Propaganda aus dem Kreml - Moskaus schmutzige Informationsbombe

Russland beschuldigt die Ukraine, eine „schmutzige Bombe“ einsetzen zu wollen – um dann dem Kreml die Schuld in die Schuhe zu schieben. Es ist eine weitere russische Volte des Informationskriegs.

Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Präsident Wladimir Putin auf einer Militärausstellung in Moskau im Dezember 2021 / picture alliance
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Was sich derzeit im Süden der Ukraine abspielt, ist unübersichtlich: Nachdem der ukrainischen Armee Anfang Oktober im rechts des Flusses gelegenen Teil des Gebiets Cherson ein Durchbruch gelungen war und sie sich seitdem langsam auf die Gebietshauptstadt zubewegt, evakuierten die Russen in der letzten Woche öffentlichkeitswirksam zwangsweise Zehntausende Zivilisten aus der Stadt ans andere Ufer des Dnipro.

Die russische Strategie ist schwer einzuordnen. Einerseits scheint klar, dass die russische Armee dort „mit dem Rücken zum Fluss“ steht: Die Versorgung ist erschwert, weil die zwei Brücken über den Fluss in diesem Gebiet schwer beschädigt sind. Das heißt, dass die Russen sich früher oder später zurückziehen müssten. Möglich erscheint vor diesem Hintergrund, dass die Armeeführung die Ukrainer in einen verlustreichen Häuserkampf ziehen will, und zu diesem Zweck die Zivilbevölkerung aus der Stadt vertreibt, um diesen Kampf ohne Rücksicht auf Verluste führen zu können.

Was hat Russland in Cherson vor?

Hinzu kommt: Je weniger Zivilisten vor Ort sind, desto weniger Informanten hätten die Ukrainer in der Stadt, die sie über die Positionen der russischen Soldaten informieren könnten. Im Ergebnis könnte sich eine wochenlange Schlacht entzünden, als deren Ergebnis ein Großteil der Stadt ähnlich verwüstet würde wie im März die Stadt Mariupol – diesmal aber unter umgekehrten Vorzeichen: Die Ukrainer wären die Angreifer, die Russen die Verteidiger. Es wäre, ungeachtet des militärischen Erfolgs, eine PR-Niederlage für die Ukrainer.

Oder verfolgt der Kreml in dieser aussichtslosen Lage eine noch perfidere Strategie? Am Sonntag eröffnete der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu seinem französischen Amtskollegen Sébastien Lecornu, die Ukraine plane die Zündung einer „schmutzigen Bombe“, also eines konventionellen Sprengkörpers, der mit radioaktivem Material versetzt wurde. Die Logik dahinter: Die Tat solle dann der russischen Armee in die Schuhe geschoben werden. Schoigu telefonierte am Sonntag mit drei weiteren Amtskollegen: dem amerikanischen, dem türkischen und dem britischen. Zumindest in den Gesprächen mit den letzteren soll er laut russischen Angaben ähnliche Angaben gemacht haben.

Schoigu flankiert von Staatsmedien

Begleitet wurde Schoigus Kampagne von einer Meldung der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti, in der sogar zwei konkrete Labore (in Kiew und in Schowti Wody im Gebiet Dnipropetrowsk) genannt wurden, in denen die Bombe entwickelt werde und kurz vor der Fertigstellung stehe. 

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wies die Vorwürfe umgehend zurück. „Wenn jemand in unserem Teil Europas Atomwaffen einsetzen kann, dann ist es das nur einer – und dieser eine hat dem Genossen Schojgu befohlen, dort anzurufen“, sagte er in seiner abendlichen Ansprache. Die Welt müsse klarstellen, dass sie nicht bereit sei, diesen „Schmutz“ zu schlucken.

 

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Sergej Schoigus sonntägliche Telefonrunde ist die nächste Volte in Russlands Bemühungen, vor dem Hintergrund militärischer Misserfolge zumindest im Informationskrieg Erfolg zu haben: Zum ersten sollen derartige Initiativen in der Bevölkerung der westlichen Länder Panik verbreiten, so wie zuvor die Drohungen mit nuklearen Schlägen gegen die Ukraine. Zum zweiten soll in den politischen Eliten Misstrauen gegenüber der ukrainischen Führung gesät werden. Zum dritten sind derartige Auftritte auch an das Publikum zu Hause in Russland gerichtet, die immer wieder aufs Neue von der Unmenschlichkeit des „faschistischen Kiewer Regimes“ überzeugt werden müssen.

Oder plant Russland möglicherweise selbst den Einsatz einer „schmutzigen Bombe“? Ein Argument dafür gäbe es: Nicht nur vom Westen, sondern auch von den verbliebenen „Partnern“ wie China oder Indien wird Moskau signalisiert, dass der Einsatz nuklearer Waffen, zumindest auf dem Gebiet der Ukraine, eine rote Linie ist, die der Kreml nicht überschreiten sollte. Aber was, wenn es zu einer Explosion nuklearen Materials kommt, dessen Herkunft schwer zu bestimmen ist – und entsprechend propagandistisch vorbereitet wurde?

Jahrzehntelange Geschichte russischer Desinformation

Seit dem Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine am 24. Februar – und schon in den Jahren zuvor – zündete der Kreml immer wieder „schmutzige Informationsbomben“ gegen Kiew. Eine jahrzehntelange Geschichte hat die Anschuldigung, gegen Russland gerichtete biologische Waffen zu entwickeln: Mindestens drei groß angelegte Kampagnen dieser Art gegen die USA sind aus den Jahren des Kalten Kriegs bekannt.

Über die vergangenen Jahre verbreitete Moskau Gerüchte darüber, dass in Kasachstan, Georgien und der Ukraine Labore existierten, in denen mit Unterstützung der Amerikaner biologische Waffen entwickelt würden, also in Staaten, die versuchten, sich von Moskau zu distanzieren. Tatsächlich arbeiten, etwa im Zuge des Nunn-Lugar-Gesetzes, Labore in der Ukraine mit amerikanischer finanzieller Unterstützung: Dort werden unter anderem Massenvernichtungswaffen aus sowjetischen Beständen vernichtet. Es existieren auch Projekte mit deutscher Beteiligung, etwa eine Kooperation des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr mit der Universität Charkiw. 

Kann die Ukraine eine „schmutzige Bombe“ herstellen?

In den Jahren vor Kriegsbeginn wurden daraus jedoch interessensgeleitete Mythen gestrickt, insbesondere von prorussischen Politikern in der Ukraine. Der Putin-Intimus Wiktor Medwedtschuk etwa verkündete im Mai 2020, in der Ukraine existierten „15 militärische Biolabore“, deren Existenz die Sicherheit der Ukrainer bedrohe.

Seit Kriegsbeginn kommen diese Vorwürfe von höchster russischer Stelle: Am 6. März beschuldigte Generalleutnant Igor Konaschenkow, der die täglichen Briefings der russischen Armee leitet, die Ukraine, sie hätte biologische Waffen hergestellt. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sekundierte wenige Tage später mit der Konkretisierung, dabei hätte es sich um „ethnisch orientierte Biowaffen“ gehandelt. Beweise dafür bleibt Moskau schuldig. 

Über Atomwaffen verfügt die Ukraine seit dem Budapester Memorandum zwischen den USA, Russland, Großbritannien und der Ukraine (sowie Belarus und Kasachstan) nicht mehr. Ein nuklearer Schlag von Seiten der Ukrainer ist also schwer vorstellbar. Die Herstellung einer „schmutzigen Bombe“, die aus einem konventionellen Sprengkörper und radioaktivem Material besteht, wäre dagegen rein technisch möglich, weil die Ukraine über fünf AKW verfügt, also auch über ausreichend radioaktives Material. Die Logik der Zündung einer „schmutzigen Bombe“, unter der die eigene Bevölkerung massiv leiden würde, erschließt sich jedoch kaum jemand. Außer, man ist Verteidigungsminister der Russischen Föderation.

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