Putins Rede zum 9. Mai - Präsidiales Opfersprech

Die Rede des russischen Präsidenten zum Gedenken an den Sieg über Nazi-Deutschland war mit Spannung erwartet worden: Würde er die Gelegenheit nutzen, um weiter zu eskalieren? Es kam anders, Wladimir Putin stilisierte sein Land zum Opfer westlicher Imperialisten. Nicht wenige werden ihm bei dieser Erzählung gern folgen.

Wladimir Putin bei der Militärparade an diesem Montag in Moskau / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Es war mit Sicherheit nicht die Rede, die er ursprünglich hatte halten wollen. Die vielerwartete Ansprache des russischen Präsidenten zum Jahrestag des Siegs im „Großen Vaterländischen Krieg“ fiel dann doch überraschend kleinspurig aus. Jedenfalls angesichts der gehegten Befürchtungen, Wladimir Putin würde den großen Auftritt an diesem 9. Mai zum Anlass dafür nehmen, die „militärische Spezialoperation“ nun auch offiziell in das umzubenennen, was sie seit dem 24. Februar ist: ein Krieg gegen die Ukraine. Auch Siegesparolen – jedenfalls mit Bezug auf die aktuelle Situation – ersparte Putin sich. Bei aller Propaganda wäre das nicht einmal vor der eigenen Bevölkerung halbwegs glaubhaft gewesen.

Putin ging auch nicht auf die einstigen Ziele der „Spezialoperation“ ein: kein Wort mehr vom Sturz der angeblich nazistischen Regierung in Kiew, kein Wort über die Einnahme des gesamten Nachbarlandes zum Zwecke einer Wiedereingliederung ins „großrussische Reich“. Stattdessen deutete der 69-Jährige den Einsatz seines Militärs als einen Abwehrkampf gegen zunächst nicht näher bezeichnete Mächte („Nato-Länder“), die eine gegen Russland gerichtete Operation im Donbass und auf der Krim geplant hätten, und zwar einschließlich der Lieferung von Nuklearwaffen. Man habe davon Kenntnis erlangt, dass „planmäßig eine Situation geschaffen“ worden sei, „die für uns inakzeptabel ist“. Putins Wortwahl zufolge handelt es sich also um eine Abwehrreaktion. Alles hätte auf einen bevorstehenden Zusammenstoß mit nazistischen „Bandera-Leuten“ hingedeutet, mit Hilfe des Auslands seien „militärische Infrastrukturen“ geschaffen worden. Die Bedrohung sei „mit jedem Tag größer“ geworden, der Überfall auf die Ukraine mithin ein „Präventivschlag“ gewesen.

Eine Kehrtwende

Es war also eine Kehrtwende von der tollkühnen Wiederherstellung des sowjetischen Imperiums hin zu einer Art Opferrolle. Putin ging im Verlauf seiner Rede dann auch direkt auf die Vereinigten Staaten als großen Widersacher ein, die nach dem Zerfall der Sowjetunion „die ganze Welt erniedrigt“ und sich selbst als „auserwählte“ Nation betrachtet hätten. Russland aber lasse sich diese „Degradierung“ nicht bieten. Tatsächlich wurde in dieser Passage noch einmal deutlich, wie sehr der Machthaber im Kreml den faktischen Verlust sowjetischer Weltmacht als eine narzisstische Kränkung empfinden muss – bestärkt durch die Tatsache, dass vermeintliche Brudervölker wie die Ukraine sich der Heimholung ins Reich partout widersetzt haben (und dies jetzt auch mit Waffen tun).

Die „Spezialoperation“ als heldenhafte Résistance gegen den imperialistischen Westen, gegen „Nazismus“ in welcher Form auch immer: das ist Putins Narrativ, das sich auf diese Weise eben auch bestens einfügt in die Geschichte und Geschichtsfortschreibung des heutigen Gedenktags. Was nicht passt, wird dafür eben passend gemacht und entsprechend patriotisch bemäntelt. Im Donbass würden „Widerstandskämpfer“ die russische Scholle verteidigen. Deswegen konnte Putin auch einen Bogen ziehen von den russischen Familien, die alle gelitten hätten unter dem „Großen Vaterländischen Krieg“, zu den Gefallenen und Verletzten der aktuellen „Spezialoperation“. Deren Familien versprach er jedenfalls großzügige Hilfsleistungen, wobei das eigentlich Bemerkenswerte darin bestand, dass er Tote und Versehrte überhaupt erwähnt hat. Bis zu 30.000 Soldaten sollen allein auf russischer Seite diesem Krieg schon zum Opfer gefallen sein – wohl zu viele, um sie beschweigen zu können.

Welches Ziel verfolgt Putin?

Jetzt stellt sich natürlich die Frage, welches Ziel Wladimir Putin mit seiner Rede verfolgt hat. War es ein Signal mehr an die eigene Bevölkerung, oder wollte er nach außen eine gewisse Verhandlungsbereitschaft zum Ausdruck bringen? Wenn Russland seiner Lesart zufolge das Opfer ist, liegt es ja am vermeintlichen Täter, den Frieden wieder herzustellen. Aber wer wäre dieser bizarren Umdeutung zufolge der eigentlich Verantwortliche für den Krieg? Offenbar weniger die Ukraine selbst als vielmehr die Vereinigten Staaten, die sich den Worten ihres Verteidigungsministers durchaus in einem Proxy War gegen Russland befinden, das Lloyd Austin zufolge ausdrücklich nachhaltig geschwächt werden soll.

Zumindest war Putins Auftritt an diesem Tag geeignet, all jene im Westen zu bestätigen, die Russland als ein Opfer einer amerikanisch-westlichen „Einkreisungsstrategie“ sehen und ihm deshalb entsprechende „Selbstverteidigung“ durchaus zubilligen. Diese Legende wird dieser Tage in Talkshows und Episteln ja mal wieder lebhaft aufgefrischt. Der Friedensfürst Putin hat jedenfalls mit seinem Opfersprech geliefert, was seine westlichen Apologeten so dringend erwartet haben, und zwar pünktlich zum 9. Mai. Da wird man das eine oder andere Massaker an der Zivilbevölkerung wohl schulterzuckend hinnehmen müssen.

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