Klima-Urteil des EGMR - Darf ein Gericht Politik machen?

Die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird als Meilenstein des Klimaschutzes gefeiert. Doch die Richter überschreiten die Grenze zwischen Rechtsprechung und (Klima-)Politik und missachten einen Grundsatz des Rechtsstaats: die Gewaltenteilung.

Präsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Siofra O'Leary / dpa
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wird mit seiner jüngsten Entscheidung zum Klimaschützer. Aber ist das wirklich ein gutes Urteil? Zweifel sind erlaubt. Das Gericht in Straßburg hat zunächst getan, was seine ureigene Aufgabe ist. Auf der Basis mehrerer Beschwerden hat es die Frage geprüft, ob die betroffenen Staaten – unter anderem die Schweiz – die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzen. Dafür ist es da. Es wacht darüber, ob die Mitgliedstaaten dieses Menschenrechtsvertrags ihre Verpflichtungen einhalten. In der Vergangenheit haben die Richter viel für die Menschenrechte in Europa getan. Immer wieder haben sie furchtlos Menschenrechtsverletzungen in Europa festgestellt und Veränderungen angestoßen. 

Die Richter haben einer Gruppe Schweizer Seniorinnen recht gegeben und entschieden: Die Schweiz tut zu wenig gegen den Klimawandel, und das verletzt die Rechte der Schweizerinnen aus der EMRK. Denn Klimaschutz ist – stellen die Richter fest – ein Menschenrecht. Wenn sie zu wenig für den Klimaschutz tun, können Staaten also die Menschenrechte ihrer Bürger verletzen. Das sagen jedenfalls die europäischen Richter, und das ist eine juristische Innovation. Das Urteil ist ein historischer Präzedenzfall und wird Signalwirkung haben. Natürlich hat es eine Vorgeschichte. Seit einigen Jahren haben Umweltverbände in vielen Staaten das Umweltrecht als Hebel entdeckt, um umweltpolitische Ziele durchzusetzen. Auch und gerade in Deutschland. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Klimapolitik aus dem Jahr 2021 ist ein spektakuläres Beispiel dafür. Für diese Politik ist das europäische Urteil sicher eine Ermutigung. Zahlreiche Umweltverbände werden jetzt ihre Regierungen verklagen. 

Schweizer Klimapolitik auf dem Prüfstand

Die Richter werden konkret. Sie schauen sich die Klimapolitik der Schweiz in den letzten Jahren im Detail an. Sie arbeiten konkret heraus, wodurch die Schweiz – ihrer Ansicht nach – ihre klimapolitischen Verpflichtungen verletzt hat. Sie wirft der Regierung etwa vor, sie habe die nötigen CO2-Reduzierungen nicht erreicht.

 

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Man kann über viele juristische Details in diesem Urteil streiten. Rechtlich unstrittig ist das meiste nicht. Das ist fast immer so, wenn ein Gericht entschieden hat. Das ist nicht das Problem dieses Urteils. Aber es gibt ein grundlegendes Problem, das dieses Urteil zu einem gefährlichen Fehlurteil macht.

Grenzüberschreitung durch die Richter 

Mit diesem Urteil überschreitet das Straßburger Gericht eine Grenze – die Grenze zwischen Rechtsprechung und (Klima-)Politik. Damit schaden die Richter der Demokratie und dem Rechtsstaat.

Ein unverzichtbares Merkmal des demokratischen Rechtsstaats ist die Gewaltenteilung. Es gibt nicht die eine Staatsgewalt. Die Staatsgewalt wird geteilt – in die Regierung, das Parlament und die Rechtsprechung. Das Parlament setzt das Recht, die Regierung wendet das Recht an, und die Gerichte kontrollieren die beiden anderen Staatsgewalten. Das soll die Freiheit der Bürger schützen. Eine geteilte Staatsmacht ist – so die Hoffnung des Rechtsstaats – weniger gefährlich für die Freiheiten und Menschenrechte als eine zentralistische, einheitliche Staatsgewalt, die sich selbst kontrolliert.

Das Gericht in Straßburg hat diese Rollenverteilung sträflich missachtet. Es hat konkrete Inhalte einer Klimapolitik skizziert, die sich – nach seiner Auffassung – direkt aus den relevanten Rechtsnormen ableiten lassen. Ganz konsequent verpflichtet das Gericht das Schweizer Parlament und die Regierung, die Klimaschutzpolitik zu verschärfen. Damit werden die Richter zu Politikern. Wie die Klimapolitik aussieht – das entscheiden im demokratischen Rechtsstaat Parlamente und Regierungen. 

Das Demokratieproblem

Diese Grenzüberschreitung ist ein ernstes Problem für die Demokratie. In der parlamentarischen Demokratie ist es das Parlament, das die politischen Weichen für die Zukunft stellt, nicht ein Gericht. Dafür ist das Parlament demokratisch legitimiert. Anders als Richter sind die Abgeordneten direkt gewählt. Die Bürger haben ihnen direkt die Aufgabe übertragen, die Zukunft politisch zu gestalten.

Politiker und Parlamente können das auch besser als Richter. Denn Politik zu machen, ist etwas völlig anderes, als Rechtsfragen nach juristischen Kriterien zu entscheiden. Politik ist – jedenfalls im Idealfall – eine diffizile Abwägung unterschiedlichster politischer, sozialer, gesellschaftlicher und ökonomischer Interessen nach einem intensiven und transparenten Diskussionsprozess. Das können Gerichte gar nicht leisten.

Risiko für das Gericht

Nach dem Willen der EMRK ist der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die letzte Instanz. Es gibt niemanden, der seine Urteile aufheben könnte. Aber trotzdem stößt auch dieses Gericht an Grenzen. Es kann seine Urteile nicht mit (staatlicher) Gewalt durchsetzen. Es gibt keinen Gerichtsvollzieher, der im Notfall die Entscheidungen vollstreckt. Deshalb ist Straßburg darauf angewiesen, dass alle Mitgliedstaaten der EMRK freiwillig und vollständig seine Entscheidungen beachten. Das passiert aber nur, wenn das Gericht eine ungebrochene Autorität hat und seine Urteile inhaltlich vollständig überzeugen. Voraussetzung dafür ist eine kluge Selbstbeschränkung der Richter, ein judicial self-restraint. Wenn der EGMR seine Grenzen überschreitet und Entscheidungen trifft, die nicht überzeugen, provoziert er Widerstand. Das ist gefährlich für das Gericht – und damit für das gesamte Vertragswerk. Denn dann riskieren die Richter ihre Autorität und die Durchschlagskraft ihrer Rechtsprechung. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung zum Schweizer Klimaschutz nicht nur eine rechtsstaatlich und demokratisch bedenkliche Grenzüberschreitung. Sie ist auch gefährlich für das Gericht.

Die Richter und der Zeitgeist

Die Straßburger Richter maßen sich eine Rolle an, für die sie nicht legitimiert sind. Und sie übernehmen eine Aufgabe, mit der sie inhaltlich völlig überfordert sind. Dabei missachten sie einen fast heiligen Grundsatz des Rechtsstaats, die Gewaltenteilung. Was treibt Richter dazu, sich auf so dünnes Eis zu begeben? 

Es ist wohl der Zeitgeist, dem sie nicht widerstehen können. Der Zeitgeist ist geprägt von der Angst vor der Klima-Apokalypse und von der Menschheitsmission, das CO2 zu reduzieren. Dass der Weltuntergang droht, wenn der CO2-Ausstoß nicht reduziert wird, ist inzwischen ein fast unumstößlicher Glaubenssatz. Ob und wie weit das wissenschaftlich fundiert und vernünftig ist, interessiert nicht mehr. Dieses Dogma wird moralisch aufgeladen. Wer nicht an die Apokalypse glaubt, ist ein Klimaleugner. Er wird stigmatisiert und ausgegrenzt. Diesem Druck zu widerstehen und nicht hysterisch zu werden, ist nicht leicht. Aber das erwarten wir von Richtern im Rechtsstaat. Sie sind dem Recht verpflichtet, nicht dem Zeitgeist.

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