscheinlich die aus dem Osten kommende Truppe unterstützen. 

Panzer verbrauchen schnell Treibstoff, selbst im Leerlauf, und die Logistik gab entweder keine neuen Befehle aus (oder diese konnten nicht ausgeführt werden). Anstatt einer geplanten einzigen großen Schlacht entstanden drei getrennte Operationsgebiete ohne einen integrierten Schlachtplan. Der Informationsfluss wurde unterbrochen, als die Infanterie in stark verteidigte Städte eindrang und nicht wusste, welche Kräfte ihr gegenüberstanden. Die Führungsebene hatte weder Gefechtsinformationen über den Feind noch kannte sie die logistischen Gegebenheiten oder die Gefechtsberichte – und behielt dennoch die Zügel fest in der Hand. Das war „Deep Battle“ in seiner schlimmsten Form.

Drei Schauplätze

Doch die russische Seite machte rasch Fortschritte. Zunächst wurden die drei Zonen unterschiedlich behandelt. Die nördliche Kampfgruppe, die aus Weißrussland kam, wurde angewiesen, sich zurückzuziehen und möglicherweise Kräfte in die Hauptschlacht im Osten zu schicken. Dasselbe galt für den südlichen Vorstoß. Alle Ressourcen gingen an die dritte Gruppe, die Luhansk eingenommen hatte. „Deep Battle“ galt fortan für die einzige entscheidende Gruppe, die die Ukrainer in Luhansk besiegte. Anstatt den Krieg als eine einzige Schlacht zu führen, wurde das ursprüngliche Konzept in drei Schauplätze aufgeteilt, wobei ein Gebiet eingenommen wurde und wahrscheinlich alle wesentlichen Kräfte für den südlichen Vorstoß eingesetzt wurden.

„Deep Battle“ ist nicht als Konzept gescheitert, sondern in der Ausführung. Die jetzt bevorstehende Schlacht ist für die russische Seite weniger kompliziert, der Vormarsch auf Odessa dürfte weitgehend planmäßig erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass der Oberbefehlshaber die Gefechtslage besser überblickt (und somit auch die erforderlichen Befehle erteilen kann), wenn er nur einen einzigen Schauplatz im Blick haben muss – anstatt drei.

Dennoch ist es alles andere als ausgemacht, dass Russland den Krieg gewinnt. Die Konzentration auf den Donbass hat den ukrainischen Streitkräften eine dringend benötigte Ruhepause verschafft und ihnen neue Waffen (und eine dafür nötige Ausbildung) beschert. Soldaten, die bereits Erfahrungen auf dem Schlachtfeld gesammelt haben, sind außerdem weitaus besser zu trainieren als die Neulinge, die Russland am Anfang gegenüberstanden. 

Russland bewegt sich nun auf seinen nächsten Einsatzort zu, mit Truppen und Offizieren, die Niederlage und Sieg erlebt haben. Sie sehen sich einer großen, motivierten und kampferprobten ukrainischen Armee mit schweren neuen Waffen gegenüber. „Deep Battle“ hat die erste Bewährungsprobe nicht bestanden, aber die Doktrin bekommt eine zweite Chance beim Kampf gegen einen Feind, der in kleinen Gruppen mit strategischer Ausrichtung operiert, dessen Taktik aber auf viel niedrigeren Ebenen basiert: gewissermaßen eine Doktrin der „diffusen Autorität“. Militärexperten werden mit Interesse beobachten, wie es weitergeht.

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