Großbritannien - Überlebt Boris Johnson 2022 politisch?

Omikron, Brexit, Inflation: Im Vereinigten Königreich türmen sich bereits zu Beginn des neuen Jahres neue Probleme vor dem umkämpften und von Skandalen geschwächten Regierungschef Boris Johnson auf. Schon bringen sich prominente Tories als Nachfolger ins Spiel.

Könnte einen Popularitäts-Booster vertragen: Boris Johnson / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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„Auf nach England!“, heißt es in den Grenzregionen von Schottland und Wales – zumindest am 31. Dezember. 100.000 zusätzliche Gäste erwarten die englischen Pubs und Restaurants für den Neujahrsabend. Denn nur in England haben die Gastronomiebetriebe uneingeschränkt geöffnet. In Schottland und Wales darf nur zu sechst und im Sitzen gefeiert werden. Im Vereinigten Königreich sind Gesundheitsbelange Ländersache, und England ist im Vergleich mit Schottland und Wales in der Covid-Pandemie weit weniger vorsichtig.

Der britische Regierungschef Boris Johnson nützt die englische Partystimmung für eine optimistische Botschaft: „Genießt den Neujahrsabend! Und holt euch einen Booster!“, sagte der konservative Premierminister beim Besuch eines Impfzentrums.

Der 57-jährige Jungvater kann nur hoffen, dass die Engländer über Pints im Pub vergessen, dass etwas faul ist in ihrem Staat. Denn 2021 hat der konservative Regierungschef zwar zu Beginn des Jahres eine erfolgreiche Impfkampagne zur Eindämmung der weltweiten Covid-Pandemie starten können. Doch zum Jahreswechsel steht Boris Johnson einem von Krisen gebeutelten Land vor.

Neue Omikron-Welle erwartet

Die Omikron-Variante rast wie ein Flächenbrand durch das Vereinigte Königreich. Die Impfung, vor allem der dritte Booster-Shot des deutsch-amerikanischen Impfstoffes Biontech-Pfizer, bewahrt bisher das britische Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch: 800 Briten liegen wegen Covid auf der Intensivstation. Doch die täglichen Infektionen haben jetzt 130.000 erreicht – und das bei unzureichenden Testungen, weil zu wenige erhältlich sind.

In London wurde von Bürgermeister Sadiq Khan ein „major indicident“, ein Notstand, ausgerufen. 3000 Covid-Fälle sind allein in der Hauptstadt, wo nur 60 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, im Krankenhaus zu verzeichnen. Für den Januar wird eine neue Welle von Covid-Kranken erwartet, die sich während der Weihnachts- und Neujahrfeiern angesteckt haben.

Das neue Jahr dürfte für den strauchelnden Boris Johnson deshalb kaum besser beginnen, als das jetzige endet. Zwar ist über die Feiertage wie erwartet die Empörung über immer neue bitterböse Berichte zu illegalen Weihnachtspartys in Downing Street eingeschlafen. Die Leaks von Fotos, Videos und Augenzeugenberichten hatten gezeigt, wie unbeschwert der Regierungschef und seine engsten Mitarbeiter die eigenen Covid-Regeln gebrochen hatten. Auch der Skandal über die Renovierung seiner Dienstwohnung mit Goldtapeten, für die eine Parteispende verwendet und nicht vorschriftsgemäß abgerechnet worden war, könnte 2022 schon Schnee von gestern sein.

Gnadenfrist nach Austritt aus der Zollunion verstrichen

Doch in der ersten Hälfte des Jahres drohen Johnson noch viel größere Probleme. Am 1. Januar beginnt eine neue Zeitrechnung im Handel mit Europa. Die Briten waren zwar vor zwei Jahren offiziell aus der EU ausgetreten, blieben aber bis vor einem Jahr noch Mitglied des EU-Binnenmarktes und der EU-Zollunion. Seitdem galten immer noch in vielen Bereichen sogenannte Gnadenfristen, um den Handel nicht zu erschweren. Die sind jetzt verstrichen.

Fortan müssen für den Import Zollerklärungen ausgefüllt werden. Für Tier- und Pflanzeneinfuhr gilt es, die Behörden vorab zu informieren. Dabei muss dann bewiesen werden, dass die Produkte zollfrei eingeführt werden dürfen. Vor allem kleine Betriebe sind gefordert. Die Föderation für Kleinbetriebe hat in einer Umfrage festgestellt, dass nur ein Viertel auf die Umstellung vorbereitet ist. 2020 machten die Importe aus der EU die Hälfte aller Einfuhren ins Vereinigte Königreich in der Höhe von 356 Milliarden Euro aus.

Kaum wird die Frühlingssonne dann die Covid-Pandemie auf erträgliche Größe einschmelzen, müssen Energiefirmen ihren Kunden die Jahresrechnung für Strom und Gas überreichen. Wie auch in Deutschland wird diese wegen der steigenden Gaspreise international sehr viel höher ausfallen als bisher. Auch wenn dies nicht Johnsons Schuld ist, wird sich die Wut der Wähler wohl auch gegen die Regierung richten.

Das Leben wird teurer

„Bei gleichbleibenden Löhnen wird das Leben viel teurer werden“, erklärt Torsten Bell von der „Resolution Foundation“, die am Mittwoch einen Bericht veröffentlichte: Der durchschnittliche Haushalt wird nicht allein wegen höherer Inflation – bis zu sechs Prozent – und höherer Energiepreise mit bis zu 1200 Pfund (1426 Euro) mehr belastet. Dank von der Regierung verordneter höherer Gesundheits- und Sozialabgaben werden die Briten noch zusätzlich belastet: „2022 wird das Jahr des Engpasses“ sagt Bell und fordert: „Die Regierung muss den ärmsten Haushalten unter die Arme greifen.“

Das bringt dann wieder Finanzminister Rishi Sunak zurück ins Rampenlicht. Der 41-jährige Chancellor of the Exchequer hat schon seit Beginn der Pandemie eine gute Figur gemacht, weil er das staatliche Füllhorn großzügig über der geplagten Bevölkerung ausschütten konnte. Für seinen Regierungschef ist aber auch das heikel.

Dem von Skandalen gebeutelten und wegen Missmanagement von Partei, Parlament und Regierung angeschlagenen Johnson ist in Sunak ein ernstzunehmender Konkurrent erwachsen. Auch Außenministerin Liz Truss, die sich gerne wie einst Margaret Thatcher auf einem Panzer fotografieren lässt, gilt als potentielle Nachfolgerin.

Zittern vor den Kommunalwahlen

Sollte sich der in den vergangenen Wochen sehr fahrig und erschöpft wirkende Boris Johnson überhaupt bis dahin halten, könnten die Kommunalwahlen im Mai für den Regierungschef ausschlaggebend werden. Die Abgeordneten für London werden dann nach vier Jahren neu gewählt, ebenso jene in Birmingham sowie unzählige Gemeinderäte im ganzen Land. Wie die Midterm-Elections in den Vereinigten Staaten ändert dies nicht die nationale Führung, gilt aber als Stimmungsbarometer.

Die große Frage wird dabei nicht nur sein, ob und wie hart die Wähler die Tories abstrafen. Vielmehr wird sich zeigen, ob die konservativen Kandidaten die frühere Stimmungskanone Boris Johnson überhaupt noch in den Wahlkampf einbeziehen. Bei einer Nachwahl in North Shropshire im Dezember hatten die Tories eine herbe Niederlage eingefahren.

Die Konservativen werden sich in den kommenden Monaten, wenn Pandemie und Wirtschaftsflaute das Volk plagen, vor allem davor fürchten, dass Boris Johnson als populistische Wunderwaffe nicht mehr zündet. Denn das ist bisher seine unbestritten überragende politische Fähigkeit gewesen.

Vor der Weihnachtspause des Parlaments rumorte es schon heftig in der Partei und auf den Hinterbänken im Unterhaus. Gehen die Regionalwahlen im Mai schief, werden viele Tories ihn vor den nächsten Parlamentswahlen 2024 ersetzen wollen. Warum, fragen viele Konservative immer lauter, sollte Boris Johnson in Downing Street bleiben, wenn er das Volk nicht mehr bezaubern kann?

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