Konflikt um die Ukraine - Appeasement muss kein Fehler sein

Um einen russischen Angriff zu verhindern, ist jetzt Eile geboten. Deswegen sollte der Westen aktiv auf Russland zugehen und auf einen Verhandlungsprozess hinwirken – auch im deutschen Interesse. Dies bedeutet nicht, dass ultimative russische Forderungen akzeptiert werden. Es geht vielmehr darum, die Sache vom Ende her zu denken.

Der russische Außenminister Lawrow und Annalena Baerbock nach einer gemeinsamen Pressekonferenz zu ihren Gesprächen in Moskau / picture alliance
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Autoreninfo

Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

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Seit Beginn dieser Woche schaukelt sich die deutsche Debatte zum Ukraine-Konflikt hoch. Sie ist weiterhin unverkennbar getragen von Empörung und Frustration angesichts anhaltender militärischer Vorbereitungen Russlands auf eine mögliche Invasion der Ukraine. Die Aggressivität Russlands erhitzt die Gemüter und führt zu Forderungen nach einer harten Haltung gegenüber Russland; gleichzeitig betont die Bundesregierung ihr Interesse, im Wege des Dialogs eine Lösung zu finden. Aber was bedeutet eine harte Haltung, was sind die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Dialog? Was kann, was muss erreicht werden?

Es ist an der Zeit, die russische Haltung nüchtern-rational zu analysieren und den Ukraine-Konflikt vom Ende her zu denken. Dies bedeutet, sich realpolitisch und illusionslos Klarheit über die angesichts der gegebenen Lage erreichbaren Ergebnisse diplomatischer Bemühungen und die hierzu zu verfolgenden Ziele zu verschaffen. Aufgeregtheit und die Überzeugung, im Recht zu sein, führen nicht weiter. Es geht vielmehr darum, unsere zentralen Interessen und die Möglichkeiten von deren Durchsetzbarkeit im Blick zu halten.

Die innenpolitische Debatte ist aktuell verständlicherweise von Reaktionen auf eine möglichen Angriff Russlands auf die Ukraine bestimmt. Darüber darf jedoch nicht das jetzt vordringliche Interesse aus den Augen geraten: die Verhinderung einer kriegerischen Auseinandersetzung, die nicht nur die Ukraine betreffen könnte und die Beziehungen zu Russland auf lange Frist vergiften dürfte. Daneben geht es in langfristiger Perspektive nämlich auch um die nachhaltige Einbindung Russlands in die europäische Sicherheitsarchitektur und die Gewährleistung von sicherheitspolitischer Stabilität u.a. durch Wiederbelebung von Rüstungskontrollverhandlungen und den Abschluss neuer stabilisierender Vereinbarungen. Und schließlich sollte es ein westliches Interesse sein, die Ukraine nicht Russland „auszuliefern“ und letztlich das Denken in Einflusszonen, das nicht nur Putin beherrscht, sondern auf das sich offenbar auch westliche Akteure verstehen, wenn nicht zu beseitigen, dann doch zumindest zurückzudrängen.

Treffen ohne Durchbruch

Wo stehen wir heute? Die diplomatischen Treffen der vergangenen Woche haben keinen Durchbruch gebracht. Die Nato-Staaten haben sie genutzt, um den inakzeptablen russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine zu verurteilen, ein Veto Russlands in der Erweiterungsfrage zurückzuweisen und Geschlossenheit in der Verteidigung der nach dem Kalten Krieg etablierten Sicherheitsordnung für Europa zu dokumentieren. In der für Russland zentralen Frage eines Verzichts der Nato auf eine weitere Osterweiterung gab es keinerlei Annäherung.  

Die Gefahr eines militärischen Angriffs Russlands auf die Ukraine hat sich nach der letzten Woche damit erhöht. Dieser könnte – sollte sich Putin letztlich dafür entscheiden – nach einem Abschluss der russischen Mobilisierungsmaßnahmen vermutlich noch innerhalb der nächsten Wochen erfolgen. Dafür spricht, dass der russische Aufmarsch nicht zeitlich unbegrenzt aufrechterhalten werden kann und Präsident Putin nicht zulassen dürfte, dass gerade durch weitere von den USA betriebene militärische Unterstützungsleistungen an die ukrainischen Streitkräfte ein Angriff auf die Ukraine einen (noch) höheren russischen Blutzoll fordert. Allerdings ist nach allem, was wir über den Umfang des russischen Aufmarsches wissen, davon auszugehen, dass die Kräfte für eine großangelegte raumgreifende Offensive gegenüber der Ukraine nicht ausreichen dürften.

Dennoch dürfen abwiegelnde russische Äußerungen zu den verfolgten Absichten nicht von den Risiken und dem Ernst der Lage ablenken. Es ist jetzt Eile geboten. Es ist jetzt notwendig, aktiv auf Russland zuzugehen und auf einen Verhandlungsprozess hinzuwirken. Hierzu ist es erforderlich, sich nicht stereotyp auf Prinzipien zurückzuziehen, sondern Diskussionsbereitschaft zu allen von Russland aufgebrachten Fragen – einschließlich zur Nato-Osterweiterung – zu signalisieren. Dies bedeutet nicht, dass ultimative russische Forderungen akzeptiert werden; es bedarf der Kompromissfähigkeit auf beiden Seiten.

Nicht beirren lassen

Der Westen darf sich nicht beirren lassen. Ein mögliches Eingehen auf die russische Forderung nach einem Verzicht auf eine weitere Nato-Osterweiterung ist kein verabscheuungswürdiges Appeasement. Die gegenüber 1938 völlig anderen Voraussetzungen und Bedingungen werden bei einer solchen Brandmarkung schlicht ausgeblendet. Hierauf hat Welt-Chefkommentator Jacques Schuster bereits am 11. Januar hingewiesen. Er zitierte eingangs seiner Kolumne Winston Churchill: „Appeasement für sich ist weder gut noch schlecht, es kommt ganz auf die Umstände an. Appeasement aus Schwäche oder Furcht ist zu gleichen Teilen vergeblich und tödlich. Appeasement aus Stärke dagegen ist großherzig und nobel und kann möglicherweise der sicherste und vielleicht einzige Pfad zum Weltfrieden sein.“

Diese Einsicht stand auch bei vielen westlichen Politikern Pate, die von Beginn an große Skepsis gegenüber der Erweiterungspolitik der Nato hegten, wie sie die amerikanischen Präsidenten George H.W. Bush und Bill Clinton verfolgten. So empfahl beispielsweise die britische Premierministerin Thatcher – sie steht nicht im Verdacht, Beschwichtigungspolitikerin zu sein – zum Ende des Kalten Kriegs, zunächst gar von einer Anerkennung der baltischen Staaten abzusehen und auch zunächst den Warschauer Pakt – wenn auch nur als Tribut an russische Befindlichkeiten – aufrechtzuerhalten.

Die Nato-Staaten handeln aus einer Position der Stärke, auch militärisch. Russland demgegenüber sieht sich selbst aus der Defensive agieren. Es hat sich gerade in den 1990er- und 2000er-Jahren in einer Position relativer Schwäche zur Hinnahme einer Erweiterung des westlichen Bündnisses um bis heute 14 Staaten und damit der Beseitigung seines vorgelagerten „Sicherheitsglacis“ gezwungen gesehen. Alle Versuche, eine Alternative zum westlichen Modell einer neuen Sicherheitsordnung für Europa durchzusetzen, blieben vergeblich. Von Beginn an setzte sich Russland für eine Ersetzung der im Kern gegen Gefahren von außen gerichtete Bündnissysteme durch die OSZE oder ein politisch noch stärkeres, auf friedliche Konfliktregelung nach innen ausgerichtetes kollektives Sicherheitssystem in Europa ein. Die von Russland immer wieder geltend gemachten Einwände gegen die Erweiterung wurden ignoriert. Die beredte Klage Putins bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2007, der Westen übergehe russische Interessen, blieb ebenso unbeantwortet wie der 2008 vom russischen Präsidenten Medwedew gemachte Vorschlag zu einem Vertrag über europäische Sicherheit.

Russland will sich Gehör verschaffen

Vor dem Hintergrund mag es zwar nicht entschuldbar, aber doch vielleicht eher erklärlich sein, dass Russland jetzt zu einer konkreten Drohkulisse wie der massiven Konzentration von Streitkräften an der Grenze zur Ukraine gegriffen hat, um sich Gehör zu verschaffen. Dies kommt nicht ganz unerwartet, fühlte sich Russland doch durch die gerade von den USA forcierte Erweiterungsdebatte, die betonte Heranführung der Ukraine an die Nato (Aufnahme in das Enhanced Opportunities Program, Möglichkeit der Teilnahme an Nato-Übungen) sowie amerikanische Waffenlieferungen und militärische Ausbildungsprogramme für die Ukraine  herausgefordert. Dies waren – ebenso wie die erneute Betonung der Bereitschaft zur Aufnahme der Ukraine und Georgiens durch den Nato-Gipfel im Juni 2021 – möglicherweise Schritte, die Russland dazu bewogen haben, eine „rote Linie“ gegen eine fortgesetzte Erweiterung der Nato zu ziehen.

Die in der letzten Woche wiederholten Behauptungen, ein Nato-Beitritt sei allein eine Sache zwischen der Nato und der Ukraine und die geforderte Diskussion darüber ein „non-starter“, könnten als Ablehnung jeglicher Diskussion über das für Russland zentrale Interesse verstanden werden. Einer allein prinzipiell-legalistischen Argumentation seitens der Nato steht auch die Interpretationsfähigkeit der zentralen OSZE-Dokumente entgegen. Zwar ist die Bündnisfreiheit in der OSZE verbrieft; allerdings kann sich Russland – wie dies Außenminister Lawrow in der Pressekonferenz mit Außenministerin Baerbock am vergangenen Dienstag getan hat – auch auf die in der Europäischen Sicherheitscharta der OSZE aus dem Jahr 1999 enthaltene Formulierung berufen, dass die Mitgliedstaaten ihre Sicherheit nicht auf Kosten anderer Mitgliedstaaten festigen dürfen. Ebenso wenig weiterführend ist die Postulierung eines Verbots von Einflusszonen, selbst wenn dieses als Anspruch in den zentralen OSZE-Dokumenten enthalten ist. Faktisch betrachten sich die Nato und Russland als Gegner und konkurrieren um Einfluss im postsowjetischen Raum.

Vom Ende her gedacht muss man sich aus dieser Sackgasse befreien, um doch noch einen russischen Waffengang in der Ukraine abzuwenden. Hierzu bedarf es nicht nur einer westlichen Erklärung fortgesetzter Dialogbereitschaft in den zuständigen Gremien. Vielmehr – auch dies zeigt nicht nur die Erfahrung der letzten Woche; es ist vielmehr Praxis in allen multilateralen Verhandlungsforen – müssen die Verhandlungen intensiv in kleinem Kreis vorbereitet und es muss aktiv auf Russland zugegangen werden. Zudem ist es im Interesse einer Gesichtswahrung für beide Seiten erforderlich, die notwendige Vertraulichkeit zu wahren und den Dialog und die Positionierung nicht über die Öffentlichkeit zu führen. Vor diesem Hintergrund waren der Besuch von Außenministerin Baerbock in Moskau wie auch die Vereinbarung eines neuen Gesprächs zwischen dem russischen und amerikanischen Außenminister am 21. Januar wichtige Schritte.

Deutschland könnte Vorreiter sein

Bei der Herstellung der Bedingungen zur Aufnahme von Verhandlungen könnte Deutschland eine wichtige Vorreiterrolle spielen. Dabei steht zu Beginn – auch im Interesse der Geschlossenheit der westlichen Haltung – die enge Abstimmung mit den USA. Ausgangspunkt könnte dabei das Hinwirken auf die Gesprächsbereitschaft über eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sein. Gemeinsam mit Frankreich hat Deutschland sich 2008 gegen eine Erweiterung um die Ukraine und Georgien gewandt; es hat der Formulierung im Kommuniqué des Bukarester Nato-Gipfels zur Nato-Erweiterung nur in dem Verständnis zugestimmt, dass ein Beitritt der Ukraine und Georgiens absehbar nicht anstehen würde. Mit allianzinterner Aufrechterhaltung seiner Vorbehalte könnte Deutschland die Möglichkeit einer schnellen Aufnahme der Ukraine konterkarieren, erfordert  Artikel 10 des Nato-Vertrags als Voraussetzung für eine Erweiterung doch die Zustimmung aller Bündnispartner.

Damit könnte eine Flexibilität in der Bündnisposition gefördert werden, die zumindest die Festlegung eines Moratoriums für die Aufnahme bedeuten könnte. Dies könnte Russland von einer weiteren militärischen Eskalation abhalten. Auch für die Ukraine wäre es von Interesse, nicht als Folge einer russischen Invasion in die russische Einflusszone fest eingefügt zu werden; eine verhandelte „Finnlandisierung“/Neutralisierung (mit klar festgelegten Sicherheitsbedingungen und Freiheitsrechten) wäre für die Ukraine beispielsweise eine bessere Lösung.

Die Vorbereitung von Verhandlungen mit Russland muss im Bündnis mit großer Vertraulichkeit erfolgen, geht es doch um die Festlegung einer äußerst sensiblen Verhandlungsposition, die – um erfolgreich zu sein – auch dem Prinzip der Gegenseitigkeit Rechnung zu tragen hat. Das Geben und Nehmen wird es vermutlich auch notwendig machen, eine breitere Palette von Themen im Verhältnis zu Russland einzubeziehen. Im Kern sollte durch den Verhandlungsprozess ein Neustart in den Beziehungen ermöglicht werden.

Die Nato sollte Selbstkritik üben

Dabei muss auch die mit den russischen Besorgnissen auf die Tagesordnung gesetzte Frage der künftigen Sicherheitsordnung für Europa ein Thema sein. Und dazu müssen sich die Nato-Staaten selbstkritisch fragen, ob der nach dem Ende des Kalten Kriegs eingeschlagene Kurs der unter allen Gesichtspunkten richtige war, wo die Nato-Erweiterung Ihre Grenzen findet und wie die nachhaltige Einbeziehung Russlands in das europäische Sicherheitssystem gewährleistet werden soll.

Der zweite Schwerpunkt wurde durch die russischen Abkommensvorschläge vom 17. Dezember gesetzt: die Wiederbelebung der Rüstungskontrolle. Zwar geht sie am russischen Kerninteresse – der Verhinderung der Erweiterung der Nato um Nachfolgestaaten der Sowjetunion – vorbei, weshalb die bisher von der Nato signalisierte hierauf begrenzte Verhandlungsbereitschaft für Russland nicht ausreicht. Eine effektive Rüstungskontrolle liegt jedoch im ureigensten Sicherheitsinteresse Europas und der Nato. Es ist geradezu eine Ironie, dass die USA unter den Präsidenten Bush jr. und Trump durch Aufkündigung für die Sicherheit Europas zentraler Rüstungskontrollabkommen bzw. durch Verhinderung des Inkrafttretens des 1999 adaptierten Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa für den jetzt deutlich werdenden Mangel an Transparenz und Vorhersehbarkeit auf russischer Seite mitverantwortlich sind.

2019 hat Präsident Trump den INF-Vertrag mit der Begründung russischer Vertragsverletzung durch die Entwicklung eines weitreichenden neuen Marschflugkörpers SSC-8 gekündigt. Jetzt gäbe es aufgrund des russischen Vorschlags möglicherweise eine neue Chance auf Verhandlungen zu einem Verbot von Raketen mittlerer und kurzer Reichweite, die für die europäische Stabilität von besonderer Bedeutung sind. Es ist absehbar, dass neue, effektiv überprüfbare Vereinbarungen detaillierter Verhandlungen bedürfen. Diese Zeit muss ihnen eingeräumt werden, ohne die Verbindung zu der übergeordneten Thematik der Gestaltung der europäischen Sicherheitsordnung aufzugeben.

Und schließlich gibt es auch einen Anlass zur intensiven Behandlung wirtschaftlicher Themen. Dabei sollte gerade auch über weitergehende ökonomische Kooperationsangebote an Russland nachgedacht werden. Der Rückgang der Bedeutung fossiler Energieträger, von deren Export die russische Wirtschaft stark abhängt, birgt die Gefahr wachsender wirtschaftlicher Risiken für Russland, die wiederum politische Instabilitäten bedingen könnten. Durch eine gestärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte ein wichtiger Beitrag zu europäischer Stabilität geleistet und zudem ein Anreiz für Russland zur Rückkehr zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen gesetzt werden.

Das Problem der Energieversorgung

Die westliche Politik hingegen diskutiert aktuell vor allem über wirtschaftliche Sanktionen im Fall eines russischen Angriffs auf die Ukraine. Dies ist im Interesse der Abschreckung einer militärischen Intervention Russlands in der Ukraine zwar verständlich. Allerdings – das zeigt auch die Erfahrung mit den nach der russischen Annexion der Krim 2014 verhängten Sanktionen – lässt sich Russland davon nicht ohne weiteres zum Einlenken bewegen. Vom Ende her denken heißt auch, dass man die Wirkung von Strafmaßnahmen bedenkt. Die russische Führung wird sich nicht demütigen lassen. Vielmehr wird sie vermutlich bei Verhängung angedrohter „massiver Maßnahmen“ selbst Gegenmaßnahmen ergreifen. Diese könnten auch den Exportstopp von Öl und Gas umfassen, was wiederum Deutschland, das mehr als 50 Prozent seines Erdgases und ca. 40 Prozent seines Erdöls aus Russland bezieht, besonders treffen würde. Wie wäre es dann um unsere Energieversorgung bestellt, und wie würde die Bevölkerung auf Engpässe reagieren?

Und noch ein Wort zur aktuellen Debatte zur Inbetriebnahme von Nord Stream 2: Es ist in der gegenwärtigen Situation verfehlt, zu überstürzten Schlussfolgerungen zu kommen; jede Antwort auf ein russisches Eingreifen in der Ukraine muss wohlüberlegt und -kalibriert sein. Die Nichtinbetriebnahme bleibt eine Reaktionsmöglichkeit. Allerdings wäre es jetzt nach Fertigstellung der Pipeline verfehlt, unabhängig vom Ausgang der aktuellen Krise grundsätzlich aus dem Projekt auszusteigen. Das Argument, dass Deutschland sich mit Nord Stream 2 in eine einseitige Abhängigkeit von russischen Energielieferungen begibt, trägt nicht. Zudem verbleibt Deutschland selbst nach einer Inbetriebnahme die Möglichkeit, auch im Rahmen von Sanktionen russische Gaslieferungen einzuschränken oder zu unterbinden.

Und schließlich stellt sich unter dem Gesichtspunkt des Denkens vom Ende her auch die Frage nach möglichen Waffenlieferungen an die Ukraine. Das Thema ist in der innenpolitischen Debatte erneut aufgeflammt, obgleich Außenministerin Baerbock den entsprechenden ukrainischen Forderungen bei ihrem Besuch in Kiew bereits eine Absage erteilt hat. Abgesehen von der Vereinbarkeit mit den Grundsätzen der deutschen Rüstungsexportpolitik stellt sich die Frage, was mit Waffenlieferungen zum jetzigen Zeitpunkt erreicht werden kann. Vermutlich wenig, wird doch die Ukraine die russische militärische Überlegenheit selbst nach Waffenlieferungen zumindest in kurzfristiger Perspektive nicht ausgleichen können.

Wovon hier die Rede ist

Bei Lektüre dieses Beitrags mag manchem aufstoßen, dass so wenig vom inakzeptablen Verhalten und Erpressungsversuchen Russlands die Rede ist. Aber es ging mir gerade nicht um eine Anklage oder eine Aufrechnung. Sondern um die Frage, was zur Wahrung unserer nationalen Interessen erforderlich ist bzw. welche Risiken und Handlungsoptionen bestehen. Es ging mir nicht um die zunehmend autoritäre Politik Putins, um die Unterdrückung und Ausschaltung jeglicher Opposition in Russland oder um die von Putin verfolgte militaristisch-aggressive, um Einfluss auf Augenhöhe mit den USA kämpfende Außenpolitik, die man verurteilen und verachten mag.

Es geht mir vielmehr um einen Ausstieg aus der Eskalationsspirale mit Russland und darum, eine jetzt oder auch zu einem späteren Zeitpunkt drohende militärische Konfrontation in Europa auszuschließen.

Zur Wahrung unserer Interessen bedarf es eines realpolitischen Ansatzes und des Mutes, sich von liebgewonnenen stereotypen Argumentationsmustern zu verabschieden und kühl-rational kalkulierend und mit Festigkeit  einen Interessenausgleich mit Russland zu suchen. 27 hochrangige Militärs, Diplomaten und Wissenschaftler haben am 5. Dezember 2021 in einem Aufruf den Stopp der Eskalationsspirale mit Russland gefordert und hierzu einen diplomatischen Ansatz bestehend aus den folgenden Kernelementen vorgeschlagen: Abhaltung einer hochrangigen Konferenz zur Wiederbelebung der europäischen Sicherheitsarchitektur, Verzicht auf militärische Eskalation und Nato-Erweiterung für die Dauer der Konferenz, Wiederbelebung des Nato-Russland-Dialogs und der Rüstungskontrolle sowie ökonomische Kooperationsangebote an Russland. Friede und Stabilität in Europa sollten es uns wert sein, einen solchen oder ähnlichen diplomatischen Ansatz auszuloten.

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