Großbritannien sucht neuen Regierungschef - Liz Truss tritt zurück 

Nach nur 44 Tagen muss Liz Truss zurücktreten. Sie steht nicht nur vor dem schnellen Ende einer steilen Politkarriere. Sie hinterlässt auch ein großes Chaos in ihrer konservativen Partei, die bereits von Boris Johnsons Ära in Mitleidenschaft gezogen wurde. Kann ein fliegender Premierministerwechsel das Vereinigte Königreich ohne Neuwahlen stabilisieren? 

Liz Truss heute nach ihrem Auftritt vor der Presse / dpa
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Liz Truss hat gegen einen Salat verloren. Das war zwar nicht die wichtigste Nachricht des Tages, aber doch bezeichnend für ihre Ära. Das britische Blatt Daily Star hatte Lissi Lettuce vor einer Woche per Livevideo in den Kampf gegen die britische Premierministerin geschickt: Wer hält länger durch? Über die vergangenen Tage hatte der Salatkopf eine blonde Perücke bekommen, Sonnenbrillen und sogar ein Glas Marmite. Das Livevideo wurde zum Hit, Hunderttausende besuchten Lissi Lettuce jeden Tag. Schon knapp vor dem Rücktritt meldete sich der Eisbergsalatkopf mit einer Abschiedsbotschaft zu Wort: „Danke für eure Unterstützung!“ 

Der Salatkopf hat länger durchgehalten als die Regierungschefin. Nach nur 44 Tagen im Amt wirft Liz Truss das Handtuch. Bisher hatte George Canning die zweifelhafte Ehre, mit nur 119 Tagen im Amt als kürzest dienender britischer Premier in die Geschichtsbücher eingegangen zu sein. Er starb 1827 an Tuberkulose. Jetzt hat ihn Liz Truss geschlagen. Und nicht deshalb, weil sie physisch beeinträchtigt gewesen wäre. 

In einer knappen Botschaft wendete sich die 47-jährige Konservative an ihre Landsleute. Sie trat, nur von ihrem Ehemann begleitet, vor die Presse, die vor Downing Street 10 auf sie wartete: „Unser Land ist zu lange von niedrigem wirtschaftlichem Wachstum zurückgehalten worden“, sagte sie mit einem Rest von Kampfgeist. „Ich wurde von der konservativen Partei gewählt, um das zu ändern.“ Sie müsse aber jetzt einsehen, dass „ich in dieser Situation mein Mandat nicht erfüllen kann.“ Und: „Ich habe mit seiner Majestät, dem König, gesprochen, um ihm mitzuteilen, dass ich als Chefin der konservativen Partei zurücktrete.“ 

King Charles III. kann sich also bereits nach ein paar Wochen auf dem Thron von seiner ersten Regierungschefin verabschieden. Ohnehin hatte er sie nur zu einer einzigen Audienz empfangen und zwar mit einem grummeligen „Sie schon wieder? Oh dear, oh dear.“ Charles hatte nach dem Tod seiner Mutter, Queen Elizabeth II., am 8. September den Thron übernommen. Seine offizielle Krönung findet erst im kommenden Jahr statt. Seine Regentschaft aber begann umgehend. 

Von Johnson zu Truss: Nichts als Skandale 

Das gesamte Vereinigte Königreich fühlte sich am Donnerstag von den Ereignissen der vergangenen Wochen geradezu erschlagen. Am 5. September hatte Liz Truss den Kampf um den Topjob in der Tory-Party gewonnen, nachdem 81.000 Parteimitglieder ihr den Vorzug vor Rishi Sunak, dem ehemaligen Finanzminister, gegeben hatten. Er hatte es nur auf 60.000 Stimmen gebracht. Der fliegende Machtwechsel war notwendig geworden, weil Boris Johnson nach multiplen Skandalen als Regierungschef am 7. Juli zurückgetreten war.   

 

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Liz Truss wurde gerade noch von Queen Elizabeth II. am 6. September angelobt. Zwei Tage später verschied die Königin und ließ ein Land in zehntägiger Staatstrauer zurück. Knapp danach präsentierte Liz Truss mit ihrem Finanzminister Kwasi Kwarteng ein Mini-Budget, das derart radikal war, dass der Finanzmarkt verrücktspielte. Truss hatte allerdings nichts anderes getan, als das von ihr im Sommer während der Treffen mit den Parteimitgliedern vorgeschlagenen Wirtschaftsprogramm umzusetzen: Steuersenkungen für ihre wohlhabenden Wähler bei hohen, staatlichen Beihilfen für alle. Darunter eine zweijährige Energiepreisdeckelung. Die Warnungen ihres Konkurrenten Rishi Sunak, dass sie die Stabilität der britischen Wirtschaft damit aufs Spiel setze, ein Budget vorzuschlagen, das nicht finanzierbar war, schlug sie in den Wind. 

Alle Bauernopfer sinnlos 

Nachdem das Pfund stark gefallen war, Kreditraten stiegen und die Bank of England die Regierung mit Milliarden unterstützte, indem sie Regierungsanleihen aufkaufte, musste Truss ihren Finanzminister Kwasi Kwarteng entlassen. Doch das Bauernopfer beruhigte die aufgebrachten Tories nicht mehr.  

Die Moderaten warfen ihr vor, dem Land mit ihrer radikalen Politik zu schaden. Die Radikalen waren wütend, weil sie als Finanzminister den liberalen Jeremy Hunt bestellte. Der Versuch, die Partei zu einen, scheiterte am Mittwochnachmittag, als die in Immigrations- und Brexitfragen besonders scharfe Innenministerin Suella Braverman auch noch ihren Rücktritt einreichte.  

Am Mittwochabend versuchte Liz Truss trotzdem noch einmal, mithilfe von „Chief Whip“ Wendy Morton, der Fraktionschefin im Parlament, ihre Abgeordneten dazu zu zwingen, ihr das Vertrauen auszusprechen. Leider wählte sie dafür die falsche Abstimmung. Im Unterhaus wurde über einen Antrag der Labour-Party abgestimmt. Die Opposition wollte verhindern, dass Fracking – so der Wille der Regierung – wieder erlaubt werden sollte. Viele konservative Abgeordnete aber hatten einen klaren Auftrag ihrer Wähler bekommen, dem umweltschädlichen Abbau von Schiefergas unter keinen Umständen zuzustimmen. Sie wollten deshalb nicht mit der Regierungschefin stimmen. 

Tumult im Unterhaus 

Im Unterhaus kam es zu tumultartigen Szenen, als konservative Abgeordnete manche ihrer Kollegen von der „Nein“-Lobby in die „Ja“-Lobby drängten. Teilweise mit physischer Gewalt, wie der Labour-Abgeordnete Chris Bryant beobachtet haben will. Eine Abgeordnete wurde in Tränen aufgelöst auf der Toilette angetroffen. Wendy Morton trat von ihrem Job zurück, wurde dann wieder von Liz Truss dazu bewegt, doch zu bleiben. 

Am Schluss des Abends rissen dem an sich sonst eher jovialen konservativen Abgeordneten Charles Walker die Nerven: „Ich hoffe, es war es wert, einen Ministerposten zu ergattern, dass ihr Liz Truss zur Premierministerin gemacht habt“, rief er einer BBC-Reporterin ins Mikrofon. „Der Schaden für unsere Partei ist unbeschreiblich groß.“ 

Für das Land auch. Denn jetzt stehen entweder ein weiterer fliegender Machtwechsel oder Neuwahlen ins Haus. Beides ist für eine Bevölkerung, die derzeit nicht weiß, wie sie ihre Energierechnungen bezahlen soll, eine weitere Belastung. 

Neuwahlen oder fliegender Wechsel? 

Für Labour-Chef Keir Starmer ist klar, dass es zu Neuwahlen kommen sollte: „Die konservative Partei hat gezeigt, dass sie kein Mandat zu regieren mehr hat.“ Die Tory-Rebellen aber wollen auf keinen Fall Neuwahlen, weil Labour schon vor dem Rücktritt von Liz Truss 36 Prozentpunkte in Führung lag.  

Sie suchen jetzt einen Weg, sich an der radikalisierten Parteibasis vorbei innerhalb der Parlamentsfraktion auf einen Nachfolger zu einigen. Im Gespräch sind der frühere Finanzminister Rishi Sunak und der Verteidigungsminister Ben Wallace. Auch möglich, dass sich die streitenden Tories auf einen Überraschungskandidaten einigen.  

Oder eine Überraschungskandidatin wie die bisherige „Leader of the House“ Penny Mordaunt. Sie hatte sich schon am Mittwoch als Stellvertreterin der Premierministerin bei den „Prime Ministers Questions“ im verbalen Wettkampf mit dem Oppositionsführer gut geschlagen.  

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