Parlamentswahl in Frankreich - Mélenchon stürzt Macron vom hohen Ross

Das Parteienbündnis des französischen Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon macht Präsident Emmanuel Macron die Parlamentsmehrheit streitig. Dessen Machtbasis schwindet zunehmend. Macron jedenfalls wird in seiner zweiten Amtszeit noch mehr Widerstand erwachsen als in der ersten.

Jean-Luc Melenchon, Kandidat der Linken, trifft nach der ersten Runde der Parlamentswahlen in seinem Wahlkampfzentrum ein / picture alliance
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Stefan Brändle ist Frankreich-Korrespondent mit Sitz in Paris. Er berichtet regelmäßig für Cicero.

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Zwei Parteien hatten am Sonntagabend gemeinsam die Nase vorn: Die „neue ökologische und soziale Volksunion“ (Nupes) von Jean-Luc Mélenchon sowie die Allianz „Ensemble“ von Emmanuel Macron erhielten laut ersten Auswertungen je 25,2 Prozent Stimmen. Dieses Resultat bedeutet in erster Linie einen Erfolg für das Linksbündnis aus Sozialisten, Grünen, Kommunisten und Mélenchons „Unbeugsamen“. Im Vergleich zu den Umfragen der vergangenen Wochen haben sie damit deutlich zugelegt. Ihr Anführer sprach am Sonntagabend von einem „Sieg“ seines Verbundes und nannte es ein „herrliches Resultat“.

Das Mehrheitswahlrecht bringt es allerdings mit sich, dass die linke Nupes in der 577-köpfigen Nationalversammlung nur etwa 180 bis 200 Sitze erobern dürfte, wenn die Berechnungen der Umfrageinstitute stimmen. Macrons Allianz werden demgegenüber 260 bis 310 Sitze prophezeit. Damit könnte der Präsident eine relative, womöglich sogar eine absolute Mehrheit behaupten. Da jeder der 577 Wahlkreise einzeln ausgerechnet wird, sind weitreichende Vorhersagen aber sehr unsicher.

Die Rechtspopulisten von Marine Le Pen kommen auf 19 Prozent Stimmen. Das ist weniger als bei den Präsidentschaftswahlen im April. Im Parlament dürfte es für Le Pens „Rassemblement National“ (RN) etwa zehn bis 25 Sitze absetzen – ein Achtungserfolg, da Le Pen vom Wahlsystem dafür bestraft wird, dass sie keine Allianzen eingeht. Das tat sie nicht einmal mit dem Rechtsaußen Eric Zemmour, der in seinem Wahlkreis in der Provence ziemlich unterging. 

Die konservativen Republikaner erhielten knapp 14 Prozent Stimmen, zwar weniger als Le Pen, aber sie dürften in der Nationalversammlung etwas mehr Sitze erhalten, nämlich 50 bis 80.

Sicher ist eines: Macron wird in seiner zweiten Amtszeit noch mehr Widerstand erwachsen als im ersten Mandat, in dem er bereits gegen eine Gelbwesten-Krise zu kämpfen hatte. Und zwar mehr oder weniger egal, wie die Stichwahl in einer Woche ausgehen wird.

Mögliche „Cohabitation“

Wenn die „Neue ökologische und soziale Volksunion“ (Nupes) des Linkenchefs Jean-Luc Mélenchon bei der Stichwahl in einer Woche die Parlamentsmehrheit erringt, kann sie selber die Regierung stellen. Bei dieser so genannten „Cohabitation“ gehören der Präsident und die Regierung unterschiedlichen Lagern an. Macron wäre konkret gezwungen, einen Premierminister aus dem Linkslager zu ernennen. Mélenchon erhebt seit Wochen persönlich Anspruch darauf. Würde er mit der Leitung der Regierungsgeschäfte betraut, wäre Macron im Unterschied zu seinem ersten Fünfjahres-Mandat nicht mehr der omnipotente Wahlmonarch. Er müsste eine oppositionelle Regierung dulden, eine Art Gegen-Regierung, und ihr gegenüber hätte der französische Staatschef kaum mehr zu sagen als der deutsche oder italienische Präsident.

Wenn die Wähler Macron im zweiten Durchgang in einer Woche dagegen eine Mehrheit in der Nationalversammlung auf den Weg geben, stünde es nicht viel besser um seine Handlungs- und Reformfähigkeit. In diesem Fall wird er den geballten Widerstand der breiten Nupes-Allianz aus Grünen, Sozialisten, Kommunisten und Mélenchons „Unbeugsamen“ zu spüren kommen – und zwar im Parlament wie auch auf der Straße. Und von rechts droht Marine Le Pen. Dass die parlamentarische Sitzmehrheit für Macron keine Garantie ist, zeigte sich schon in der ersten Amtszeit von 2017 bis 2022: Die Macronisten verfügten in der Nationalversammlung über die absolute Mehrheit; das zentrale Anliegen einer Rentenreform brachten sie aber nie durch. 

Schafft Macron seine wichtigste Reform in seinem zweiten Mandat, das bis 2027 laufen wird? Viele zweifeln daran. Macron ist geschwächt; obwohl er diese Reform stark vereinfacht hat und sie auf die Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 65 Jahre beschränkt, musste er bereits Abstriche machen. Das Rentenalter 65 sei „kein Totem“, ließ er verlauten; möglich sei auch ein Ruhestand mit 64. Das sagte er, noch bevor Mélenchons Allianz formiert war. Seine Nupes will das Rentenalter gar auf 60 Jahre senken – und hat damit laut Umfragen 68 Prozent der Franzosen hinter sich.

Die Rentenfrage ist längst nicht das einzige Thema, wo die Macronisten und Mélenchonisten das pure Gegenteil wollen. Die Linke würde auch die Vermögenssteuer wieder einführen, die Macron 2017 zu großen Teilen aufgehoben hatte. Die Einkommens- und anderen Steuern, die Macron gesenkt hatte, will die Nupes durch zusätzliche Besteuerungsskalen erhöhen. Macrons erst wenige Jahre alte Sicherheitsgesetze zur Bekämpfung von Terrorismus und Islamismus will sie gleich abschaffen.

Unterschiedliche Standpunkte

Diese Standpunkte sind so unterschiedlich, dass kaum vorstellbar ist, wie sich ein Präsident Macron und ein Premier Mélenchon in einer „cohabitation“ zusammenraufen könnten. Institutionelle und politische Blockaden wären unumgänglich. Dazu kommen sehr grundsätzliche Streitpunkte wie etwa Verfassung und Europa. Während Macron die Präsidialverfassung der Fünften Republik von Charles de Gaulle für seine Stellung voll ausschöpft, will Mélenchon eine Sechste Republik mit starkem Parlament und Volksabstimmungen gründen. Macron ist zudem ein überzeugter Verfechter der europäischen Idee mit der deutsch-französischen Beziehung als Kern; Mélenchon lässt hingegen kein gutes Haar an der deutschen „Sparpolitik“; den europäischen Stabilitätspakt will er schlicht nicht mehr befolgen.

Bei Thema Europa sind die Nupes-Partner allerdings selber gespalten. Der euroskeptische Flügel um den Hardliner Mélenchon will die beiden Hauptregeln des Stabilitätspaktes – maximal drei Prozent Haushaltdefizit und 60 Prozent Staatsschuld – ausdrücklich verletzen: Er ruft zum „Ungehorsam“ dagegen auf. Die proeuropäischen Sozialisten und Grünen vermeiden diesen unterschwellig antieuropäischen Diskurs; sie wollen von den Stabilitätsregeln nur „vorübergehend abweichen“.

Ähnlich in der Nato-Frage: Die Kommunisten wollen aus dem Nordatlantikpakt austreten; Premier Mélenchon würde hingegen nur dessen militärisches Kommando verlassen. Im aktuellen Krieg lehnt der langjährige Putin-Versteher Sanktionen gegen Moskau und die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ab – während Sozialisten und Grüne dafür eintreten.

Die 56 Atomreaktoren Frankreichs sind ebenfalls ein interner Zankapfel für die Linksunion. Grüne und die „Unbeugsamen“ wollen ganz aus der Atomkraft aussteigen. Die Kommunisten halten hingegen an ihr fest; und die Sozialisten wollen als Kompromiss die Laufzeiten verlängern. Diese teils krassen Meinungsunterschiede sind eine Chance für Macron: Wenn es ihm gelingt, die moderaten und die radikalen Nupes-Partner gegeneinander auszuspielen, kann er die präsidialen Positionen besser ein- und durchbringen.

Die französische Linke ist zurück

Insgesamt bleibt aber das Fazit: Die französische Linke ist zurück. Macron hat gegenüber den Parlamentswahlen von 2017 fast acht Prozentpunkte Stimmen eingebüsst. Dies und die rekordhohe Stimmenthaltung zeugen vom Frust vieler französischen Wähler, von ihrem regelrechten Hass auf Macron. Für ihn rächt sich, dass er die gemäßigten Sozialdemokraten und Konservativen in den letzten Jahren systematisch zerlegt hatte; damit begünstigte er letztlich aber nur die Extremisten zur Rechten und Linken. 

Ihr Erfolg fällt nun wie ein Bumerang auf den Polittaktierer im Elysée zurück. Die Nupes-Hardliner werden ihm das Leben nun schwer machen, sehr schwer. Mit den Rechtspopulisten von Marine Le Pen werden sie Macron in die Zange nehmen. Der Elysée-Herrscher, der nicht vom hohen Ross steigen wollte, muss aufpassen, dass er nicht bald aus dem Sattel gestürzt wird.

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