Nato antwortet Russland - Teilerfolg für Putin

Die Nato und die USA haben die russischen Forderungen nach Sicherheitsgarantien schriftlich abgelehnt. Jetzt steht die Antwort von russischer Seite aus. Dennoch hat Russland bereits einige seiner Ziele erreicht: Es verhandelt auf Augenhöhe mit den USA und hat den Einfluss der Europäischen Union geschwächt. In Deutschland allerdings scheint man das noch nicht zu verstehen.

Man werde sich mit der Antwort Zeit nehmen, sagt der stellvertretende russische Außenminister Alexander Gruschko / dpa
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Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Die USA und die Nato haben Russland nun schriftlich auf seine Forderungen geantwortet. Anders als die russischen Vertragsentwürfe wurden die Antwortschreiben nicht veröffentlicht. Außenminister Blinken erklärte, dass Diplomatie solche Vertraulichkeit gut vertrage. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass die russische Regierung die Texte später veröffentlicht, denn Außenminister Lawrow hatte zuvor erklärt, dass er das bevorzugen würde. Vielleicht werden auch die amerikanische Seite bzw. die Nato dazu angehalten sein, falls sie feststellen, dass die russische Regierung den Inhalt nicht so wiedergibt, wie er vom Absender gemeint war. Das alles kann aber einige Zeit dauern, denn der russische Vize-Außenminister Alexander Gruschko wies darauf hin, dass sich die Gegenseite ja auch anderthalb Monate Zeit genommen hatte.

Warum antworten die USA und die Nato der russischen Regierung? Weil die russische Regierung zwei Vertragsentwürfe vorgelegt hat, von denen ein Vertrag mit den USA, der andere mit der Nato geschlossen werden soll. Freilich gibt es zwischen diesen aus russischer Sicht einen Unterschied. Am Ende sind nur die Gespräche mit den USA – der anderen Weltmacht – relevant. Damit sind die Ukraine, die derzeit im Mittelpunkt der Diskussionen steht, und die EU-Staaten vom weiteren formalen Prozess ausgeschlossen. Es wird über sie verhandelt, nicht mit ihnen. Die USA haben, wie Außenminister Blinken betonte, in mehr als hundert Abstimmungsrunden zwar Gespräche mit den EU-Staaten und der Ukraine geführt und die Antwortschreiben mit ihnen abgestimmt. Aber freilich macht es einen Unterschied, ob Regierungen ihre Interessen selbst vertreten können oder sich von anderen vertreten lassen müssen. Wenn die deutsche Außenministerin sagt, dass man weiterhin mit Russland reden müsse, dann gehört zum ganzen Bild, dass Russland mit ihr nicht sprechen will. Wenn sie sagt: „Wer redet, schießt nicht“, ist das mit Blick auf die russische Destabilisierungspolitik im postsowjetischen Raum falsch. Die russische Politik begreift das Militär als ein Instrument von Diplomatie.

Kein Staat wird der Ukraine militärisch zu Hilfe kommen

Mit seinem bisherigen Vorgehen hat Russland schon fünf Ziele erreicht: Erstens sehen die Staaten des Westens die russischen Ansprüche, die in den Vertragsentwürfen ausformuliert wurden, als eine Grundlage für die weiteren Gespräche an, auch wenn sie bisher abgelehnt werden. Zweitens wurde anerkannt, dass die Verhandlungspartner alleine die USA (und die Nato) sind. Drittens wurde zugestanden, dass die Vorschläge schriftlich beantwortet wurden (was die USA zuerst ablehnten). Viertens wartet Präsident Biden nun auf Augenhöhe mit Präsident Putin, was dieser zu tun gedenkt. Das gesamte Handlungsmoment liegt beim russischen Präsidenten, dessen Entscheidungen die übrigen Beteiligten nun abwarten müssen. Fünftens kann Präsident Putin sicher davon ausgehen, dass kein Staat der Ukraine militärisch zu Hilfe kommen wird.

Über den Inhalt der Antwortschreiben ist ausreichend bekannt, dass darin die zentralen Forderungen nach einer russischen Mitbestimmung über die Erweiterungspolitik der Nato abgelehnt und das Selbstbestimmungsrecht der Staaten betont wird. Die USA wollen vertraglich nicht zugestehen, Osteuropa und Skandinavien zu einer russischen Einflusszone zu erklären, die aus russisch dominierten und neutralen Staaten besteht. Zudem werden darin „sekundäre Probleme“ (Lawrow) angesprochen, über die verhandelt werden kann. Den primären russischen Interessen – keine postsowjetischen Staaten in die Nato und die faktische Neutralisierung Osteuropas und Skandinaviens – wird derzeit nicht entsprochen.   

Russlands Ziel ist eine neue europäische Sicherheitsordnung

Als Antwort auf die Übergabe der Schreiben von USA und Nato erklärte der Sprecher von Präsident Putin, dass sich der russische Präsident Zeit nehmen werde, die Papiere zu studieren, dass jedoch wenig Optimismus bestehe, die russischen Ansprüche auf diese Weise zu erfüllen. Diese reichen weit über die Ukraine hinaus. Russland will eine schriftliche Vereinbarung erreichen, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken niemals Mitglied der Nato werden. Es will die schriftliche Zusicherung, dass alle fremden Truppen aus den ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts, also aus Osteuropa, abziehen. Und es will vertraglich absichern, dass alle Nuklearwaffen der USA aus Europa abgezogen werden. Derzeit sind sie in Deutschland, Italien, Belgien und der Türkei stationiert.

Russlands Ziel ist eine neue europäische Sicherheitsordnung. Sie soll eine direkte russische Einflusssphäre in den Grenzen des ehemaligen Warschauer Pakts hervorbringen und Westeuropa zum strategischen Vorfeld degradieren, das – sobald sich die USA weiter von Europa entfernen – ebenfalls unter russischen Einfluss gerät. Denn mit diesen Zugeständnissen wäre nicht nur die Nato obsolet, indem drei Sicherheitszonen bestünden, die die Kerne der Nato, den gegenseitigen Beistand, koordinierte militärische Fähigkeiten und abgestimmte politische Beurteilungen zerbersten würden. Sondern auch die EU wäre über kurz oder lang auf den Binnenmarkt reduziert, denn darüber hinausgehende politische Ambitionen würden an den neuen machtpolitischen Realitäten brechen. Schweden und Finnland, beide Staaten Mitglieder der EU, aber nicht der Nato, erfahren dies schon jetzt. Denn aufgrund russischer Bedrohungen wird in beiden Staaten überlegt, der Nato beizutreten. Russland erhebt den Anspruch auf Mitsprache und will beiden Staaten diesen Schritt verbieten. Auf diese Bedrohung ihrer Mitgliedstaaten hat die EU wortkarg und handlungsarm reagiert. Die Bundesregierung, die vorgibt, europapolitisch ambitioniert auftreten zu wollen, ignorierte dies.

Werden die USA sich auf China konzentrieren?

Russlands Kalkül ist, dass die USA sich zukünftig von Europa distanzieren, um sich auf den Konflikt mit China zu konzentrieren. Diese Diskussion wird in den USA umfänglich geführt. Nicht in allen EU-Mitgliedstaaten scheinen die Auswirkungen dieser sich verändernden internationalen Lage verstanden worden zu sein. Insbesondere die größere deutsche Regierungspartei sträubt sich, aus der Wärme ihres Weltbilds in die Wirklichkeit zu treten. Dabei hätte man zwischen 2017 und 2021, als Donald Trump amerikanischer Präsident war, über die matte Entrüstung hinaus Schlussfolgerungen ziehen können. Das wurde, wie in den dreißig Jahren zuvor, versäumt. Dann braucht man sich über die Missachtung durch die Großmächte nicht zu wundern. Übrigens: In Moskau wäre auch niemand traurig, wenn Präsident Trump nach 2024 seine Zerstörung des westlichen Bündnisses fortsetzten würde.

Damit hat Präsident Putin – allerdings ohne eigenes Zutun – ein sechstes Ziel erreicht: Die EU und ihre dominanten Staaten Deutschland und Frankreich verweigern sich weiterhin den Aufgaben, die Grundlagen dafür herzustellen, ihre Interessen eigenständig vertreten zu können. Sie verharren in den Spiegelwelten, in denen sie sich seit 1991 eingerichtet haben, und stabilisieren so gegenseitig ihr Selbstbild. Seit der Verabschiedung der Europäischen Sicherheitsstrategie 2003 wurde in der EU zwar immer wieder gefordert, politische Ziele strategisch zu verfolgen, dafür Kapazitäten aufzubauen und kohärenter zu handeln, wie derzeit unter dem Label „Strategischer Kompass“. Aber es war politische Lyrik, die ohne effektive Konsequenzen hinsichtlich der Fähigkeiten blieb. Jetzt werden die Folgen dieser Versäumnisse sichtbar. Präsident Putin zeigt sie auf, und sie nehmen eine ganz andere Gestalt an, als es sich die Regierungen ausmalten.

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