Proteste im Iran - Where have all the young men gone?

Die Proteste im Iran halten seit mehr als zwei Monaten an. Wer die Listen der Ermordeten in dieser womöglich ersten feministischen Revolution durchsieht, muss feststellen, dass ein Großteil der Opfer männlich ist – männlich und sehr jung. Doch wer sind diese jungen Männer, die derzeit reihenweise erschossen, zu Tode geprügelt, abgeschlachtet werden?

Junge Iraner in der Stadt Arak / dpa
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Autoreninfo

Finn Job ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Im August 2022 erschien sein erster Roman „Hinterher“ (Wagenbach).

Foto: Timo Lindeman

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Ein Junge sieht in die Kamera, seine Mundwinkel deuten ein Lächeln an und können sich doch nicht entschließen, nach oben zu schnellen. Die dunklen Augen fixieren den Betrachter mit einer Entschlossenheit, die zugleich verletzlich wirkt. Das lockige Haar ist gescheitelt, er trägt einen grünen Schal, und sein Gesicht ist noch bartlos und fein.

Ein junger Koch wirbelt ein Stück Teig durch die Luft, durch den Mehlstaub, sein langes Haar wirbelt mit, doch sein Blick ruht in äußerster Konzentration auf dem fliegenden Fladen. Der Körper des Neunzehnjährigen wirkt angespannt und dennoch ruhig, seine sehnigen Arme wissen, was sie tun, und weil der Fotograf ihn im richtigen Augenblick abgelichtet hat, gefrieren seine Locken für den Betrachter zu einer gewaltigen Mähne.

Ein junger Mann tanzt um ein Feuer. Er tanzt mit den Frauen, macht die Bewegungen der Frauen, reckt die Arme in die Luft, trippelt auf und ab, wiegt seine Schultern und singt.

Schwule haben oft nur die Wahl zwischen Tod und Verstümmelung

Was haben diese Männer, diese Jungen gemeinsam? Sie alle sind schön, zartgliedrig und haben traurige Augen, sie alle sehen sehr freundlich aus, aber auch so, als hätten sie nichts zu verlieren. Es gibt noch mehr von ihnen, es gibt viel zu viele. Abends sehe ich mir auf meinem Telefon ihre Gesichter an, ihre Blicke, und frage mich, wofür sie ihr Leben gaben.

Sicher, einige von ihnen werden schwul gewesen sein. Schwule haben meistens nur zwei Optionen. Entweder sie riskieren es, an einem – oftmals deutschen – Baukran aufgehängt zu werden, oder sie lassen sich umoperieren. Wenn man die Wahl zwischen Tod und Verstümmelung hat, ist es nicht verwunderlich, dass man sein Leben für eine bessere Welt aufs Spiel setzt. Und die anderen, diejenigen, die nicht schwul waren?

Wer die Listen der Ermordeten in dieser womöglich ersten feministischen Revolution durchsieht, muss feststellen, dass ein Großteil der Opfer männlich ist – männlich und sehr jung. Doch wer sind diese jungen Männer, die derzeit reihenweise erschossen, zu Tode geprügelt, abgeschlachtet werden?

Die Bilder der Proteste, die Videos aus dem Iran sprechen eine gänzlich andere Sprache als die des arabischen Frühlings, denn die jungen Männer wirken zarter und offener und weniger verroht. Sie scheinen sich vom neuen weiblichen Selbstbewusstsein nicht verunsichern zu lassen, sie haben offensichtlich keine Angst, kastriert zu werden.

Vielleicht protestieren sie auch, weil sie sich endlich in Freiheit verlieben wollen

Eine junge Frau betritt den Bus, sie setzt sich in das Männerabteil. Sie setzt sich direkt neben einen jungen Mann und lächelt ihn an, während ihr loses Kopftuch droht, von ihrem Hinterkopf in ihren Nacken zu gleiten. Der junge Mann spürt die Blicke der anderen Männer und sieht zu Boden, bis er aussteigen muss. Die junge Frau wird er wahrscheinlich nie wiedersehen und wenn doch, dann wird er sie nicht erkennen. Er weiß nicht einmal, ob sie schön ist, denn er wagte es nicht, ihren Blick zu erwidern. Sicher, eines Tages wird er eine Frau heiraten, wird sie vielleicht zugeteilt oder zumindest vorgestellt bekommen. Und er weiß auch, wie Frauen aussehen, wie sie sich bewegen, denn bei ihm zu Hause trägt niemand einen Hijab. Und doch – er wird sich in den Jahren seiner Ehe immer an diese Andere erinnern, jene Mutige, die er nicht wagte, anzusehen.

Abends also sehe ich mir auf meinem Telefon die Bilder der Ermordeten an, die Videos, und frage mich, warum sie so mutig waren, zu protestieren, ja wofür sie eigentlich protestierten.

 

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Vielleicht wollten sie auf Augenhöhe mit ihren Schwestern, Müttern und Freundinnen leben und hielten die Schuld nicht mehr aus, die es bedeutete, ihre Privilegien für sich zu behalten. Vielleicht gingen sie auf die Straße, weil Freunde von ihnen inhaftiert, gefoltert oder ermordet wurden. Doch vielleicht protestierten sie auch, weil sie sich endlich in Freiheit verlieben dürfen wollten.

Liebe erfordert Gleichheit, die Möglichkeit, Nein zu sagen, die Unsicherheit, nicht über sein Gegenüber zu verfügen. Das, was in den zivilisierten Gesellschaften oftmals als Qual empfunden wird, ist gleichzeitig die Bedingung für Nähe; die gefährliche Freiwilligkeit enthält das Versprechen des größten irdischen Glücks. Und während sich hierzulande immer weniger junge Männer der Unsicherheit gewachsen fühlen, die es bedeutet, sich dem Wohlwollen einer Frau, dem wechselseitigen Begehren auszusetzen, riskieren sie in Teheran, Mahabad und Zahedan alles für diese Unsicherheit.

Man wird nicht geliebt, wenn man es erzwingt. Man kann sich der Liebe nie ganz sicher sein, wenn die Geliebte auf das eigene Wohlwollen angewiesen ist, wenn sie nicht den gleichen rechtlichen Schutz genießt.

Er wird nicht stehen bleiben, ehe er all seine Rosen verteilt hat

Ich habe noch ein anderes Video gesehen. Ein junger Mann, er ist ein wenig älter als die eingangs erwähnten, läuft mit einem Strauß Rosen durch einen Autokorso. Eine Frau reckt sich durch das Verdeck ihres Wagens, lässt in einer triumphierenden Geste ihr Kopftuch um ihren Arm kreisen und sieht den rennenden Mann mit den Rosen nicht, bis er sie eingeholt hat. Der junge Mann schenkt ihr eine der Rosen, sie nimmt sie dankbar entgegen und breitet die Arme aus, doch das sieht er nicht mehr, denn schon läuft er weiter.

Er wird nicht stehen bleiben, ehe er all seine Rosen verteilt hat. Und ich hoffe sehr, dass er das überleben wird.

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