Durch Algerien nach Europa - Beobachtungen aus einem verschlossenen Land

Algerien hat in den vergangenen Monaten eine noch nie gesehene Zahl von Migranten aus Ländern südlich der Sahara ausgewiesen. Gleichzeitig machen sich weiterhin zahlreiche Menschen auf den Weg nach Südtunesien. Was hat dies zu bedeuten?

Tunesischer Grenzposten an der Grenze zu Algerien / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Hier finden Sie Beiträge von Gastautoren sowie in Kooperation mit anderen Medien und Organisationen. 

So erreichen Sie Cicero-Gastautor:

Anzeige

Im Süden Tunesiens ist es in diesen Tagen heiß, sehr heiß. Reisen unternimmt nur, wer unbedingt muss, und wer über ein klimatisiertes Auto verfügt. Und über die algerische Grenze fährt nur, wer dort dringende Geschäfte zu erledigen hat, Verwandte besuchen oder einkaufen will. Denn in Algerien sind die Preise für viele Lebensmittel, aber auch für Hauselektronik-Geräte wesentlich tiefer als in Tunesien. Und so kommt es, dass zwei Tunesier aus der Region von Kairouan in eine Limousine steigen und in rund drei Stunden über die Grenze in die ostalgerische Provinzstadt Tebessa fahren. Einer von ihnen ist Farid (Name geändert), Gymnasiallehrer, Mitte 40.

Ausländische Touristen treffen Farid und sein Begleiter keine an. Doch auf den zwei Reisen, die die beiden Freunde im Abstand von rund zehn Tagen unternehmen, fallen ihnen vor allem auf der algerischen Seite der Grenze unzählige afrikanische Migranten auf, die zu Fuß entlang der Hauptstraße in Richtung Tunesien marschieren. Männer verschiedenen Alters, aber auch Frauen und Kinder seien in der Bruthitze unterwegs gewesen, berichtet Farid. Unter den Bäumen, die ab und zu entlang der Landstraße standen, seien oft Dutzende völlig erschöpfte Menschen gesessen. Sie hätten schon aus der Distanz Zeichen gegeben, dass sie Durst hätten und dringend Wasser bräuchten. 

Am nächsten Tag, als die Freunde mit ihren Einkäufen frühmorgens nach Tunesien zurückfuhren, beobachteten sie erneut große Gruppen von afrikanischen Menschen, die entlang der Landstraße in Richtung tunesischer Grenze zogen. „Niemand hat sich um diese Menschen gekümmert“, sagt Farid am Telefon. „Weder staatliche Stellen noch private Hilfsorganisationen.“ Die Flüchtlinge seien ganz offensichtlich ihrem Schicksal überlassen.

In der Gluthitze ihrem Schicksal überlassen

Noch erstaunter waren die beiden Freunde aber, als sie an der algerisch-tunesischen Grenze feststellten, dass die Afrikaner ohne Kontrollen oder medizinische Abklärungen ins Land gelassen wurden. Ein Grenzbeamter, den sie zur Sache befragten, ließ wissen, dass er entsprechende Weisungen von seinen Vorgesetzten erhalten habe. Diese Großzügigkeit erstaunt in mehrfacher Hinsicht. Zum einen hat der tunesische Staatspräsident vor einigen Monaten (Februar 2023) eine Brandrede gegen afrikanische Einwanderer gehalten. Darin machte er sie für verschiedene Probleme verantwortlich und unterstellte ihnen gar, dass sie die „islamische Kultur Tunesiens“ zerstören wollten. 

Diese Rede wirkte vor allem in der südtunesischen Stadt Sfax wie ein Brandbeschleuniger, und es kam in der Folge zu zahlreichen Übergriffen auf afrikanische Flüchtlinge, aber auch auf Studenten und auf Personen mit Aufenthaltsberechtigung. Zwar versuchte der Präsident in der Folge, seine Aussagen zu korrigieren und abzuschwächen, doch ohne wirklich zu überzeugen. 

Anfang Juli griffen tunesische Sicherheitskräfte dann hunderte von afrikanischen Flüchtlingen in der Region von Sfax auf, brachten sie an die Grenze zu Libyen, in kleinerem Umfang aber auch an die Grenze zu Algerien. Dort wurden die Menschen in der Gluthitze ihrem Schicksal überlassen. Erst nach nationalen und internationalen Protesten brachte der tunesische Rote Halbmond und andere Organisationen die meisten der Deportierten in Gruppenunterkünfte nach Medenine und in andere Provinzstädte unweit der Grenze.

Migration als Tabuthema

Hat sich Tunesien nun zu einer Kehrtwende hinsichtlich der Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten entschlossen? Weshalb kümmert sich das sehr viel wohlhabendere Nachbarland Algerien nicht um diese Transitmigranten, die nach Europa ziehen wollen?

Angesichts der sehr stark eingeschränkten Medienfreiheit in den beiden Staaten und der Brisanz des Themas sind Recherchen äußerst schwierig. Dabei ist das Thema Migration in Algerien ein noch größeres Tabu als in Tunesien, und die algerische Menschenrechtsliga (LADDH), eine der bis anhin am besten informierten Organisationen, musste im September 2022 aus vorgeschobenen Gründen ihre Aktivitäten einstellen. Mehrere von für diesen Beitrag befragte Journalisten in Algerien wollten sich am Telefon zum Thema Migration nicht äußern.
 

Passend zum Thema:


Das Thema ist schon deshalb sehr heikel, weil es am sorgfältig gepflegten Image Algeriens als solidarischer Staat kratzt. Aus diesem Grund ist von offizieller algerischer Seite kaum etwas über die Ausweisungen von afrikanischen Migranten und Flüchtlingen an die Grenze zu Niger zu erfahren. Da es dort, mitten in der zentralen Sahara, weder Journalisten, noch unabhängige Beobachter gibt, müssen sich Journalisten auf ein paar wenige Nichtregierungsorganisationen – etwa Alarm Watch Sahara – und auf die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR stützen. 

Diese kümmert sich notdürftig um die Menschen, welche regelmäßig an der Grenze zu Niger ausgesetzt werden und von dort aus rund 15 Kilometer zu Fuß bis zur Grenzstadt Assamaka gehen müssen. Dort sollen viele der Ausgeschafften bis heute unter erbärmlichen Bedingungen leben. Laut verschiedenen lokalen NGOs sollen algerische Behörden bis Ende Juni dieses Jahres mehr als 9.000 Menschen auf solche Weise außer Landes gebracht haben. 

Die NGO Alarm Phone Sahara spricht gar von 11.000 Personen in den ersten vier Monaten dieses Jahres. Und die Ausschaffungen gehen angeblich unvermindert weiter. Noch nie sei eine so hohe Zahl von afrikanischen Flüchtlingen ausgeschafft worden (seit 2014 Zehntausende von Migranten). Offizielle Angaben zu den Ausschaffungen sind, so berichtete der algerische Journalist Ali Boukhlef im Onlinemedium Orient XXI, nicht erhältlich: Weder das algerische Innenministerium noch die UNO-Organisation für Migration (OIM) hätten auf seine Anfragen zur Situation an der algerisch-nigrischen Grenze reagiert.

Was oder wer steckt dahinter?

Bedeutet dies, dass der Zustrom afrikanischer Migranten in Richtung Algerien in letzter Zeit sehr stark zugenommen hat und das Land damit überfordert ist? Oder will Algerien das jüngst abgeschlossene Abkommen mit der EU torpedieren, indem es diese Menschen in das bereits stark belastete und unter gravierenden Problemen leidende Tunesien ziehen lässt? 

Ist dahinter womöglich gar die Hand Putins zu erkennen, der eine starke Migration aus Afrika wohl nicht ungern als Waffe gegenüber der EU einsetzen würde? Davon ist ein tunesischer Arzt, der sich in Flüchtlingsfragen sehr gut auskennt, überzeugt. Er habe, erzählt er, von Augenzeugen Berichte erhalten, wonach algerische Behörden im Süden des Landes Migranten in Busse gesetzt hätten, um sie in die Nähe der tunesischen Grenzen zu fahren. Entsprechende Videos zirkulieren auch in den sozialen Medien.

Einflussnahme der EU

Ein anderer, gut informierter Beobachter widerspricht; er hält solche Theorien für vollkommen unbelegt. Auch er sieht aber klare Indizien dafür, dass Algerien mit dem Zustrom von Migranten aus dem Süden selber stark gefordert ist und diese Menschen nur allzu gerne weiterziehen lässt.

Unbestritten ist aber, dass Algerien jede Einflussnahme der EU im Maghreb sehr kritisch sieht. Die Beziehung zwischen Tunesien und Algerien ist zudem sehr heikel; Tunesien ist in den vergangenen Jahren in hohem Maße von algerischer Unterstützung abhängig geworden. Sollte das neue Migrationsabkommen zwischen Tunesien und der EU für Algerien aber tatsächlich ein Dorn im Auge sein, so muss sich die EU auf allerlei Hindernisse und Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung einstellen.

 

Anzeige