Deutsche Linke und die Proteste im Iran - Ignorieren, Kleinreden, Schweigen

Im Iran geht die Regierung weiterhin hart gegen Protestierende vor. Menschen sterben durch Polizeigewalt. Inzwischen wurde sogar ein erstes Todesurteil ausgesprochen. Doch deutsche Grüne und Linke setzen seltsame Prioritäten, wenn sie über diese Ereignisse reden.

Iranische Frauen und Männer protestieren gegen die Mullah-Regierung / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Sarina Esmailzadeh ist 16 Jahre alt und leidenschaftlicher Borussia-Dortmund-Fan. Mit ihren kreativen YouTube-Videos hat sie sich eine respektable Reichweite erarbeitet und unterhält ihre Follower mit Yoga-Videos und kritischen Einschätzungen zur Lage der Frauen im Iran. Sie wünscht sich mehr Freiheiten: die Freiheit, kein Kopftuch tragen zu müssen; die Freiheit, in einem Fußballstadium ein Fußballspiel anschauen zu dürfen. Dinge, die für Gleichaltrige in anderen Ländern selbstverständlich sind. Sarina ist Demokratin, sie glaubt an den Erfolg von Demonstrationen, sie möchte etwas bewegen und nimmt an den landesweiten Solidaritätsdemonstrationen für die von der Sittenpolizei getötete Mahsa Amini teil. In einem ihrer letzten Videos freut sich Sarina über bestandene Schulprüfungen, „nichts fühlt sich besser als Freiheit an“, so der lebenslustige Teenager. Es sollte eines ihrer letzten Videos sein. Am 23. September wird die 16-Jährige im iranischen Karaj mit brutalen Schlägen auf ihren Kopf getötet.

Linke Parteien schreiben sich auf die Fahnen, reaktionäre Politik zu überwinden und somit weniger privilegierten Bevölkerungsgruppen soziale, kulturelle und ökonomische Gleichstellung zu ermöglichen. Die Linken und Progressiven Deutschlands haben also aktuell allen Grund zu feiern: Iranische Frauen im Iran und weltweit lehnen sich gegen das Mullah-Regime, gegen das Patriarchat, gegen die Unterdrückung der Frau auf. Iranische Männer und Minderheiten im Iran solidarisieren sich mit diesen Frauen und wünschen sich ein Ende der Islamischen Republik. Der Freiheitsruf iranischer Frauen „Jin, Jiyan, Azadi“ („Frau, Leben, Freiheit“) ist nicht nur auf iranischen Straßen und Solidaritätsprotesten weltweit zu hören, sondern aktuell einer der meistgenutzten Hashtags in den sozialen Medien. Der Aufstand der Frauen bewegt auch Intellektuelle in anderen islamischen Ländern: Sie diskutieren nun wieder vermehrt über ihre Utopien: säkulare und demokratische Staatsgründungen nach westlichem Vorbild mit einem Höchstmaß an Freiheiten für Frauen und Minderheiten.

Baerbock: Die Ereignisse im Iran haben nichts mit Religion und Kultur zu tun

Die politische Führung des Iran führt einen Vernichtungskampf gegen Frauen, Minderheiten, Homosexuelle, Oppositionelle und kündigt regelmäßig die Auslöschung Israels an. Dabei ist die gesellschaftliche Gleichstellung dieser Gruppen ein linkes Kampfziel.

Während sich liberale Frauen in der Türkei gegen das Kopftuchverbot in öffentlichen Räumen aussprachen und mit Kopftuchträgerinnen solidarisierten, denen der Zugang zur Universität versagt war, bleibt die Solidarisierung von Kopftuchträgerinnen mit anderen türkischen Frauen aus, wenn es mal wieder einen Femizid oder einen Mordversuch an einer Frau gab, weil sie ihrem Mann nicht hörig war oder gegen religiöse Vorgaben verstieß. Mehr noch: Manche Kopftuchträgerin in Deutschland empört sich in den sozialen Medien über die vermeintlich breite Unterstützung deutscher Medien für die Frauen im Iran, während sie keine Solidarisierung erfahre, weil sie als Kopftuchträgerin schlechtere Karrierechancen in Deutschland habe. Die Verhöhnung der Hunderten ermordeten jungen Menschen im Iran könnte nicht größer sein.

 

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Derweil betont Außenministerin Annalena Baerbock in einer Bundestagsrede, die Ereignisse im Iran hätten nichts mit Religion oder Kultur zu tun. Eine Behauptung, die von nicht allzu wenigen deutschen Linken in sozialen Netzwerken wiedergegeben – und von iranischen Exilanten in Deutschland missbilligt wird. Denn ist der Oberste Führer des Iran, Ali Chamenei, nicht Repräsentant des schiitischen Islams? Versteht er sich nicht als politisches und religiöses Oberhaupt der Islamischen Republik? Die Reaktionen deutscher Linker auf Proteste gegen den politischen Islam in mehrheitlich muslimischen Ländern oder Antisemitismus in muslimischen Communitys in Deutschland sind nahezu identisch: Ignorieren, Kleinreden, Schweigen. Im besten Fall folgt ein zaghaftes Befürworten der Proteste, aber keine eindeutige Positionierung gegen Fundamentalismus. Liberale Muslime, Juden und Angehörige von Minderheiten aus dem Nahen Osten fühlen sich von den deutschen linken Parteien verraten.

Wir müssen über die Toten reden

Ruhollah Chomeini, politischer und religiöser Führer der Islamischen Revolution, bezeichnete Frauen, die kein Kopftuch tragen wollten, als islamophob – ein islamistischer Kampfbegriff, der jede Kritik verhinderte. Der sogenannte „antimuslimische Rassismus“ war geboren und wird heute durch weite Teile der Linken salonfähig gemacht.

Wir müssen reden. Über die Ermordung der 16-jährigen Sarina Esmailzadeh, die starb, weil sie kein Kopftuch tragen und sich Fußballspiele anschauen wollte. Über die Ermordung von Nika Shakarami (ebenfalls 16), die von iranischen Sicherheitskräften vergewaltigt und ermordet wurde. Wir müssen über diese und Hunderte weitere Tote reden und die kulturellen und religiösen Motivation der Täter in die Diskussion miteinbeziehen, denn sonst überlassen wir die Deutungshoheit den Faschisten und Populisten. Es ist nicht die Zeit, Sozialarbeiter zu spielen. Wir müssen die Täter nicht verstehen wollen, wir müssen sie verurteilen.

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