Nach den Präsidentschaftswahlen in Belarus - Heiße Nächte in Minsk

Belarus ist nicht die Ukraine. Aber der angebliche Wahlsieg von Alexander Lukaschenko treibt die Menschen landesweit auf die Straßen. Rutscht das Land in einen Bürgerkrieg?

Ein Demonstrant in Minsk in der Nacht zu Montag / picture alliance
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Geht es nach den offiziellen Zahlen, hat der 65-jähige Alexander Lukaschenko auch diesmal die Wahlen mit etwa 80 Prozent gewonnen. So wie 2015, 2010, 2006, 2001 und 1994. Die wichtigste Gegenkandidatin, Swetlana Tichanowskaja, kam auf knapp zehn Prozent, auch das entspricht in etwa den Wahl-Szenarien der letzten 26 Jahre, in denen der schnurrbärtige Lukaschenko das Land autoritär regiert: Ein paar Unzufriedene gibt es immer, aber die überwältigende Mehrheit unterstützt den „Batka“, das Väterchen, wie Lukaschenko wegen seiner paternalistisch-volksnahen Art lange genannt wurde.

Das Regime will abschrecken

Und doch könnte dieses Mal alles anders sein: Nicht nur in Minsk, sondern in vielen Städten des Landes gingen in der Nacht zum Montag Zehntausende auf die Straße. Einen das ganze Land übergreifenden Protest hat die Zehn-Millionen-Republik zwischen Polen und Russland bisher nicht erlebt. Das Regime reagiert auf die Herausforderung mit Härte: Ähnlich wie in der Ukraine vor sieben Jahren trieben Spezialeinheiten der Polizei und der Armee in der Nacht zu Montag die Menschen mit Blendgranaten und Schlagstöcken auseinander, 3000 Menschen wurden festgenommen.

Heute dann verkündete das Ermittlungskomitee, den festgenommenen Teilnehmern der Proteste drohten Haftstrafen zwischen acht und 15 Jahren. Die Strategie des Regimes ist klar: Durch hartes Durchgreifen will man den Protest im Keim ersticken. Aber eben mit dieser Strategie scheiterte der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch 2014 in der Ukraine: Mit seiner sturen Haltung stürzte der Autokrat das Land in monatelange Proteste, deren Finale äußerst blutig war, weil weder das Regime noch die Opposition mehr einen Rückzieher machen konnte. Janukowitsch musste das Land verlassen, Russland annektierte die Krim, bis heute schwelt der militärische Konflikt zwischen den beiden Ländern im Donbass.

Droht Belarus ein ukrainisches Szenario?

Das Verhältnis zu Moskau ist weit weniger konfliktbeladen als das zwischen Russland und der Ukraine. Beide Seiten sprechen gerne von Belarussen und Russen als „Brudervölkern“, so auch Wladimir Putin am heutigen Tag in seinem Glückwunsch-Telegramm. Es gibt auch keine umstrittenen Territorien wie die Krim – ein Krieg scheint deshalb unwahrscheinlich. Und doch spielt Belarus für Russland geopolitisch eine wichtige Rolle als Pufferzone zum Westen. Lukaschenkos Reverenzen an den Westen verfolgte Moskau in den letzten Jahren deshalb zähneknirschend.

Im Unterschied zu den Ukrainern sind die Belarussen aber ein wenig revolutionsliebendes Volk. Immer wieder gab es in den letzten drei Jahrzehnten Proteste, aber besonders auf die letzte, blutige Revolution in der Ukraine 2013/2014 blickten die Belarussen mit wenig Sympathie: Straßenschlachten, Schüsse auf Demonstranten, gar ein Bürgerkrieg, darauf wollte man in jedem Fall verzichten. Und so schlimm war das Leben unter Lukaschenko dann doch nicht: Insbesondere den Unternehmern ließ er im letzten Jahrzehnt immer größere Freiheiten.

Das Regime agiert nervös wie nie

Aber nun ist die Unzufriedenheit groß wie nie, das zeigen die im ganzen Land aufflammenden Proteste. Die seit Jahren andauernde Misere der Wirtschaft und seine „Augen-zu-und-durch“-Strategie in der Corona-Krise ließen viele Belarussen zuletzt von Lukaschenko abrücken: Hunderttausende unterschrieben die Unterstützer-Listen der oppositionellen Kandidaten. Die zwei wichtigsten, der ehemalige Chef der drittgrößten Bank des Landes Wiktor Babariko, und der frühere Vize-Außenminister Walerij Zepkalo, waren diesmal keine „ewigen Oppositionellen“, sondern stammten aus der Elite des Landes.

Schon früher trickste Lukaschenko bei den Wahlergebnissen, aber es ist anzunehmen, dass er tatsächlich eine Mehrheit der Bürger hinter sich hatte. Das ist nun anders. Deshalb ließ der Autokrat den aussichtsreichsten Kandidaten Babariko noch im Juni festnehmen, den anderen trieb er aus dem Land. So nervös hat das Regime nie zuvor agiert.

Die Proteste werden weitergehen

Alle Hoffnung der Wähler, die Lukaschenko satt haben, konzentrierte sich seitdem auf Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau eines weiteren Kandidaten, den Lukaschenko einsperren ließ. Die hatte schon früh verkündet, dass sie nicht am Amt des Präsidenten interessiert sei, sondern im Falle eines Wahlsiegs neue, faire Wahlen anberaumen würde. Um nicht festgenommen zu werden, tauchte Tichanowskaja wenige Tage vor der Wahl ab. Heute ließ sie verlauten, dass sie die Wahlergebnisse nicht anerkennt.

Lukaschenko hatte die Wahl dieses Mal mitten in die Ferienzeit verlegen lassen, weil er darauf zählte, dass die Menschen in der Urlaubszeit passiver sein würden. Davon kann keine Rede sein: Die Proteste werden weitergehen, dem Autokraten stehen heiße Tage und Nächte bevor. Die letzte Nacht hat gezeigt, dass auch die Demonstranten gewaltbereit sind, dass sie sich nicht brav abführen lassen, wie man es etwa aus Russland gewohnt ist. Man kann nur hoffen, dass Lukaschenko seine Polizisten nicht auf das Volk schießen lässt. Dann stünden die Zeichen im friedlichen Belarus auf Bürgerkrieg.

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