Massaker von Butscha - Die Hölle des Krieges, völlig unverstellt

Die Bilder der Kriegsgräuel aus einem Kiewer Vorort rütteln die Weltöffentlichkeit auf. Dennoch wäre es ein Fehler, ohne nähere Kenntnisse des Massakers jetzt sofort Konsequenzen zu ziehen. Fest steht allerdings, dass Russland die Gewalt in die Ukraine getragen hat. Derweil gerät der deutsche Bundespräsident immer mehr in die Kritik. Und zwar aus gutem Grund.

Leichen in einem Massengrab in der Ortschaft Butscha bei Kiew / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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In jedem Krieg gibt es Ereignisse, die dessen Erzählung, dessen Außenwahrnehmung entscheidend verändern, weil sie die Weltöffentlichkeit aufrütteln. Es sind stets Bilder, die hier ihre Wirkmacht entfalten, schreckliche Bilder. So wie die 1972 entstandene Aufnahme des „Napalm-Mädchens“ Kim Phúc aus dem Vietnamkrieg. So wie jetzt die schockierenden Fotos aus dem Kiewer Vorort Butscha. Mehr als 300 Leichen sollen dort am Wochenende geborgen worden sein, man sieht die auf den Straßen liegenden Körper von Zivilisten; von nackten Frauenleichen ist die Rede und ganzen Familien, die getötet wurden: die Hölle des Krieges, völlig unverstellt, unbeschönigt in ihrem ganzen Grauen. Wer davon unberührt bleibt, dürfte auch sonst kaum noch zu emotionalen Regungen in der Lage sein.

Wer genau für das Massaker von Butscha verantwortlich ist, lässt sich – so viel Ehrlichkeit muss sein – nach derzeitigem Stand nicht sagen. Dass es sich um russische Kriegsverbrechen, begangen an der ukrainischen Bevölkerung handelt, liegt nahe. Sicher ist es aber noch nicht – weswegen es auch falsch wäre, jetzt aus deutscher Entfernung in lautes Kriegsgejaule zu verfallen und sich zu Handlungen hinreißen zu lassen, die man hinterher bereut (oder Handlungen anzukündigen, die man sich wenig später umzusetzen nicht traut). Dass es unabhängige Untersuchungen zu den Morden von Butscha geben muss, diese Forderung mag angesichts des Schreckens zum jetzigen Zeitpunkt übertrieben bürokratisch klingen. Aber gerade die Brisanz und die möglichen Folgen emotionaler Politik gebieten Präzision. Denn jeder Krieg ist auch ein Krieg der Bilder – Bilder können sich manchmal sogar als wirkungsvoller erweisen als Waffen.

Die Gegen-Erzählung des Kreml

Dass Russland nun versucht, das Massaker von Butscha als eine Art PR-Aktion der ukrainischen Regierung darzustellen, war erwartbar und zeigt, dass auch in Moskau die Schockwirkung der Fotos nicht unterschätzt wird. Der Kreml hat bei seiner Gegen-Erzählung nur ein riesengroßes Problem: Wer will einer russischen Staatspropaganda auch nur ansatzweise Glauben schenken, die ihren gesamten Feldzug gegen das Nachbarland auf Lügen, auf Desinformation, auf fake news und letztlich auch auf Selbsttäuschung aufgebaut hat? Die Lüge ist (neben dem Militär und den Energieressourcen) das tragende Herrschaftsinstrument von Präsident Putin und seiner ihn umgebenden Clique. Eine „Entnazifizierung“ der Ukraine als Vorwand für die Invasion zu nennen, ist in dieser Hinsicht stilprägend. Die Glaubwürdigkeit der russischen Regierung liegt weit unter null, und das hat diese Regierung auch exakt so gewollt. Stichwort: strategische Unberechenbarkeit.

Dass dennoch möglichst unabhängige Untersuchungen des Massakers von Butscha in die Wege geleitet werden sollten, ist allein schon deswegen ein Gebot der Stunde, weil nur so jede Verschwörungstheorie im Keim erstickt werden kann. Denn natürlich kursieren derzeit alle möglichen Narrative (auch in einschlägigen deutschsprachigen Medien), die auf eine Reinwaschung des russischen Militärs hinauslaufen und darauf, die Ukrainer selbst als Mörder ihrer eigenen Leute anzuklagen. Demnach wäre das alles nur ein perfider Trick, um endlich beim Westen die ersehnte Flugverbotszone (oder zumindest die Lieferung schwerer Waffen) zu erwirken. Es gibt übrigens bis heute Stimmen, die den Genozid von Srebrenica für ein „Pseudo-Massaker“ halten – was zeigt, dass der Macht von Kriegspropaganda nur durch konsequente Aufklärung begegnet werden kann.

Um es jetzt aber ganz grundsätzlich und ganz ausdrücklich festzuhalten: Was auch immer in Butscha geschehen ist, wäre ohne den russischen Einmarsch in die Ukraine nicht passiert. Das ist die conditio sine qua non. Insofern kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass Russland die Gesamtverantwortung trägt. Es ist der Aggression des Putin-Regimes geschuldet, dass in einem Kiewer Vorort (und anderswo auch) jetzt Massengräber ausgehoben werden müssen. Die Gewalt gehört zur Logik des Krieges, und dieser Krieg hat einen Urheber – und dieser Urheber sitzt weder in Kiew noch in Washington. Sondern in Moskau. Auch wenn das die notorischen Putin-Apologeten immer noch nicht wahrhaben wollen.

„Spinnennetz der Kontakte mit Russland“

Apropos Putin-Apologeten. Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine wird nicht zuletzt der deutsche Bundespräsident immer deutlicher, immer schneller von seiner politischen Vergangenheit eingeholt. Frank-Walter Steinmeier habe „ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft“, so der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk am Wochenende in einem Interview mit dem Tagesspiegel. Und weiter: „Feingefühl ist für Steinmeier ein Fremdwort, zumindest in Bezug auf die Ukraine.“ Der Erste Mann im deutschen Staate wisse genau, „wie wir Ukrainer ticken“ und wie sensibel das Thema sei. Aus Putins Sicht, so Melnyk, gebe es kein ukrainisches Volk, keine Sprache, keine Kultur – und daher auch keinen Staat. Fazit des Botschafters: „Steinmeier scheint den Gedanken zu teilen, dass die Ukrainer eigentlich kein Subjekt sind.“

Der Gescholtene selbst sprach am Sonntag über die „von Russland verübten Kriegsverbrechen“, die nun vor den Augen der Welt sichtbar geworden seien – und es liegt aus guten Gründen leider der Verdacht nahe, dass Steinmeier mit diesem Urteil auf Basis der unsicheren Faktenlage vom Wochenende seine gut dokumentierte Kreml-Nähe verwischen will, die nun mit der Invasion ein abruptes Ende gefunden hat. Im August 2016 etwa war er, damals noch als deutscher Außenminister aus Anlass einer Rede an der Universität Jekaterinburg, sehr wohlgesinnt gegenüber seinem Amtskollegen Lawrow („lieber Sergej“) und dessen Politik: Wenn diese nämlich das Ziel habe, „Konflikte zu lösen und Frieden zu erhalten“, dann dürfe „eine sogenannte Gegnerschaft zwischen dem Westen und Russland niemals Kategorie, und schon gar nicht Ideologie werden“. Dies übrigens zwei Jahre nach Annexion der Krim durch russische Streitkräfte.

Steinmeiers Russland-Appeasement

Und noch vor gut einem Jahr (nach dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny) verklärte Frank-Walter Steinmeier in einem Gespräch mit der Rheinischen Post die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 zu einem Friedensprojekt vor dem Hintergrund des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Zitat: „Nach der nachhaltigen Verschlechterung der Beziehungen in den vergangenen Jahren sind die Energiebeziehungen fast die letzte Brücke zwischen Russland und Europa.“ Die Umdeutung der Schröder-Putin-Pipeline zu einer Art paneuropäischer peacekeeping mission sei von ihrer Logik her „ungefähr so bestechend, als würde der Vorstandsvorsitzende von Rheinmetall argumentieren, Waffenlieferungen an den Iran seien allemal besser, als den Kontakt zu den Mullahs ganz abbrechen zu lassen“, hieß es dazu in einem Kommentar an dieser Stelle.

Als Konsequenz aus dieser deutschen Russlandpolitik, bei der man rätselt, ob sie mehr von Naivität oder Opportunismus getragen war, fordert jetzt der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Johann Wadephul, sogar die Einrichtung einer Enquete-Kommission. Im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte Wadephul: „Alle sind aufgefordert, mit zeitlichem Abstand zu fragen: Waren wir zu naiv? Haben wir die Lage richtig eingeschätzt?“ Und ergänzte mit Blick auf das Staatsoberhaupt: „Bundespräsident Steinmeier hat Anlass, grundsätzliche Aussagen dazu zu machen. Das würde ich mir wünschen.“ Der Wunsch dürfte allerdings kaum erfüllt werden.

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