Das Ende der Vranitzky-Doktrin - Ein One-Night-Stand mit der FPÖ

Die Regierungskrise in Österreich hält an, die Grünen wollen Bundeskanzler Sebastian Kurz stürzen. Die Folgen wären Neuwahlen – wenngleich es vorher zu einer kurzen Koalition von ganz links bis ganz rechts kommen könnte, schreibt Mathias Brodkorb.

Sebastian Kurz steht unter Rechtfertigungsdruck / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Aktualisierung: Kurz nach Erscheinen dieses Artikels ist Bundeskanzler Sebastian Kurz von seinem Amt zurückgetreten.

Einst war er als Shooting-Star der europäischen Konservativen gefeiert worden. Mit kaum mehr als 30 Jahren ging Sebastian Kurz nicht nur als jüngster Kanzler der Republik Österreich in die Geschichte ein, sondern richtete die traditionelle ÖVP – wenn auch mit nicht unumstrittenen Methoden – erfolgreich ganz auf sich persönlich aus und formte sie zur „neuen Volkspartei“ um.

Der Kurz-Kanzlerwahlverein wird sich aber wohl schneller als gedacht neues Spitzenpersonal suchen müssen. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler unternahm vor zwei Tagen einen ersten Vorstoß gegen den Kanzler, stellte dessen Handlungsfähigkeit öffentlich in Frage und legte gestern Abend, offenbar bestärkt durch Gespräche mit den Chefs der anderen Parteien, noch einmal nach.

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Der „bisherige Kanzler“ sei nicht mehr „amtsfähig“. Die Vorwürfe, er sei in eine Bestechungsaffäre verwickelt, wögen zu schwer. Die ÖVP hätte daher die Verantwortung jemanden vorzuschlagen, „der untadelig ist“. Mit anderen Worten: Wenn die ÖVP an der Regierung bleiben will, muss sie, wenn es nach den Grünen geht, Kurz auswechseln. Bis Dienstag hätte sie dafür Zeit. Dann tritt der Nationalrat zusammen und beschließt über ein Misstrauensvotum gegen Kurz.

Konservative setzen auf Risiko

Zwar hält die Chefin der Sozialdemokraten, Pamela Rendi-Wagner, einen durch die ÖVP erzwungenen Rückzug Kurz’ für „das wahrscheinlichste Szenario“, weil die Konservativen ihre nunmehr 35 Jahre andauernde Regierungsbeteiligung nicht jäh beenden würden. Allerdings spricht für die Plausibilität dieser Einschätzung im Moment wenig.

Demonstrativ nämlich stellt sich bisher das gesamte konservative Spitzenpersonal der Alpenrepublik hinter Kanzler Sebastian Kurz. Minister wie Landeshauptmänner haben geschlossen erklärt, dass eine Fortsetzung der Regierungsarbeit der ÖVP für sie nur unter Kurz denkbar sei.

Die konservative Führungsmannschaft dürfte darauf spekulieren, dass mit dem Zerfall der Regierung am Ende Neuwahlen wahrscheinlich werden und Kurz diese erneut gewinnen könnte. Denn trotz aller Vorwürfe steht noch immer ein beachtlicher Teil der Wähler zum „Basti“. Unerklärlich ist das nicht. In Österreich hat man sich ohnehin seit Jahrzehnten daran gewöhnt, dass sich die Parteien den Staat mitunter zur Beute machen, und zwar abwechselnd.

Kurz wird nicht Kanzler bleiben

In eine besondere Entscheidungslage haben sich dabei die Grünen gebracht. Kogler ist mit seiner klaren Position keine einsame Stimme, sondern bloß der Stimmführer in einem landesweiten Chor. Auch Klubchefin Sigrid Maurer hat Kurz öffentlich die charakterliche Eignung abgesprochen, weiterhin das Land zu führen.

Sollte die ÖVP daher bis zum Dienstag nächster Woche bei ihrer Linie bleiben, werden die Grünen die Lager wechseln und mit dem Misstrauensvotum der Opposition stimmen müssen. Dann läge es am Bundespräsidenten Alexander van der Bellen (Die Grünen), den Kanzler des Amtes zu entheben. Und mit ihm gingen dann wohl auch alle ÖVP-Minister.

Die österreichische Verfassung sieht dabei vor, dass umgehend eine neue Regierung zu installieren wäre. Auch hierfür hat der vom Volk gewählte Bundespräsident zu sorgen.

Das Ende der Vranitzky-Doktrin

Allerdings stehen Sozialdemokraten, Grüne und Liberale vor einem Problem: Gegen die ÖVP und die als rechtspopulistisch geltende FPÖ hätten sie im Parlament keine Mehrheit. FPÖ-Chef Herbert Kickl hat dabei schon klargemacht, dass er sich am Zustandekommen einer neuen Regierung nur beteiligen werde, sofern „auf Augenhöhe“ mit der FPÖ umgegangen werde. Die bloße Tolerierung einer links-grün-liberalen Minderheitsregierung durch seine Partei scheidet somit aus. Es blieben dann nur Neuwahlen.

Wie verworren die Lage ist, wird vor allem an den Sozialdemokraten deutlich. Bisher galt es für die SPÖ auf Bundesebene als ehernes Gesetz, auf keinen Fall mit der FPÖ zu paktieren. Ausgerufen hatte diesen Grundsatz vor knapp 30 Jahren der sozialdemokratische Bundeskanzler Franz Vranitzky. Auch wenn man sich vor Ort mitunter nicht allzu sehr um die „Vranitzky“-Doktrin schert, kommt deren Preisgabe durch Rendi-Wagner auf Bundesebene einer Kulturrevolution gleich.

Die Chefin der Sozialdemokraten raunte jedenfalls gestern Abend bedeutungsschwanger in die Mikrofone, dass man sich in einer „sehr außergewöhnlichen Situation“ befände und diese möglicherweise „außergewöhnliche Handlungen“ erforderte. Gemeint war damit nichts anderes, als dass die SPÖ unter ihrer Führung als Kanzlerin bereit und gezwungen sein könnte, gemeinsam mit Grünen, Liberalen und FPÖ eine Vierer-Koalition einzugehen.

Das sei zwar, da sie von einem rechtzeitigen Rückzug Kurz’ überzeugt ist, eine „unwahrscheinliche“, aber doch immerhin mögliche Option. Rendi-Wagner und Kickl trafen sich denn folgerichtig heute zu vertraulichen Gesprächen.

Eine Demokratie wird erwachsen

Dass aus einem solchen Bündnis von ganz links bis ganz rechts indes jene Stabilität erwachsen könnte, die Österreich innenpolitisch derzeit so dringend nötig hat, darf bezweifelt werden. Vermutlich würde man sich daher nach nicht allzu langer Zeit ohnehin in Neuwahlen wiederfinden. Die könnte man dann aber auch gleich einleiten.

Angesichts der vorgegebenen Fristen würden Neuwahlen aber ohnehin erst Anfang des nächsten Jahres stattfinden. Bis dahin hätte dann das erste gemeinsame Regierungsbündnis von SPÖ bis FPÖ die Möglichkeit, sich im Regierungsgeschäft ein wenig zu beschnuppern, ohne allzu viel Schaden anrichten zu können. Es wäre keine Ehe, sondern eher ein ausgedehnter One-Night-Stand mit absehbarem Ende. Für das schrittweise Erwachsenwerden der österreichischen Demokratie aber vielleicht gar kein schlechtes Experiment.

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