Joe Biden - Der greise Revoluzzer

Auf dem G7-Gipfel in Cornwall demonstrierte Joe Biden den Schulterschluss mit Amerikas Alliierten. Es ist seine erste Europa-Reise, seit er Donald Trump abgelöst hat. Seit vier Monaten im Amt, könnte der neue US-Präsident die USA stärker verändern als alle seine Vorgänger seit Ronald Reagan.

Joe Biden im Alter von 76 Jahren während des Vorwahlkampfs in Iowa am 29. Januar 2020 / Mark Peterson
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Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg. Soeben erschien von ihm „America First – Donald Trump im Weißen Haus“ (C. H. Beck).

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Der neue Präsident geht mit Karacho ans Werk. Am 11. März, nur sieben Wochen nach seiner Inauguration, verabschiedete der Kongress eines der größten Konjunkturprogramme seit der Großen Depression der dreißiger Jahre, den Amerikanischen Rettungsplan (ARP). Zur Erinnerung: Donald Trump brauchte für seinen wichtigsten gesetzgeberischen Erfolg, die Steuersenkung, elf Monate. Unter Trump herrschten Chaos und Konfusion, bei Joe Biden regieren Ehrgeiz und Effizienz. Mit Hochdruck radiert der 46. Präsident der Vereinigten Staaten das Vermächtnis seines Vorgängers aus und krempelt die Nation in Richtung Wohlfahrtsstaat um. Macht Biden so weiter, könnte er nach Franklin D. Roosevelt und Lyndon B. Johnson zum dritten großen Sozialreformer in der Geschichte der USA aufsteigen.

Im 1,9-Billionen-Dollar-­Rettungsplan geht es nämlich allein zur Hälfte um unmittelbare Pandemiebekämpfung. Diese erfolgte schon im März und Dezember 2020 mit zwei riesigen Ausgabenpaketen. Das neue Gesetz sieht ebenfalls Geld für Impfungen und Tests, die Unterstützung von finanziell gebeutelten Bundesstaaten und Kommunen sowie Hilfen für Schulen, Luftfahrt­industrie und Restaurantgewerbe vor. Doch es bildet zugleich ein Vehikel für lang gehegte sozialpolitische Ziele der Demokratischen Partei. 
Der ARP ist nichts weniger als das ambitionierteste Programm zur Armutsbekämpfung seit fast sechs Dekaden: Jeder Amerikaner mit einem Jahreseinkommen unter 75 000 Dollar erhält eine Einmalzahlung von 1400 Dollar. Es gibt Steuergutschriften für Eltern von bis zu 3600 Dollar pro Kind. Die notorisch unter hoher Arbeitslosigkeit und mieser Infrastruktur leidenden Indianergemeinden werden mit 31 Milliarden Dollar gefördert. Dazu subventioniert das Gesetz Beiträge zur Krankenversicherung, garantiert gewerkschaftlich organisierte Pensionen für eine Million Arbeiter, stellt Mietzuschüsse bereit und erhöht die Arbeitslosenhilfe. 

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Trumps Geschenk

Zusammen dürften die Maßnahmen die Armutsquote 2021 um ein Drittel senken, die von Kindern sogar um die Hälfte. Zwar sind die Hilfen befristet, aber eine alte Politregel sagt, dass einmal eingeführte Sozialprogramme kaum mehr zurückzunehmen sind. Auf jeden Fall bedeutet der Rettungsplan einen epo­chalen Linksruck für Amerika und Bidens Partei: Noch 1996 hatte der Demokrat Bill Clinton stolz verkündet, den ohnehin nicht üppigen Wohlfahrtsstaat in seiner bisherigen Form zu beenden und auf individuelle Verantwortung und ausgeglichene Haushalte zu setzen. Wegen der seit Jahrzehnten stagnierenden Realeinkommen von Unter- und Mittelschicht, der Großen Rezession 2007 bis 2009 und der Corona-Krise drängen jedoch soziale Fragen in den Mittelpunkt der Politik. Biden, stets verlässlicher Seismograf für die Stimmung in seiner Partei, packt diese Themen zur Freude des „progressiven“ Flügels um Bernie Sanders und Alexan­dria Ocasio-Cortez mit In­brunst an.

Dass er ein so monumentales Vorhaben wie den ARP durchsetzen konnte, ist ein ungewolltes Geschenk seines Vorgängers. Hätte Trump seine Wahlniederlage eingestanden und keine Vendetta gegen rechtschaffene Partei­freunde in Georgia angezettelt, wären die beiden dort offenen Senatssitze im zweiten Wahlgang und damit die Kontrolle der Kammer wohl an die Republikaner gegangen. Hätte Trump in seinen vier Amtsjahren nicht den Ruf seiner Partei für Haushaltsdisziplin und gegen Staatsinterventionismus ruiniert, wäre ihr Widerstand gegen die hohen Kosten des Rettungsplans überzeugender gewesen. Und hätte Trump nicht einen Mob zum Sturm auf das Kapitol angestachelt, wären die Republikaner heute in keinen internen Machtkampf verstrickt, der sie als effektive Opposition schwächt. 

Straffes Impftempo

Der Rettungsplan ist nicht das Einzige, was für Biden wie geschmiert läuft. Auch der Kampf gegen die Pandemie schreitet rapide fort. Seit Bidens Amtseinführung am 20. Januar sanken die täglichen Corona-­Todesfälle um 80 Prozent. Beim Impfen liegt Amerika nach Israel und Großbritannien in der globalen Spitzengruppe, weit vor der EU oder Russland. Das ist nicht allein Bidens Verdienst. So erratisch Trump im Kampf gegen die Seuche öffentlich agierte, so erfolgreich war dessen Operation Warp Speed. Mit diesem 18-Milliarden-Dollar-Programm half die damalige Regierung Pharmaunternehmen seit Mai 2020, Vakzine zu entwickeln, sich nötige Rohstoffe für die Massenproduktion zu sichern und entsprechende Anlagen aufzubauen.

Der neue Präsident beschleunigte diese Strategie und erklärte den Sieg über Corona zur Chefsache. Erstmals seit Ausbruch der Pandemie sendet die Regierung klare, kohärente und wissenschaftlich begründete Botschaften aus. Hatte Biden im Wahlkampf noch in Aussicht gestellt, in seinen ersten 100 Amtstagen 100 Millionen Amerikaner impfen zu lassen, so erreichte er bei Ablauf der Frist die Marke von 220 Millionen. Das war geschickte Verkaufsstrategie: Wo Trump stets weniger hielt, als er versprach, legte sein Nachfolger die Latte niedriger, um sie leichter zu überspringen. Seit Mitte April bieten alle Bundesstaaten allen Erwachsenen Impfungen an. Zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli soll sich das Leben wieder normalisieren. Die USA dürften die Pandemie damit Monate vor den Kontinentaleuropäern eingedämmt haben. 

Zuversicht für die Zwischenwahlen

Die Bürger danken es ihrem Präsidenten. Während Trumps Zustimmungsrate nie über 45 Prozent hinauskam, liegt die Bidens gemäß der Online-Analyseplattform Fivethirtyeight bei 54 Prozent. Seinen Rettungsplan unterstützen mehr als zwei Drittel der Befragten, darunter fast alle Demokraten und sogar die Hälfte der Republikaner. Selbst der demokratisch kontrollierte Kongress erhält die besten Werte seit zwölf Jahren. 

Die Perspektiven sind ebenfalls positiv: In der zweiten Jahreshälfte dürfte Biden die drängendsten Probleme des Landes – Corona- und Wirtschaftskrise – in den Griff bekommen haben. Die gewaltigen staatlichen Konjunkturspritzen plus die ultraexpansive Geldpolitik der Notenbank sollten die US-Ökonomie 2021 um 6,5 Prozent wachsen lassen. Dies wäre der höchste Wert seit 1984. Das unabhängige Budgetbüro des Kongresses sagt vorher, dass das Bruttoinlands­produkt schon Mitte dieses Jahres sein Vorkrisenniveau erreicht und die durch die Pandemie verursachten Arbeitsplatzverluste im darauffolgenden Jahr ausgeglichen sind. Biden und die Demokraten könnten so mit starkem Rückenwind in die Zwischenwahlen im November 2022 gehen, wenn Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu besetzt werden. 

Es scheint Biden nicht zu kümmern, dass kein einziger Republikaner für den Rettungsplan votierte. Zwar beschwört er Überparteilichkeit, aber in der Regierungspraxis findet sich davon bisher wenig. Halten die demokratischen Senatoren zusammen, kann er gemäß den komplizierten Verfahrensregeln in jedem Haushaltsjahr ein ausgabewirksames Gesetz mit einfacher Mehrheit durch die Kammer bringen – bei cleverer Interpretation sogar zwei. 

Der Verordner

Deshalb will der Präsident 2021 noch weitere Großprojekte angehen. Ende April stellte er in seiner ersten Rede an den Kongress zwei gigantische Investitionspakete vor: den American Jobs Plan und den American Families Plan. Insgesamt sollen vier Billionen Dollar in das Renovieren von Brücken und Straßen, den Ausbau des Breitband­internets, grüne Energien, Altenpflege, Kinderbetreuung, bezahlten Eltern- und Krankenurlaub sowie je zwei Jahre kostenlosen Vorschul­unterricht und staatlich finanziertes Fachschulstudium fließen. Der massive Ausbau des Sozialstaats würde die Chancengleichheit in der Bildung für einkommensschwache Schichten verbessern und Frauen die Rückkehr in den Arbeitsmarkt nach Corona erleichtern. Finanzieren will Biden dies mit höheren Steuern auf Einkommen von mehr als 400 000 Dollar, Unternehmensgewinne und Kapitalerträge. 

Daneben nutzt Biden aggressiv Regierungsverordnungen, um am Kongress vorbei viele von Trumps Lieblingsprojekten auszuhebeln: den Austritt aus der Weltgesundheitsorganisation, den Einreisebann aus bestimmten islamischen Ländern, den Mauerbau, die Erdölpipeline Keystone XL aus Kanada, das Verbot für Transgender-Personen, offen im Militär zu dienen, die Strafen gegen Angehörige des Internationalen Strafgerichtshofs. Allein am Tag seiner Vereidigung unterzeichnete er 19 davon, bis Anfang Mai 52 – und damit mehr als jeder andere Präsident seit Roosevelt. Den deutlichsten Bruch mit der Politik seines Vorgängers vollzog Biden beim Kampf gegen die Erderwärmung. Er führte die USA ins Pariser Abkommen zurück, verschärfte die nationalen Reduktionsziele für den Schadstoffausstoß und trommelte Ende April 40 Staats- und Regierungschefs zu einem virtuellen Klimagipfel zusammen.

Ruhiger Macher

Dass Biden so kraftvoll durchregieren kann, hat neben den Mehrheiten im Kongress mit seiner Person zu tun. 36 Jahre als Senator und acht als Barack Obamas Vize haben ihn zum ultimativen Washingtoner Insider gemacht. Kein Präsident in der US-Geschichte war bei Amtsantritt so alt wie er, aber keiner besaß annähernd so viel Erfahrung in Parlament und Regierung. Außerdem hat Biden seinen Hang zur Geschwätzigkeit besiegt, seit seinem Wahlsieg im vergangenen November verhält er sich geradezu vorbildlich diszipliniert. War bei Trump alles Drama und Selbstinszenierung, treibt der neue Mann im Weißen Haus Projekte methodisch und nüchtern voran. Von den ersten Regierungsmonaten Obamas habe er gelernt, bekannte Biden, dass man das politische Kapital eines Wahlsiegs für große Initiativen ausgeben müsse ohne Rücksicht auf die Opposition. Da er bescheiden auftritt, einfühlsame Reden hält, versöhnliche Worte für den politischen Gegner findet und sich von vergifteten Identitätsdebatten fernhält, bietet Biden bislang wenig Angriffsfläche. Jetzt rächt sich, dass Trump ihn als „sleepy Joe“ schmähte, als zu kraftlos für das Präsidentenamt. Wie wollen die Republikaner die Wähler heute davon überzeugen, dass der angeblich senile Greis ein feuriger Sozialist mit bahnbrechender Agenda ist?

Für seine stille Revolution hat der Profi Biden ein Team aus Profis zusammengestellt. Im Gegensatz zu Trump, der sich mit drittklassigen Mitarbeitern ohne Regierungserfahrung umgab, holte er kampferprobte Routiniers aus der Obama-Administration in Kabinett und Stab. 40 seiner 50 wichtigsten Mitarbeiter hatten schon für seinen demokratischen Vorgänger gearbeitet. Bidens Regierung ist quasi Obamas dritte Amtszeit auf Steroiden. In Windeseile besetzte Biden die Posten, die ein Präsident nach seiner Wahl zu vergeben hat – Ende März waren es bereits mehr als 1000 der insgesamt 4000 Jobs.

Viele Mitarbeiter kennt der Präsident seit Jahrzehnten. Außenminister Tony Blinken war schon sein wichtigster Gehilfe, als er Anfang der 2000er Jahre den Außenpolitischen Ausschuss des Senats leitete. Stabs­chef Ron Klain arbeitete für ihn in dieser Funktion während dessen Vizepräsidentschaft. Dazu berief Biden weit mehr Frauen und Nichtweiße auf Führungsposten als jeder andere Amtsinhaber. Mit Deb Haaland und Pete Buttigieg bekam die Nation sogar zum ersten Mal eine Indigene und einen bekennenden Schwulen als Minister. Lloyd Austin und Michael Regan leiten als Schwarze das Verteidigungs- und das Umweltressort, Janet Yellen und Avril Haines als erste Frauen Schatzministerium und Geheimdienste. Nicht zu vergessen Kamala Harris als erste weibliche, schwarze und asiatisch-stämmige Vizepräsidentin.

Harris sammelt Erfahrung

Apropos Harris: Biden bindet seine Stellvertreterin so eng ins Regierungsgeschäft ein, wie das Obama mit ihm getan hat, vor allem in der Außenpolitik. Sie ist jeden Morgen anwesend, wenn die CIA dem Präsidenten ihren streng geheimen Bericht zur Weltlage präsentiert. In ihren ersten zwei Monaten im Amt sprach Harris mit sechs Staatschefs und war beim virtuellen Gipfel Bidens mit dem kanadischen Premier Justin Trudeau zugegen. Dabei ist sie offenbar stets exzellent vorbereitet. Französische Diplomaten zeigten sich entzückt, als Harris in einem Telefonat mit Präsident Emmanuel Macron den französischen Beitrag zum Mars-Rover hervorhob. Gemeinsam mit Verteidigungsminister und Generalstabschef beriet sie Biden, wie auf die Angriffe iranischer Milizen auf US-Basen im Irak und auf den vom saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman befohlenen Mord am Journalisten Jamal Khashoggi zu reagieren sei. 

Beide Male plädierte die Vizepräsidentin für harte Antworten, ohne die Situation zu eskalieren. Ende März übertrug ihr Biden die Aufgabe, mit den Staats­chefs von Honduras, El Salvador und Guate­mala eine Reduktion der Immigrantenströme aus diesen Ländern zu erörtern. Mit ihrem internationalen Aktivismus schließt Harris eine offene Flanke, war sie als Justizministerin Kaliforniens und US-Senatorin doch primär innenpolitisch unterwegs. Sollte Biden, wie Beobachter munkeln, keine zweite Amtszeit anstreben, wäre die Vizepräsidentin in einer idealen Position, sich 2024 als seine Erbin um die Nominierung der Demokratischen Partei zu bewerben.

Wieder moralische Tonangeber

Die internationale Rolle von Harris ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil dem Präsidenten wegen der enormen Probleme zu Hause bisher wenig Zeit für Außenpolitik blieb. Doch selbst hier lief es bisher blendend für Biden. Die Nato-Verbündeten beglückt schon allein die Tatsache, dass jemand anderes im Weißen Haus sitzt als Trump, der die 70-jährige Partnerschaft lustvoll demontierte. Durch den Wiedereintritt in internationale Organisationen sowie durch sein Bekenntnis zu Multilateralismus und Diplomatie hat Biden Ballast abgeworfen. Die Verlängerung des New-Start-Abrüstungsvertrags mit Russland um fünf Jahre und die Signale, in das Atomabkommen mit dem Iran zurückzukehren, nahm die Welt mit Erleichterung auf.

Zudem hielt Mitte März die bis dato moribunde Quad, bestehend aus den USA, Indien, Japan und Australien, ihren ersten, wenn auch nur virtuellen Gipfel auf Ebene der Regierungschefs seit ihrer Gründung 2007 ab. Der Viererbund könnte sich zu einem zentralen Forum entwickeln, um die chinesische Expansion im Indopazifik-Raum einzudämmen. Zu guter Letzt erobert Biden die moralische Führungsrolle im Westen zurück. Seine überraschenden Vorschläge, eine Mindeststeuer für internationale Unternehmen einzuführen und die Patentrechte für Corona-Impfstoffe aufzuheben, traf die EU genau da, wo es sie am meisten schmerzt: sich international als tugendhafte Alternative zu den angeblich so rücksichtslosen USA zu gebärden.

Überhitzte Wirtschaft

Alles also sweet-and-dandy im Biden-Universum? Nicht ganz. Trotz seines energischen Starts lauern überall Gefahren, innen-, wirtschafts- wie außenpolitisch, einige davon als Folge eigener Aktionen. So hängt die Mehrheit der Demokraten im Senat an der Stimme Joe Manchins aus dem erzkonservativen West Virginia. Dieser hat bereits mehrere Projekte linker Parteifreunde vereitelt und ist damit zum zweitwichtigsten Politiker in Washington nach Biden aufgestiegen. Manchin steht vor allem den teuren Sozialprogrammen des Präsidenten skeptisch gegenüber. In der Tat ist es keineswegs ausgemacht, dass, wie Anhänger der Modernen Monetären Theorie behaupten, Haushaltsdefizite und Staatsfinanzierung durch die Notenbank heute keine Rolle mehr spielen. Wahrscheinlicher ist, dass sie die Wirtschaft überhitzen und Inflation und Zinsen nach oben treiben. 

2020 betrug das Defizit 15 Prozent der Wirtschaftsleistung, 2021 wird es bei 10 Prozent liegen; die Staatsschulden dürften heuer auf 102 Prozent schnellen – eine seit dem Zweiten Weltkrieg unerreichte Höhe. Bereits jetzt klettern die Zinsen für zehnjährige Bundesanleihen. Zusätzlich lässt die fiskalische Adrenalinspritze das Handelsdefizit wachsen, weil die heimische Wirtschaft die Nachfrage nicht mehr stillen kann. Was das Land braucht, ist kein Konsumrausch durch staatliche Transferleistungen, sondern sind Investitionen zur Steigerung der Produktivität. Die hemmungslose Schuldenpolitik ist ein gefährliches Spiel mit unbekanntem Ausgang – selbst für eine ökonomische Supermacht wie die USA.

„Biden-Grenzkrise“

Dazu droht dem Präsidenten an der Einwanderungsfront Ungemach. Nicht nur bei nationalistischen Republikanern, sondern auch bei vielen gewerkschaftlich organisierten Arbeitern war Trumps drakonische Abschottungspolitik populär. In seinem Bemühen um einen humaneren Ansatz stoppte Biden Deportationen für die ersten 100 Tage seiner Amtszeit und ließ minderjährige Migranten ins Land. Das verstanden zahlreiche Menschen aus Zentralamerika als Signal, Richtung USA aufzubrechen. Von Januar bis Ende April griff die Grenzpatrouille mehr als eine halbe Million Migranten auf – so viele wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. Obwohl 90 Prozent bis zu ihrem Anhörungstermin bei den Asylbehörden nach Mexiko zurückgeschickt werden, dominieren die TV-Nachrichten Bilder von Menschen, die den Rio Grande durchwaten oder mit Flößen überqueren, von überfüllten Aufnahmelagern und berstenden Zeltstädten.

Vielleicht-bald-wieder-Präsidentschaftskandidat Trump warnt vor einem „Tsunami“ illegaler Immigranten, der Minderheitsführer im Haus, Kevin McCarthy, spricht von einer „Biden-Grenzkrise“. Damit ist klar, mit welcher politischen Keule die Republikaner die Regierung künftig zu attackieren gedenken. Ultralinke Demokraten spielen ihnen mit der Forderung nach einer unbeschränkten Zuwanderung noch in die Hände. Das Weiße Haus erscheint in dieser Frage unvorbereitet und überfordert. Biden klang verzweifelt, als er am 16. März im Fernsehen die Migranten anflehte: „Kommt nicht rüber!“ Doch er muss deutlicher machen, dass Toleranz bei legaler Einwanderung Hand in Hand mit Härte bei illegaler geht, er muss die Deportationen wieder aufnehmen und mehr Grenzbeamte einstellen.

Erforderlich wäre eine grundlegende Reform des veralteten Immigrationsgesetzes von 1986. Daran sind schon George W. Bush und Obama gescheitert. Das Einwanderungschaos droht die frühen politischen Siege des Präsidenten zu überschatten und dürfte ein explosives Thema in den nächsten Wahlkämpfen werden.

Republikanische Blockierer

In anderen innenpolitischen Fragen ist genauso unklar, wie der Präsident seine Agenda vorantreiben will. Mit Ausnahme von Richter­ernennungen und eines Haushaltsgesetzes pro Jahr gilt im Senat weiter das Recht auf unbegrenzte Redezeit, das Filibuster. Es bedarf deshalb einer Supermehrheit von 60 der 100 Mitglieder, um ein Gesetz zu verabschieden. Biden kann wichtige Wahlkampfversprechen also kaum umsetzen: das Anheben des Mindestlohns, den Schutz von Gewerkschaften, die schärferen Kontrollen bei Waffenkäufen, den Kampf gegen die Erderwärmung oder die Wahlrechtsreform. Gerade Letztere wäre dringend geboten. 

Die Republikaner haben aus ihren Niederlagen nämlich nicht den Schluss gezogen, mehr Bürger mit besseren Kandidaten und einem attraktiveren Programm für sich zu gewinnen. Vielmehr nehmen sie Trumps Wahlbetrugslüge auf und schränken die Möglichkeiten zur Stimmabgabe ein. Hauptbetroffene sind Minderheiten und junge Wähler, die überproportional für die Demokraten votieren. In fast jedem Bundesstaat initiieren die Republikaner entsprechende Gesetze – knapp 400 in den ersten drei Monaten des Jahres. In Georgia, das mit hauchdünnem Vorsprung an Biden und die zwei demokratischen Senatskandidaten ging, führten sie neue Ausweispflichten für Briefwähler ein und reduzierten die Zahl der Abgabestellen für ausgefüllte Unterlagen. In einem besonders infamen Akt verboten sie es privaten Gruppen, Getränke und Snacks an Personen auszuhändigen, die oft stundenlang in der Schlange vor Wahllokalen warten müssen – was fast nie in weißen Stimmbezirken, aber häufig in schwarzen vorkommt. 

Solche Beschneidungen des Wahlrechts in vielen Einzelstaaten könnten die Demokraten im Senat veranlassen, das Filibuster ganz abzuschaffen. Dafür reicht eine einfache Mehrheit. Momentan widersetzen sich freilich neben allen Republikanern zwei ihrer eigenen konservativen Vertreter einem solchen Schritt. Die kommenden Monate dürften für Biden deshalb viel schwieriger werden als die ersten 100 Amtstage.

Außenpolitische Baustellen

Schließlich stehen dem Präsidenten außenpolitisch herausfordernde Zeiten bevor. Trump hat die globale Stellung der USA enorm beschädigt: durch sein impulsives Agieren, seine Attacken auf Bündnispartner, sein Kungeln mit Diktatoren, seine Unfähigkeit zu strategischem Denken. Biden kann diese Jahre nicht ungeschehen machen, sondern muss verlorenes Vertrauen in amerikanische Führungsfähigkeit und amerikanischen Führungswillen zurückgewinnen. Bisher hat er sich mit den leichten Fragen befasst, Altlasten aus dem Weg geräumt, nette Worte für die Verbündeten und deutliche für die Gegner gefunden. Die harten Fragen warten noch auf ihn. 

Kann Biden etwa die Europäer dazu bewegen, an der Isolierung der größten Feinde der westlichen Ordnung, China und Russland, entschlossen mitzuwirken? Es sieht nicht danach aus: So brüskierte die EU mit ihrem Investitionsschutzabkommen mit Peking Ende Dezember 2020 die neu gewählte Regierung in Washington, die auf ein gemeinsames Vorgehen drängte. Insbesondere die vom Präsidenten umgarnten Deutschen entziehen sich weiter ihrer Verantwortung: mit dem Leugnen der politischen Brisanz ihrer hohen Handelsüberschüsse, dem störrischen Festhalten an der Nord-Stream-2-Pipeline, dem fortgesetzten Ignorieren des Zwei-Prozent-Zieles der Nato. Und dies sind nur die Probleme mit einem befreundeten Land.

Viel aufzuholen

Noch schwieriger wird es für Washington, die Terraingewinne zurückzurollen, die China, Russland, Nordkorea oder der Iran unter Trump erzielt haben. Peking hat dank seiner Wirtschaftsstärke viele Staaten abhängig gemacht, selbst große europäische Länder wagen es kaum mehr, die Masseninternierung der Uiguren, das Zerschlagen der Demokratie in Hongkong oder die Expansion im Südchinesischen Meer anzuprangern. Die asiatischen Verbündeten scheuen gleichfalls den offenen Konflikt mit China. Und Russland ist heute ein zentraler Spieler im Mittleren Osten, in Libyen und im Kaukasus; immer skrupelloser attackiert es den Westen im Cyberspace und mit Desinformationskampagnen, durch Mordanschläge, Sabotageaktionen und Luftraumverletzungen.

Da Biden wegen der heimischen Probleme keine außenpolitischen Abenteuer eingehen will, bleibt ihm nur ein Weg: Zweifel an der eigenen Bündnistreue ausräumen, Sanktionen verhängen und die von seinem Vorgänger kompromittierte moralische Lufthoheit wiedererringen. Dass er Putin einen „Killer“ nennt und den türkischen Genozid an den Armeniern als solchen benennt und sich sein Außenminister verbale Scharmützel mit China liefert, soll neue Entschlossenheit demonstrieren. Man kann es allerdings auch als Versuch interpretieren, von der eigenen Schwäche abzulenken.

Von der Realität eingeholt

Biden dürfte zudem der erste Präsident werden, der es mit einem Nordkorea mit einsatzfähigen nuklearen Langstreckenraketen zu tun hat. Hier verfügt Wa­shington über keine guten Optionen, weder Verhandlungen im Rahmen der Sechsparteien-Gespräche noch Trumps Einschmeicheln bei Staatschef Kim Jong-un haben das jahrzehntealte Problem aus der Welt geschafft. Alles, was Biden bleibt, ist, die Abschreckung aufrechtzuerhalten, die Allianzen in Ostasien zu stärken und zu hoffen, dass die kommunistische Familiendiktatur irgendwann kollabiert. 

Nicht viel besser sind die Optionen gegenüber dem Mullah-Regime im Iran. Das Wiederbeleben des Atom­abkommens scheint kaum möglich, ging dessen Abschluss 2015 doch mit der Erwartung einher, Teheran werde international weniger aggressiv auftreten. Das Gegenteil war der Fall: Der Iran baut seine Stellung in Syrien, Irak, Libanon und Jemen systematisch aus, entwickelt Raketen im Eiltempo weiter und bedroht Israel über seine Hisbollah-Terrortruppe mehr denn je. Biden wird sich damit zufriedengeben müssen, den Status quo zu bewahren.

Überdies will der neue Präsident so wenig Energie wie möglich investieren im Mittleren Osten, der seinen Vorgängern über Jahrzehnte Frustration bereitete, und sich ganz auf China konzentrieren. Deshalb hält er auch an Trumps Afghanistan-­Politik fest. Dieser hatte seinem Nachfolger ein groteskes Friedensabkommen mit den Taliban hinterlassen, das einen fast bedingungslosen Abzug der letzten 3500 US-Soldaten zum 1. Mai vorsah. Biden riskiert damit den Sturz der von Washington unterstützten Regierung in Kabul. Partner wie Gegner dürften dies als Signal verstehen, dass man sich auf die USA auch unter diesem Präsidenten nicht absolut verlassen kann. Nach seinem frühen Höhenflug wird Biden wohl bald da landen, wo die Politik selbst von Revoluzzern meist schnell ankommt: in der Mühsal der Ebene.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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