100 Jahre polnische Unabhängigkeit - Fest der Zwietracht

Polen feiert an diesem Sonntag den 100. Jahrestag der Unabhängigkeit. Doch darüber, wie der Tag begangen werden soll, ist die Politik tief zerstritten. So wird eine große Chance vertan, die gespaltene polnische Gesellschaft zu versöhnen

Der Unabhängigkeitsmarsch in Polen zog stets auch Rechtsextreme an / picture alliance
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Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

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„Noch ist Polen nicht verloren.“ Die bekannten Anfangszeilen der polnischen Nationalhymne, die 1797 als Kampflied der polnischen Legionen in Italien entstanden, werden am Sonntag im ganzen Land erklingen. An diesem 11. November feiert Polen den 100. Jahrestag der Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit. Ein Ziel, für das sie in mehreren Aufständen einen hohen Blutzoll bezahlten und mit dem Ende des 1. Weltkrieges nach 123 Jahren endlich erreichten. Das Ende des vier Jahre andauernden Gemetzels war für die Polen auch das Ende der Fremdherrschaft durch das Russische Reich, das Deutsche Kaiserreich und die österreichische Habsburgermonarchie, die Polen im 18. Jahrhundert stückweise wie einen Kuchen unter sich aufgeteilt hatten.

Ein Eklat in Berlin

Doch wer glaubt, dass dieser 100. Jahrestag ein harmonisches Fest ist, der irrt. Davon konnten sich sogar die Berliner Ende Oktober selbst überzeugen. Bei einem Konzert im Konzerthaus am Gendarmenmarkt riefen plötzlich vier Personen „Konstytucja – Verfassung“. Was war geschehen? Das Konzert war von der polnischen Botschaft organisiert worden, im Beisein von Staatspräsident Andrzej Duda und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Als Duda zu seiner Rede ansetzen wollten, protestierten die Vier gegen die Justizreformen der Regierung, mit der die Verfassungsrichter entmachtet wurden. Als Reaktion auf die Protestaktion riefen Anhänger der nationalkonservativen Regierung in Warschau den Namen des polnischen Präsidenten. 

Es war ein Eklat, der nicht nur viel aussagt über die politische Situation in Polen, sondern auch über die Stimmung rund um den 100. Jahrestag. Das eigentlich freudige Ereignis wird überschattet von einem politischen Disput, bei dem mittlerweile so tiefe Gräben entstanden sind, dass die politische Elite des Landes den Jahrestag nicht mal gemeinsam begehen kann. Bei den offiziellen staatlichen Feierlichkeiten bleiben die Vertreter der regierenden Nationalkonservativen unter sich. Lediglich Donald Tusk, ehemaliger Ministerpräsident und heutiger EU-Ratspräsident, der sich seit Jahren in einem schon fast hasserfüllten Zwist mit der PiS befindet, wird am Sonntag bei einem Staatsakt vor dem Grabmal des unbekannten Soldaten in Warschau einen Kranz niederlegen. Andere namhafte Vertreter der Opposition wie der heutige Vorsitzende der Bürgerplattform, Grzegorz Schetyna, begehen den Tag bei unterschiedlichen Veranstaltungen im ganzen Land verteilt.

Unabhängigkeitsmarsch mit rechten Parolen

Dabei riefen sowohl Staatspräsident Duda als auch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bereits vor Monaten alle politischen Parteien dazu auf, diesen Tag gemeinsam zu begehen. „Lasst uns gemeinsam unter der weiß-roten Flagge an dem Unabhängigkeitsmarsch teilnehmen", appellierte beispielsweise Andrzej Duda. Und es gab es auch tatsächlich Gespräche über einen gemeinsamen Unabhängigkeitsmarsch, wie Oppositionschef Grzegorz Schetyna vor einigen Wochen in einem Interview zugab. Dieser sollte jedoch von der Präsidialkanzlei gemeinsam mit nationalistischen Gruppen organisiert werden, was der Opposition verständlicherweise missfiel. Seit 2009 veranstalten die rechten Organisationen Allpolnische Jugend, das Nationalradikale Lager (ONR) und die Nationale Bewegung den Unabhängigkeitsmarsch, der vergangenes Jahr weltweit für Schlagzeilen sorgte. 60.000 Menschen zog die Veranstaltung an, bei der fremdenfeindliche und rassistische Symbole zu sehen und Parolen zu hören waren. 

Dass der Marsch so viele Teilnehmer hatte, ist auch der nationalkonservativen PiS geschuldet. Trotz der rechten Organisatoren, fremdenfeindlichen Parolen, rassistischen Symbolen und auch der Gewalt, die allesamt feste Bestandteile der ersten Unabhängigkeitsmärschen waren, verharmloste sie das Ereignis stets als einen „Marsch von Patrioten“. Damit trug sie dazu bei, dass diese Veranstaltung gesellschaftsfähig wurde und viele Menschen gemeinsam mit Rechtsradikalen marschierten. Erst jetzt, als die Präsidialkanzlei von den Organisatoren nicht die Garantie bekommen konnte, dass auf dem Marsch nur die weiß-roten Nationalfahnen zu sehen sein werden, distanzierten sich sowohl der Staatspräsident, die polnische Regierung als auch die PiS von dem Unabhängigkeitsmarsch. Trotzdem dominiert er die Schlagzeilen. Denn die Vorbereitungen waren chaotisch.

Am Mittwoch untersagte das Warschauer Rathaus den Marsch zunächst. Als Reaktion beschlossen noch am selben Tag Staatspräsident Duda und Ministerpräsident Morawiecki, dass auf der Trasse des Unabhängigkeitsmarsches ein staatlicher „Weiß-Roter Marsch“ unter der Schirmherrschaft des Präsidenten stattfinden solle. Am Donnerstagabend kippte jedoch ein Gericht die Entscheidung des Rathauses. Nun besteht die Gefahr, dass am Sonntag der von Rechten organisierte Unabhängigkeitsmarsch mit dem staatlichen „Weiß-Roten Marsch“ kollidiert. Manche Experten fürchten gar gewalttätige Ausschreitungen, welche den 100. Jahrestag überschatten könnten.

Offener Hass zwischen den größten Parteien

Es wäre jedoch zu einfach, die fehlende Bereitschaft, diesen besonderen staatlichen Feiertag gemeinsam zu begehen, nur auf den umstrittenen Unabhängigkeitsmarsch zurückzuführen. Auch die aktuelle Politik der PiS mit ihrer umstrittenen Justizreform, die eine Gefahr für die Rechtstaatlichkeit bedeutet, dem Umbau der öffentlich-rechtlichen Medien in ein Propagandaorgan der PiS und die EU-Politik der nationalkonservativen Regierung, die nach Ansicht vieler Experten sogar zu einem „Polexit“ führen könnte, spielen eine Rolle.

Noch mehr aber sind es die offenen Animositäten und verletzten Eitelkeiten, die ein gemeinsames Feiern des Jahrestages unmöglich machen. Der politische Streit zwischen der nationalkonservativen PiS und der wirtschaftsliberalen Bürgerplattform, den dominierenden politischen Parteien, wird seit 2005 so erbittert geführt, dass zwischen beiden Seiten nur noch offener Hass herrscht. Angefangen mit dem „Opa aus der Wehrmacht“, mit dem die PiS im Präsidentschaftswahlkampf 2005 Donald Tusk zu diskreditieren versuchte und aufhörend bei den „PiSlamisten“, wie die Bürgerplattform und ihr nahestehende Medien über Jahre die Nationalkonservativen beschimpften.

Spaltung reicht bis in Familien hinein

Es ist ein „polnisch-polnischer Krieg“, der sich nicht nur auf die politischen Eliten beschränkt. Der politische Streit führte zu einer Spaltung der Gesellschaft, die bis tief in die Familien reicht. Bekanntestes Beispiel dafür sind die Brüder Jaroslaw und Jacek Kurski. Während Jaroslaw stellvertretender Chefredakteur der linksliberalen Gazeta Wyborcza ist, wurde Jacek Kurski, der sich in der Vergangenheit als „Bullterrier Kaczynskis“ schimpfte, mit dem Wahlerfolg der PiS 2015 Intendant des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders TVP. Und solche Fälle finden sich in zig anderen polnischen Familien. 

Doch die Chance, den 100. Jahrestag der Unabhängigkeit zumindest als Zeichen der Annäherung für die zerstrittenen Familien und die gespaltenen Gesellschaft gemeinsam zu begehen, haben die politischen Eliten versäumt. 

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