Führungsversagen in Moskau - Regime Change in Russland?

Folgt auf Putins strategischen Fehlschlag in der Ukraine ein Machtkampf um den Kreml? Präsident Bidens Warschauer Grundsatzrede lässt erkennen, dass über Szenarien nachgedacht wird, in denen es nicht nur um das Schicksal der Ukraine, sondern um die Zukunft Russlands geht.

„Dieser Mann darf nicht bleiben“, sagte Joe Biden in Warschau. Aber was soll nach Putin kommen? / dpa
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Autoreninfo

Hans-Ulrich Seidt war deutscher Botschafter in Afghanistan (2006–2008) und in Südkorea (2009–2012). Er war von 2014 bis 2017 Chefinspekteur des Auswärtigen Amts und leitete von 2012 bis 2014 die Abteilung für Auswärtige Kulturpolitik und Kommunikation des AA in Berlin. Aktuell ist er Fellow des Liechtenstein Institute on Self-Determination der Princeton University und Stiftungsbeirat des Schweizer Afghanistan Instituts/Bibliotheca Afghanica.

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Die „historische Einheit der Russen und Ukrainer“, vom russischen Präsidenten im Juli 2021 programmatisch zur Grundlage seines politischen Denkens und Handelns erklärt, liegt unter den Trümmern ukrainischer Städte begraben. Putin hat den Krieg begonnen und sein Ziel verfehlt. Er trägt die Verantwortung für die zahllosen zivilen und militärischen Opfer auf ukrainischer, aber auch auf russischer Seite.

Moskaus Armee kämpft in einem blutigen Abnutzungskrieg. Obwohl die „operative Kunst“ im Mittelpunkt der russischen Generalstabsausbildung steht, sind seit Beginn der Kampfhandlungen schwerwiegende Planungsfehler im Transport- und Fernmeldewesen unübersehbar. Überraschende Defizite bei der Aufklärung der ukrainischen Verteidigungsbereitschaft kommen hinzu. Ein Beispiel mag genügen: Bereits im Herbst 2020 erwies sich während des aserbeidschanisch-armenischen Konflikts die türkische Drohne Bayraktar TB2 als kriegsentscheidend. Sie wurde in den vergangenen Wochen auch von der ukrainischen Armee wirkungsvoll genutzt. Dem russischen Generalstab musste die Lieferung dieses Waffensystems an Kiew bekannt sein, schließlich ist sein türkischer Entwickler und Hersteller Selcuk Bayraktar nicht nur ein Alumnus des weltbekannten Massachusetts Institute for Technology (MIT) in Boston, sondern auch ein Schwiegersohn des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Wer bei der operativen Planung eines Angriffskrieges den möglichen Einsatz eines bewährten Waffensystems durch den Gegner vernachlässigt, darf sich über hohe Verluste auf dem Schlachtfeld nicht wundern.

Putin ist verwundbar

Die Folgen politischen und operativen Versagens in Moskau sind nicht absehbar. Aussagen zur Positionierung führender Vertreter der russischen Diplomatie, Armee und Nachrichtendienste bleiben Spekulation. Doch nehmen seit Wochen die Unruhe und Nervosität im russischen Machtzentrum zu. Putin ist verwundbar. Der spektakuläre Fernsehprotest einer von deutschen Medien als „Mutig-Marina“ bezeichneten Dame, die nicht über das klassische Profil einer Bürgerrechtlerin verfügt, oder die „technische Panne“ bei der Übertragung des Präsidenten-Auftritts im Luschniki-Stadion sind ohne Anregung und Hilfestellung einflussreicher Dritter kaum denkbar. Parlamentsabgeordnete der Kreml-Partei „Geeintes Russland“ dürfen ohne Sondergenehmigung das Land nicht mehr verlassen. Verteidigungsminister Sergei Schoigu verschwand aus der Öffentlichkeit.

Eine Personalie verdient besondere Aufmerksamkeit. In der vergangenen Woche setzte sich Anatoli Tschubais, Putins Sonderbeauftragter für die Beziehungen zu internationalen Organisationen, ins Ausland ab. Als junges Mitglied der KPdSU gehörte er während der Perestroika zum Kreis um den Reformer Jegor Gaidar. Nach Gorbatschows Sturz erwies sich der gelernte Ökonom als ausgesprochen wendig. Tschubais unterstützte in Leningrad Anatoli Sobtschak, den akademischen Lehrer und politischen Förderer Wladimir Putins. Anschließend organisierte er unter Boris Jelzin gemeinsam mit Gaidar jene „Schocktherapie“, in deren Verlauf sich machthungrige Persönlichkeiten die Ressourcen der sowjetischen Zentralverwaltungswirtschaft aneignen konnten. Gleichzeitig verarmte die Masse der russischen Bevölkerung. Einige Jahre jünger als Putin, wird Tschubais von vielen als Liberaler und „Architekt postkommunistischer Reformen“ bezeichnet. Tatsächlich aber bewegte er sich seit dem Kollaps der Sowjetunion unter Jelzin und Putin in einem Umfeld, in dem die Grenzen politischer Einflussnahme, skrupelloser Bereicherung und organisierter Wirtschaftskriminalität fließend waren und sind.

Die entscheidende geopolitische Frage des 21. Jahrhunderts

Diese schwer zu überblickende Machtsphäre ist nicht nur in Russland das Spielfeld einflussreicher Oligarchen. Vergleichbare politische, ökonomische und mediale Netzwerke lassen sich auch in der Ukraine Wolodymyr Selenskyjs finden. Bei einem möglichen Machtwechsel in Moskau ist mit ihnen zu rechnen. Als mächtige nichtstaatliche Akteure nehmen sie ihre Interessen mindestens ebenso nachdrücklich wahr wie führende Vertreter der russischen Nachrichtendienste. Schließlich bietet ihnen der Krieg in der Ukraine auch Chancen: Internationale Lieferketten lösen sich auf, Finanz- und Handelsströme werden umgesteuert, neue Wege der Energieversorgung werden erkundet. Es geht nicht nur um die Umgehung von Wirtschaftssanktionen, sondern auch und nicht zuletzt um die Aneignung und Nutzung zusätzlicher Ressourcen.

Bereits im Vorfeld des Brüsseler Nato-Sondergipfels hatten in Washington und London, dem bevorzugten Domizil mancher Oligarchen, einflussreiche Stimmen die Beendigung des Ukraine-Krieges durch einen Regime Change in Russland verlangt. Think Tanks und Medien veröffentlichten entsprechende Szenarien. Sie erwähnten zwar die Risiken, die mit einem Ende der Moskauer Autokratie verbunden sein könnten. Aber konkrete Beispiele für die destabilisierenden Folgen einer solchen Entwicklung, die nach Erfahrungen der letzten Jahrzehnte naheliegen, gaben sie nicht. Dabei sind Bürgerkriege wie nach dem Arabischen Frühling, Aufstandsbewegungen wie nach den Interventionen im Irak und in Afghanistan oder ein Zerfall der Russischen Föderation, der sich bereits unter Boris Jelzin abzeichnete, keine unrealistischen Perspektiven.

„Dieser Mann darf nicht bleiben!“ Präsident Bidens Forderung, im Hofe des Warschauer Königsschlosses erhoben, erscheint zunächst als unmittelbare, persönliche Reaktion auf das moralische und strategische Versagen des russischen Präsidenten. Aber die Verfasser seiner programmatischen Rede ließen den amerikanischen Präsidenten an einem symbolischen Ort die entscheidende geopolitische Frage des 21. Jahrhunderts stellen: Wer soll künftig über den größten Flächenstaat unseres Planeten, sein Nuklearpotential und seine Ressourcen bestimmen? Seit den Tagen Halford Mackinders beschäftigen das eurasische Herzland und die Möglichkeiten seiner Kontrolle strategische Denker jenseits des Kanals und des Atlantiks. Wer außerhalb ihrer riskanten Gedankenspiele und den Kategorien klassischer Geopolitik nach Antworten auf die wirklich drängenden Herausforderungen dieser Tage sucht, der muss jetzt alle Kanäle und Gesprächsformate nutzen, um so schnell wie möglich eine Waffenruhe in der Ukraine zu erreichen.

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