Moskau und die Nato - Russlands Sehnsucht nach 1991

Russland fordert, dass die Nato die Aufnahme ehemaliger Sowjetrepubliken ausschließt und ihre Truppen aus den osteuropäischen Nato-Staaten abzieht. Die Nato weist die Forderungen zurück und unterbreitet ihrerseits Vorschläge für einen konstruktiven Dialog. Das größte Problem dabei: die Schwäche Europas. Eine Zwischenbilanz des OSZE-Treffens.

Der russische Präsident Wladimir Putin (r.) und sein Verteidigungsminister Sergej Schoigu / dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Als Ende der 1980er Jahre die politischen Veränderungen in Europa nicht mehr in die Ordnung des Ost-West-Konflikts zurückzudrängen waren – am offensichtlichsten durch die Öffnung der Mauer in Berlin am 8. November 1989 – und die Sowjetunion ihre Herrschaft über die osteuropäischen Staaten verlor, begann eine Diskussion über die neue europäische Sicherheitsordnung.

Die Sowjetunion strebte Sicherheitsgarantien an und bekam sie auch. Deutschland verblieb innerhalb der Nato, denn niemand wollte ein ungebundenes und nach der Vereinigung stärkeres Deutschland. Deutschland verzichtete erneut darauf, Nuklearwaffen zu entwickeln und zu besitzen. Es wurde Generalsekretär Gorbatschow zugesagt, dass zukünftig auf dem Territorium der DDR keine Nato-Truppen stationiert werden. Und die Nato versicherte, sich den neuen Bedingungen konstruktiv anzupassen.

1991 wurde der Nordatlantische Kooperationsrat gegründet, der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in den Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten zum Ziel hatte. Aus ihm gingen die Partnerschaften für den Frieden hervor. 1997 folgte ihm der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat. Hier sollte die Entwicklung der europäischen Sicherheitsordnung besprochen werden, sollten die osteuropäischen Staaten mitreden und Einfluss nehmen können. Während ein Großteil der Staaten inzwischen der Nato beigetreten ist, hat sich Russland seither immer weiter von der Nato entfernt. Bis Ende 2021 selbst die Botschafter von beiden Seiten abgezogen wurden.

Die Mutter aller Fake News

Mit zwei Argumenten hat die russische Führung seither darauf gedrungen, dass sich die Nato zurückentwickeln sollte, quasi auf den Stand von 1991. Das erste Argument lautet, dass die USA zugestanden hätten, keine osteuropäischen Staaten in die Allianz aufzunehmen. Diese Darstellung ist historisch falsch, lebt aber als Mutter aller Fake News immer noch weiter. Als der amerikanische Außenminister Baker eine Erweiterung nach Osten ausschloss, ging es alleine um das Territorium der DDR. Baker sagte dies im Mai 1990 und so wurde es dann ja auch schriftlich vereinbart. Die militärischen Strukturen des Warschauer Paktes bestanden da noch und lösten sich erst ein Jahr später zum 31. März 1991 auf. Politisch wurde der Warschauer Pakt zum 1. Juli 1991 aufgelöst. Bis 1994 waren – dann russische – Truppen noch in Deutschland stationiert.

Das zweite Argument lautet, dass Russland militärisch bedroht werde. Nun streben (fast) alle Staaten danach, ihre Sicherheit selbst gewährleisten zu können. Die meisten europäischen Staaten können es nicht. Aber Russland kann es. Russland verfügt über einsatzfähige Streitkräfte, die größte nukleare Abschreckung global und über immense Fähigkeiten zur hybriden Kriegsführung. Und die Regierung ist jederzeit entscheidungsfähig. Fähigkeiten und politischer Wille sind gegeben.

Das Argument, Russland werde bedroht, wird vor allem aus innenpolitischen Gründen immer wieder betont; faktisch ist es falsch. So wie in Polen vom 4. Reich in Deutschland gesprochen wird, was auch als Propaganda ans heimische Publikum gelten kann. So hängt auch momentan die Frage, ob in Europa militärische Gewalt angewendet wird, alleine an der Entscheidung des russischen Präsidenten. Alle anderen Entscheider schließen dies kategorisch aus. Die meisten, weil sie es gar nicht könnten.

Engagement in Europa reduzieren

Mit der militärischen Drohung gegenüber der Ukraine, die Präsident Putin mehrfach geäußert hat, gelang es ihm, noch im Dezember 2021 ein Gipfeltreffen mit Präsident Biden zu vereinbaren. Als Ergebnis dieses Treffens fanden seit dem 9. Januar 2022 mehrere Treffen in unterschiedlichen Formaten statt – bilateral zwischen Russland und den USA, multilateral im Nato-Russland-Rat und in der OSZE. Ihnen hatte Russland eine feste Agenda vorausgeschickt, indem zwei Vertragsentwürfe veröffentlich wurden.

Einer sollte mit den USA, der andere mit der Nato abgeschlossen werden. Im Kern laufen die Forderungen Russlands darauf hinaus, dass die Nato die Aufnahme ehemaliger Sowjetrepubliken ausschließt, dass alle ausländischen Nato-Truppen aus den osteuropäischen Nato-Staaten (den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten) abgezogen werden und die USA ihre Nuklearwaffen aus Europa entfernt.

Ziel ist es, den Zustand von 1991 wieder herzustellen, was gelingen kann, wenn die USA – mit voller Konzentration auf China und den Pazifik – ihr Engagement in Europa reduzieren. Oder Donald Trump 2024 zum Präsidenten gewählt wird und die Nato erneut für obsolet erklärt. Denn aus eigener Kraft können sich die europäischen Staaten – und zwar alle europäischen Staaten, alleine und gemeinsam – gegen politische Drohungen aus Russland nicht wehren oder diese abschrecken.

Gefahr eines militärischen Konflikts

Diesen Wunsch nach einer Neuvereinbarung von Einflusszonen haben die USA und die Nato zurückgewiesen. Sie haben hingegen das Recht aller Staaten auf souveräne Bündniswahl betont. Gleichzeitig wurden Vorschläge unterbreitet, über die ein Dialog in Gang gesetzt werden könnte – quasi ähnlich wie nach 1991: Reduzierung von offensiven Waffen auf beiden Seiten; mehr Transparenz bei Militärmanöver; die Gefahr von Cyberangriffen reduzieren. Ob sich Russland auf diese Gespräche einlassen wird, ist derzeit unklar. Abgelehnt wurden sie nicht unmittelbar. Es wurde ihnen aber auch nicht zugestimmt. Dazu waren die beiden stellvertretenden Außenminister Russlands, Sergeij Rjabkow und Gruschko, in den Gesprächen wohl nicht autorisiert.

Inzwischen hat der stellvertretende Außenminister Rjabkow erklärt, dass es keinen Grund für weitere Gespräche gebe. Präsident Putin behält sich das Recht vor, nun zu evaluieren, ob ihm die Angebote der Nato ausreichend erscheinen, um einen diplomatischen Prozess zu beginnen. Oder ob er eine russische Einflusssphäre aus eigener Kraft durchsetzen möchte. Dazu würde er den Rat von Militärexperten erwarten. Wen wundert, dass dies in der Ukraine als militärische Drohung aufgefasst wird? Im Westen sieht man deshalb die Gefahr eines militärischen Konfliktes als real an.

Kein Frieden um jeden Preis

Russland bestreitet jede Absicht, militärisch gegen die Ukraine zuschlagen zu wollen. Weshalb Präsident Putin die Truppen dann nicht aus dem Grenzgebiet zur Ukraine abzieht, ist nicht plausibel. Das aber wäre, so die stellvertretende Außenministerin der USA Wendy Sherman die Voraussetzung für einen konstruktiven Dialog. Der russische Vertreter bei der OSZE hingegen erklärte: „Russland ist ein friedliebendes Land. Aber wir brauchen keinen Frieden um jeden Preis.“ Den Preis, so lässt sich seine weitere Einlassung verstehen, werden alle Staaten Europas zu zahlen haben.

Die Generalsekretärin der OSZE, Helga Schmid, mahnte an, es sei „dringend geboten, zu deeskalieren und Vertrauen wieder aufzubauen“. Ungünstig ist für die europäischen Staaten, dass alleine das Wort von Präsident Putin zählt und sonst niemand etwas auf die Waagschale zu werfen hat. Die europäischen Regierungen sind bezüglich ihrer vitalen Interessen – wie wird die Sicherheit in Europa organisiert? – schlicht ohnmächtig.

 


 

 

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