Pekings Rolle in der Coronakrise - „Das dürfen wir den Chinesen nicht durchgehen lassen“

Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende und Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff beklagt im Interview das Versagen der EU-Mitgliedstaaten in der Coronakrise und spricht über die Verantwortung Chinas für die Pandemie.

„Den Chinesen ihre Selbstinszenierung vom Brandstifter als Feuerwehrmann nicht durchgehen lassen“ / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Herr Lambsdorff, als einer der ersten deutschen Politiker waren Sie nachweislich mit Corona infiziert. Wie geht es Ihnen, wie haben Sie die Krankheit überstanden?
Ich bin über den Berg und dankbar dafür, dass ich einen ziemlich milden Verlauf hatte. Ich habe aber auch Kollegen und Bekannte in meinem Alter, die – selbst ohne Vorerkrankungen – einen schweren Krankheitsverlauf hatten. Auch wenn es bei mir glimpflich abgegangen ist, kann ich nur dazu aufrufen, die Krankheit ernst zu nehmen.

Dass es Ihnen gut geht, ist sehr erfreulich. Weniger erfreulich ist der aktuelle Zustand der EU. Übersteht die EU die derzeitige Krise?
Die EU hat schon viele Krisen überstanden und sie wird auch diese Krise überstehen. Ihr Arbeitsmodus ist quasi die Krise.

Dennoch läuft es alles andere als rund, wie etwa der Streit über die sogenannten Corona-Bonds zeigt. Welche strukturellen Schwächen der EU hat die Corona-Krise bisher offenbart?
Die Europäische Union hat in dieser Gesundheitskrise exakt das getan, was die Mitgliedsstaaten von ihr erwartet haben – nämlich so gut wie nichts! 

Wie meinen Sie das? 
Seit Jahren sagt die EU-Kommission, dass für Vorfälle wie Pandemien, große Epidemien, grenzüberschreitende Gesundheitsprobleme eine stärkere europäische Zusammenarbeit richtig und wichtig wäre. Aber seit Jahren weigern sich die Mitgliedsstaaten, ihr genau diese Zuständigkeit einzuräumen. Jetzt plötzlich, in der aktuellen Krise, beschweren sich die Mitgliedsstaaten darüber, dass die EU eine zu schwache Rolle einnehme. Die Scheinheiligkeit, mit der aus nationalen Hauptstädten hier mit dem Zeigefinger nach Brüssel gezeigt wird, legt nur die vier Finger offen, die auf die jeweiligen Hauptstädte zurück zeigen, die so tun, als ob sie nicht auch „die EU“ wären und die alles, was schlecht läuft, in Brüssel abladen wollen.

Alexander Graf Lambsdorff, FDP / dpa 

Glauben Sie, dass sich jetzt daran etwas ändern wird?
Ich hoffe es sehr! Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Das europäische „Center for Disease Control“, eine Art europäisches Robert-Koch-Institut, hat für 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger in der EU gerade einmal 300 Mitarbeiter, die hauptsächlich Erfahrungen der nationalen epidemiologischen Zentren austauschen. Warum stellt man nicht ein großes, europäisches Forschungszentrum zu Pandemien auf die Beine? Warum sind es nicht 3.000 Forscher statt 300? Und weshalb teilt man die Informationen, die dort gewonnen werden, nicht unter den 27 Mitgliedsstaaten? Die kleinen Mitgliedsstaaten würden enorm davon profitieren, weil sie gar nicht so viel forschen können wie nötig wäre für den Schutz ihrer Bevölkerung. Und die großen Mitgliedsländer könnten dort bestimmte Projekte zusammenführen – sie können natürlich weiterhin national forschen; niemand will ja das Robert-Koch-Institut schließen. Aber es wäre doch eine riesige Chance, sich zu bestimmten Aspekten wie etwa der HIV-Forschung, zu Atemwegserkrankungen oder zu anderen Epidemien zusammenzuschließen. Ein zweiter Aspekt wäre die gemeinsame Beschaffung von Impfstoffen und Schutzausrüstung. Die EU mit ihren 450 Millionen Menschen ist der größte Markt weltweit auch für Medikamente und Medizintechnik – da könnten wir gesamteuropäisch Einkaufspreise erzielen, die kein Mitgliedsstaat alleine erzielen kann.

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Stattdessen wurden jetzt innerhalb der EU die Grenzen geschlossen, und Nationalismen und Ressentiments einzelner Staaten treten wieder auf. Sind Sie da als ehemaliger Europaparlamentarier persönlich enttäuscht?
Ja natürlich, und ich bin besonders enttäuscht über mein eigenes Land. Das Land, das die nationalen Alleingänge begonnen hat, war nämlich Deutschland mit seinem Ausfuhrverbot für medizinisches Gerät – und das Anfang März, als man in der Lombardei schon nicht mehr wusste, wohin mit den Corona-Toten! Zu diesem Zeitpunkt hat das Bundesgesundheitsministerium eine Ausfuhrsperre verhängt und damit eine Kettenreaktion ausgelöst. Die Franzosen haben sofort das gleiche getan, und nachdem Deutschland und Frankreich vorangeschritten waren, sind viele andere Länder geauso vorgegangen. 

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
In Berlin wird einfach nicht europäisch gedacht. Man bedenkt in den Fachministerien überhaupt nicht, dass ganz Europa auf uns, auf das größte Land der Europäischen Union, schaut. Berlin ist zu einem Problem für Europa geworden. Deutschland hat keine als solche erkennbare Europapolitik mehr. Im Gegenteil: Europapolitisch richtet diese Bundesregierung mehr Schaden an als sie Nutzen bringt.

Anderswo nutzen Regierungen einiger EU-Länder offenbar die Lage, um die eigene Machtbasis auszubauen, insbesondere Ungarn ist da in den Fokus geraten. Wird die Krise instrumentalisiert oder ist das Vorgehen auch in Fällen wie Ungarn angemessen oder zumindest verständlich?
Es ist richtig, wenn Regierungen in dieser Krise befristet Zuständigkeiten bekommen, die sie in normalen Zeiten nicht haben, damit schneller gehandelt werden kann als das in parlamentarischen Demokratien üblicherweise der Fall ist. Und das sage ich als Liberaler vollkommen klar und selbstverständlich. Aber in Ungarn hat man der Regierung eine unbefristete Ermächtigung erteilt, Viktor Orban kann dort ohne jede parlamentarische Kontrolle mit Verordnungen regieren  – so etwas ist in der Europäischen Union auch angesichts der aktuellen Lage nicht akzeptabel. Ich ärgere mich aber auch sehr über Italien, immerhin Gründungsmitglied der Europäischen Union, das die Gesundheitskrise nutzt, um eine uralte finanzpolitische Diskussion wieder aufzumachen, die eigentlich bereits erledigt war – nämlich die Eurobonds-Frage, jetzt unter dem Etikett Corona-Bonds. Auch das ist eine Instrumentalisierung der Krise.

Die Novelle des deutschen Infektionsschutzgesetzes ist auch nicht ganz ohne – das Gesundheitsministerium erhält ja sehr weitreichende Kompetenzen. Wo sind da für Sie als Liberaler die Grenzen erreicht?
Das ist schon ein großer Unterschied zur Lage in Ungarn, denn bei uns ist es das Parlament, das den Notstand ausruft, nicht die Regierung. Es ist auch das Parlament, das die Beendigung des Notstands erklärt. Insofern hat die Regierung als Exekutive hier immer die Rückkopplung an das Parlament als direkt gewählte Vertretung des deutschen Volkes zu suchen. Und das ist in meinen Augen ein demokratisch ausreichender Schutz bei gleichzeitiger Herstellung von Handlungsfähigkeit der Exekutive in einer schwierigen Lage. 

Wird es am Ende dieser Krise geopolitische Gewinner geben?
Das wäre dann der Fall, wenn wir den Chinesen ihre Selbstinszenierung vom Brandstifter als Feuerwehrmann durchgehen ließen. Ich will das Virus nicht zu einem Wuhan-Virus erklären wie Donald Trump das tut. Aber wir hatten am Anfang eine Unterdrückung sämtlicher ehrlicher Berichterstattung über medizinische Forschungsergebnisse durch die kommunistische Zensur. Das hat dazu geführt, dass sich die Krise anfangs wesentlich schneller ausgebreitet hat als es ansonsten der Fall gewesen wäre. Es hat dazu geführt, dass Unklarheit herrschte in der Weltgesundheitsorganisation über die wahren Zustände in China. Und dazu, dass sich andere Länder in Sicherheit gewiegt haben, während sie sich auf eine Epidemie hätten vorbereiten können. Das alles ist in meinen Augen eine Realität, die die Chinesen jetzt dadurch zu überspielen versuchen, dass sie ein paar Gesichtsschutzmasken durch die Gegend fliegen. Wenn wir ihnen das durchgehen lassen, dann könnte es in der Tat einen geopolitischen Gewinner geben – nämlich China. Und ich bin sehr dagegen, dass wir ihnen das durchgehen lassen.

Aber wie kann die Weltgemeinschaft denn auf das Verhalten der Chinesen überhaupt angemessen reagieren? Kann man da Sanktionen verhängen?
Es gibt einen interessanten Vorschlag von Wolfgang Ischinger, dem Chef der Münchener Sicherheitskonferenz. Ischinger sagt, wir brauchen nicht nur eine „responsibility to protect“, also eine Verantwortlichkeit der Weltgemeinschaft zum Schutz des Menschen vor schweren Menschenrechtsverletzungen. Sondern wir brauchen auch eine „responsibility to report“. Und das bedeutet, dass wir eine Pflicht zur Meldung und zur wahrheitsgemäßen Berichterstattung in internationalen Organisationen zu einer völkerrechtlichen Verpflichtung machen müssen. Länder, die wie China offenkundig wahrheitswidrig berichten, können dann mit entsprechenden Sanktionen belegt werden.

Aber so etwas existiert derzeit eben noch nicht. Kann die EU ihre Beziehungen zu China jetzt einfach so beibehalten?
Die Beziehungen sind ja komplex, und China ist für die EU ein wichtiger Absatzmarkt und ein essentieller Bestandteil vieler Lieferketten. Aber wir müssen China auch als systemischen Wettbewerber begreifen. Es ist ein kommunistisches Regime, eine Diktatur, die Menschen in Arbeitslager sperrt, die die Totalüberwachung der Gesellschaft organisiert, die jeden Tag schwere Menschenrechtsverletzungen begeht. Und das ist ein Gesellschaftsmodell, das wir als Liberale rundheraus ablehnen. Es ist also beides wichtig: Die Zusammenarbeit, das Gespräch mit China, auch die ständige Mahnung an China, sich an die Regeln zu halten. Gleichzeitig müssen wir uns mit sehr klarem Blick darauf einstellen, dass wir es mit einem System zu tun haben, das allem widerspricht, das wir als europäische Werte bezeichnen. 

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