Justizreform - Die EU ist gegenüber Polen zu langsam

Die EU-Kommission hat wegen eines Disziplinierungsgesetzes für Richter ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet. Berechtigt, aber viel zu spät. Denn die polnische Regierung schafft bei der Unterwerfung der Justiz Tatsachen.

Mit Andrzej Duda hat die PiS einen Staatspräsidenten aus ihren Reihen, der bereitwillig das Disziplinierungsgesetz unterschrieb / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

So erreichen Sie Thomas Dudek:

Anzeige

Wenn es um den Kampf gegen die Organisierte Kriminalität geht, hört man von der Polizei und der Staatsanwaltschaft regelmäßig folgende Klage: Da man sich an die Gesetze halten müsse, sei man oft langsamer als die Kriminellen. Und ohne jetzt die polnische Regierung oder gar Polen mit der Mafia gleichsetzen zu wollen: Wenn es um die berechtigten Schritte der Europäischen Kommission gegen die von der nationalkonservativen Regierung in Warschau forcierte Justizreform geht, die nichts anderes zum Ergebnis hat als das Ende des unabhängigen Gerichtswesens, erinnert vieles an die Klagen der Polizei.

Nichts verdeutlicht es so sehr, wie das am Mittwoch von der Europäischen Kommission eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen. Grund dafür ist das im Februar in Kraft getretene Disziplinierungsgesetz für Richter. Das in Polen umgangssprachlich genannte „Maulkorbgesetz“ sieht nicht nur drakonische Strafen für kritische Richter vor, denen im schlimmsten Fall sogar die Absetzung droht, sondern verbietet ihnen auch, sich bei juristischen Fragen direkt an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu wenden.

Die PiS schafft Tatsachen

Nur noch mit Zustimmung des Verfassungsgerichts dürfen polnische Richter EU-Recht anwenden. „Dies beeinträchtigt die wirksame Anwendung des Unionsrechts und ist mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, dem Vorabentscheidungsverfahren sowie mit den Erfordernissen der richterlichen Unabhängigkeit unvereinbar“, heißt es in der Presseerklärung der Europäischen Kommission.

Doch auch wenn das aktuelle Vertragsverletzungsverfahren berechtigt ist, drängt sich eine Frage auf: Was soll dieses Vertragsverletzungsverfahren eigentlich noch bringen? Nicht nur deshalb, weil dies seit 2017 das mittlerweile vierte Vertragsverletzungsverfahren wegen der Justizreform ist. Nein, während die Kommission das Disziplinierungsgesetz noch prüfte, schuf die PiS diesbezüglich einfach neue Tatsachen.

Gerichtsentscheidung aufgehoben

Bestes Beispiel dafür ist eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bezüglich der Disziplinarkammer am Obersten Gericht vom 19. November 2019. Laut diesem sollte das Oberste Gericht in Polen selbst darüber entscheiden, ob die durch die Justizreform entstandene Kammer unabhängig ist. Was das Oberste Gericht auch tat. Am 23. Januar urteilte dieses, dass die nach der Reform des Landesjustizrates berufenen Richter politisch nicht unabhängig seien. Gleichzeitig entschied es, alle bisherigen Urteile der Disziplinarkammer aufzuheben. Ein Urteil, das in einem Rechtsstaat auch das Ende dieser Kammer bedeutet hätte.

Die Nationalkonservativen erkannten dieses Urteil jedoch nicht an und konnten sich dabei nicht nur auf ihre Mehrheit im Parlament und den aus ihren Reihen stammenden Staatspräsidenten verlassen, der trotz aller Kritik aus dem In- und Ausland einige Wochen später das umstrittene Disziplinierungsgesetz unterschrieb, sondern auch auf das Verfassungsgericht. Eine Woche, bevor die EU-Kommission das jetzige Vertragsverletzungsverfahren einleitete, hob das Verfassungsgericht die Entscheidung des Obersten Gerichts vom 23. Januar auf.

Wenig überraschend

„Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs missachtete die polnische Verfassungsordnung und ist gegenüber dieser rechtswidrig“, hieß es in der Begründung des Verfassungsgerichts, das in seinem Urteil dem Obersten Gericht wegen seiner Befolgung der EuGH-Entscheidung auch „Ignoranz“ gegenüber „der Polnischen Republik und deren Verfassung“ vorwarf.

Es ist ein wenig überraschendes Urteil des Verfassungsgerichts. Julia Przyłębska, die Präsidentin des Verfassungsgerichts, ist östlich der Oder eher als regelmäßige Gastgeberin und Köchin des allmächtigen PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński bekannt statt als unabhängige Juristin. Und nicht nur sie profitierte beruflich von dem Regierungsantritt der PiS. Ihr Ehemann ist seit 2016 polnischer Botschafter in Deutschland. Mit Krystyna Pawłowicz und Stanisław Piotrowicz sind zudem seit Dezember 2019 nicht nur zwei namhafte ehemalige PiS-Abgeordnete Richter des Verfassungsgerichts, sondern auch Hauptautoren der Justizreform. 

Die letzte Bastion

Doch bei allen berechtigten Zweifeln an der Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts: Das Urteil kann gravierende Folgen haben. Es hebelt nicht nur die bisher getroffenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs bezüglich der Disziplinarkammer aus, sondern auch dessen zukünftigen Urteile. Egal, ob es um die Disziplinarkammer, wo das endgültige Urteil des EuGH noch aussteht, oder das nun von der EU-Kommission bemängelte Disziplinierungsgesetz für Richter geht. Auch diese Angelegenheit dürfte vor dem Europäischen Gerichtshof landen, falls Polen nicht einlenken sollte. Die bisherigen Reaktionen aus Warschau deuten auf eine Konfrontation hin.

Zudem spielt auch die Zeit der PiS in die Hände. Mit dem 30. April endete die Amtszeit von Małgorzata Gersdorf, der seit 2014 amtierenden Präsidentin des Obersten Gerichts. Gegen ihren Willen wurde sie aufgrund ihrer Verfassungstreue zur Symbolfigur für den Widerstand gegen die Justizreform. Nun hat die PiS die Möglichkeit, auch diese letzte Bastion des unabhängigen Gerichtswesens in Polen unter ihre Kontrolle zu bringen. Und sie tut es. Kamil Zaradkiewicz heißt der von Staatspräsident Duda ernannte Interimspräsident des Obersten Gerichts. Ein Jurist, der in jeder Hinsicht von dem Regierungsantritt der PiS profitierte. 2016 wurde Zaradkiewicz vom damaligen Schatzminister zum Aufsichtsratsmitglied des staatlichen Unternehmen Naftoport ernannt.

Anzeige