Putins Plan Teil 1 - Der erste globale Wirtschaftskrieg

Mit dem Ukrainekrieg folgt Moskau einer seit Jahren ausgeklügelten Strategie, um Europa zu schwächen und zu dominieren. Die Energieversorgung spielt darin eine tragende Rolle. Und Deutschland war das Einfallstor. Lesen Sie im ersten Teil unserer Serie „Putins Plan“, warum Russland gerade jetzt die Ukraine angreift.

Putins Invasion der Ukraine folgt einem über zwei Jahrzehnte ausgefeilten Plan / Alexander Glandien
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Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Der Krieg in der Ukraine sollte nie ausschließlich in der Ukraine stattfinden. Am 21. Februar, zu später Stunde, hielt der russische Präsident Wladimir Putin eine lange Rede, in der er im Wesentlichen dem Westen den kalten Krieg erklärte. Er machte auch deutlich, dass eine unabhängige Ukraine nicht existieren darf. Aber warum hat sich Putin entschieden, die militärische Invasion jetzt zu starten? Warum scheint Russland nicht wirklich von den Sanktionen betroffen zu sein, die der Westen verhängt hat? Auf diese Frage gibt es keine einfachen Antworten, denn die Situation ist komplex. Es lohnt sich aber, ihr auf den Grund zu gehen. 

Wir sind gerade in den ersten globalen Wirtschaftskrieg eingetreten – und das ist kein Zufall. Ich behaupte, dass die derzeitige militärische Invasion in der Ukraine nicht nur die erste größere Operation des von Russland begonnenen Wirtschaftskriegs ist. Sondern auch eine Fortsetzung der politischen Kriegsführung gegen den Westen, die Russland in den frühen 2000er Jahren begonnen hat. Das Ende der russischen Militärinvasion in der Ukraine (wenn es denn kommt) wird wahrscheinlich nicht das Ende des derzeitigen globalen Wirtschaftskriegs sein. 

Eine Frage der Geostrategie

Seit die ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer geschlossen wurden, hat Russland seine Absichten offen dargelegt. Der Westen hat daraufhin mit Wirtschaftssanktionen gegen Moskau reagiert. Machen wir uns nichts vor: Russland war von der westlichen Reaktion nicht überrascht. Moskau hat diesen Krieg vorbereitet, und Deutschland hat bei den Vorbereitungen eine Schlüsselrolle gespielt. 

Ein präzises Verständnis der russischen Strategie in Europa könnte dem Westen einige Lösungen für den Gegenschlag liefern. Wir müssen einen Schritt zurücktreten, um uns klar darüber zu werden, wie es zu dieser Situation gekommen ist – schließlich geht es bei dem Wirtschaftskrieg, an dem wir derzeit beteiligt sind, um unser eigenes Wohlergehen, um den europäischen Lebensstil, den wir seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgebaut haben. 

Russland ist aus geostrategischen Gründen in die Ukraine eingedrungen. Geografie und Geschichte verlangen, dass Russland eine Pufferzone unter seinem Einfluss behält, um sich vor dem Westen zu schützen – und die Ukraine ist ein wichtiger Staat in dieser Pufferzone. Aber warum gerade jetzt? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir das Verhältnis Russlands zum Westen – und Russlands aktuelle Situation – betrachten. 

Sehnsucht EU

Der Kreml empfindet den westlichen Einfluss im Osten, auch in Russland, als eine „moderne“, sanfte Invasion, die das russische Regime in Moskau herausfordert. Putin begann seine Karriere im Kalten Krieg. Er erinnert sich daran, dass der Westen einen besseren Lebensstandard hatte als die Sowjetunion. Diese besseren sozioökonomischen Bedingungen ermöglichten es dem Westen, den Kalten Krieg gegen die UdSSR zu gewinnen.

Die menschliche Entwicklung, die Hoffnung auf ein besseres Leben ist es, die die Länder Osteuropas in der Zeit nach dem Kalten Krieg letztlich dazu gebracht hat, sich dem Westen anzuschließen. In der kollektiven Vorstellung der Osteuropäer ist die Nato der Schutzschild gegen die russische Aggression, während die EU der sozioökonomische Garant für ein besseres, wohlhabenderes Leben ist. Dies ist der Grund, warum die Ukrainer, Moldauer und Georgier der EU beitreten wollen.

Der Geschmack der Freiheit

Darüber hinaus hat das Versprechen eines besseren Lebens die Russen dazu gebracht, ein Land zu schaffen, das den westlichen Staaten ähnelt. In den frühen 2000er Jahren dachte ein erheblicher Prozentsatz der Russen, dass die EU auch für sie eine Option sein könnte. In ihrer kollektiven Vorstellung hätte die EU Russland vor Wirtschaftskrisen (die die 1990er Jahre prägten) bewahren können. Ganz zu schweigen davon, dass die russische Jugend der frühen 2000er Jahre vom Lebensstil in der EU begeistert war und diesen zu sich nach Hause bringen (oder sogar gleich dem Westen angehören) wollte. Junge Russen sehnten sich danach, die triste, graue Atmosphäre der späten 1990er Jahre mit der bunten, hellen Welt zu tauschen, die sie auf ihren Reisen in den Westen kennengelernt hatten. 

Die Energieexporte mögen die sozioökonomische Entwicklung Russlands in den vergangenen zwei Jahrzehnten beflügelt haben – aber der russische Durchschnittsbürger weiß eher wenig über das Energiegeschäft, an dem Russland in Europa beteiligt war. Was sie wissen, ist, dass ihr Lebensstandard in den vergangenen zwei Jahrzehnten gestiegen ist. Sie konnten europäische Marken in neu gebauten Einkaufszentren sehen, die denen im Westen ähnelten. Und, was noch wichtiger ist, sie konnten sich den Kauf solcher Marken leisten. In den Großstädten war das Leben ähnlich wie im Westen.

Putins Angst vor dem Westen

Seit Russland jedoch ein Akteur auf dem Energiemarkt geworden ist, ist das Land stärker von den weltweiten Wirtschaftszyklen abhängig. Die europäische Wirtschaftskrise der 2010er Jahre ließ Moskau erschaudern. Es ist klar, dass sich die sozio­ökonomischen Verhältnisse in Russland seit Anfang der 2000er Jahre insgesamt nicht dramatisch verbessert haben – sie sind fragil geblieben. Die Unterschiede zwischen den städtischen und den ländlichen Gebieten sind nach wie vor groß, und der Kreml muss die sozialen Probleme eindämmen, um Russland stabil zu halten. 

Gäbe es keine sozioökonomischen Probleme im eigenen Land, bliebe das russische Regime unangefochten und würde sich wahrscheinlich nicht ändern. Putin weiß das sehr genau. Deshalb beunruhigt ihn nicht der wachsende westliche Einfluss in der russischen Pufferzone am meisten, sondern die Folgen, die ein solcher Einfluss in einer Zeit haben könnte, in der Russland wirtschaftlich schwach ist. Was, wenn der Westen (wieder) ein besseres Modell für wirtschaftliches Wachstum anbietet; ein Modell, das für die russische Bevölkerung (wieder) attraktiv werden könnte? Angesichts der Pandemie der zurückliegenden zwei Jahre, die die wirtschaftliche Sicherheit weiter untergraben hat, muss Putin sicherlich gedacht haben, dass die russische Stabilität infrage gestellt werden würde. Aus diesem Grund wurden für Moskau Maßnahmen gegen den Westen dringend notwendig, als sich die Pandemie ihrem Ende näherte.

Wie die USA den Kalten Krieg gewann

Um gegen den Westen vorgehen zu können, musste der Kreml jedoch genau untersuchen, was den Erfolg des Westens überhaupt ausmacht. Wie wurde der Erfolg aufgebaut? Warum war man der UdSSR überlegen? Die russischen Antworten – Putins Antworten – auf diese Fragen ermöglichen es uns, seine Strategie besser zu verstehen. Diese Fragen beziehen sich nicht auf die Geschichte, sondern auf die Art und Weise, wie die aktuellen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland gestaltet wurden. Deshalb muss ich noch ein bisschen weiter ausholen.

Um den Kalten Krieg zu gewinnen, bauten die USA ein Handels- und Investitionsnetz auf, das es ihnen ermöglichte, wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten zu schaffen – mit dem Endziel, ihren Einfluss strategisch zu vergrößern und folglich die Sowjetunion zu isolieren. Die Vereinigten Staaten waren auf der Mission, eine sichere, globalisierte Welt zu schaffen, die schwächere, aber gleichgesinnte Länder stärkte und den globalen Handel für alle förderte – nicht aufgrund ihres guten Willens, sondern weil Washington im Gegenzug die Sicherheitspolitik aller beeinflussen und lenken konnte, um Moskau besser bekämpfen zu können.

Das Ende der Sowjetunion

Der Marshallplan war der Schlüssel zur US-Strategie – er sicherte ein friedliches Westeuropa, das sich zum besten Einflussfaktor gegen die UdSSR entwickeln konnte. Westdeutschland stand im Zentrum dieser US-Strategie in Europa. Die militärische und wirtschaftliche Anbindung Deutschlands an das übrige Europa war das Schlüsselelement. Mit anderen Worten: Die USA mussten sicherstellen, dass die deutschen und französischen Interessen übereinstimmten. Gleichzeitig war die Wiederbewaffnung Westdeutschlands als Nato-Mitglied unerlässlich, um die Sowjetunion einzudämmen. Doch wenn Deutschland aufgerüstet werden sollte, musste seine Wirtschaft zum Wachstum angeregt werden. Was folgte, war das deutsche Wirtschaftswunder.

Darüber hinaus war die Schaffung des gemeinsamen Marktes, der Europäischen Gemeinschaft – die später zur Europäischen Union wurde – eine direkte Herausforderung für die UdSSR und ihr System, für die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu ihren Republiken und ihren Satelliten in Osteuropa. Die deutsche Dynamik war die beste Propaganda für den gemeinsamen Markt und die europäische Integration – weil Wachstum und Entwicklung so real waren, dass die normalen Bürger (und nicht die Statistikbehörde) sie genießen konnten. 

Als die UdSSR zusammenbrach und der Kalte Krieg endete, funktionierte der sicherheitspolitische Aspekt, den die USA als Teil ihrer Strategie des Kalten Krieges aufrechterhielten, nicht mehr. Die Nato erweiterte ihre politischen Funktionen und dehnte sich nach Osten aus, aber da die UdSSR nicht mehr existierte, verlor die Nato einen Großteil ihrer militärischen Bedeutung, und die Mitgliedstaaten hatten kein gemeinsames militärisches Ziel mehr. Globalisierung, Handel und Investitionen funktionierten jedoch weiterhin für alle, auch für Russland.

Dieser Text ist der erste Teil der Titel-Geschichte der Mai-Ausgabe des Cicero. Den zweiten Teil finden Sie hier: https://www.cicero.de/aussenpolitik/putins-plan-teil-2-deutschland-im-fadenkreuz Den dritten Teil hier: https://www.cicero.de/aussenpolitik/putins-plan-teil-3-moskau-spielt-seine-karten-aus

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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