Gretchen Whitmer - Kaltes Blut und Leidenschaft

In den USA tritt der älteste Präsident der Geschichte noch einmal an. Dabei hätten die Demokraten eine echte Alternative: Gretchen Whitmer, Gouverneurin von Michigan. Ihre herausragenden Qualitäten als Problemlöserin katapultierten sie in die erste Riege der Partei.

Biden überlegte sogar, der Gouverneurin den Job als Vize-Präsidentin anzubieten / picture alliance
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Autoreninfo

Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg. Soeben erschien von ihm „America First – Donald Trump im Weißen Haus“ (C. H. Beck).

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Egal, ob Joe Biden am 5. November 2024 die Wiederwahl gewinnt oder nicht – vom 6. November an geht es um die Frage: Wer soll die Demokratische Partei künftig führen? Eigentlich stellt sie sich schon heute. 77 Prozent der Amerikaner halten den 81-Jährigen für zu alt für eine weitere Amtszeit, selbst 69 Prozent der Demokraten sind dieser Meinung. Doch er hält stur an seiner Kandidatur fest, und kein Partei-Schwergewicht will ihn herausfordern und damit Trumps Wahlchancen erhöhen. 

Nicht, dass die Demokraten viel Auswahl hätten. Die Zustimmungswerte der einstigen Hoffnungsträgerin und Vizepräsidentin Kamala Harris liegen ähnlich tief wie die ihres Chefs. Sie findet einfach kein Thema, das ihr Profil verleiht. Noch dazu schießen sich die Republikaner bereits auf Harris ein. „Eine Stimme für Biden ist eine Stimme für Harris“, ätzt etwa Nikki Haley, die selber auf den Vizeposten in einer weiteren Trump-Präsidentschaft schielt. 

Ein paar Nachwuchsstars haben die Demokraten indes, allen voran die Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer. Politik liegt der Juristin und zweifachen Mutter im Blut, schon ihr Vater war Wirtschaftsminister des Bundesstaates. Mit 29 wurde sie 2000 ins Landesparlament gewählt, wo sie bald zur Oppositionsführerin aufstieg. 2013 erlangte sie schlagartig nationale Bekanntheit: Als die republikanische Mehrheit Abtreibungen aus den Krankenversicherungsleistungen streichen wollte, trat sie ans Mikrofon und offenbarte etwas, wovon nicht einmal ihre engsten Vertrauten wussten: „Vor 20 Jahren wurde ich vergewaltigt.“ Sie sei zwar nicht schwanger geworden, wolle sich aber die Qualen nicht ausmalen, hätte sie keine Möglichkeit zur Abtreibung gehabt. 

„Big Gretch“ steht bereit

Ihre erste Wahl zur Gouverneurin gewann sie 2018 mit 6 Prozentpunkten Abstand – und das in einem typischen „Rostgürtel“-Staat mit torkelnder Industrie, den Trump zwei Jahre zuvor überraschend den Demokraten entrissen hatte. Whitmer schafft es seither, die unterschiedlichen Wählergruppen zusammenzuhalten, die heute die Demokratische Partei bilden: Dem Wokeness-Flügel gab sie Schutzgarantien für die LGBTQ-Gemeinde, ein Verfassungsrecht auf Abtreibung und freizügige Marihuana-Regeln. Nach einem Amoklauf an der Michigan State University mit drei Toten boxte sie Maßnahmen zur Waffenkontrolle durchs Parlament. Und durch die Covid-Pandemie führte sie den Staat so entschlossen, dass der Detroiter Rapper Gmac Cash sie in einem Lied als „Big Gretch“ feierte. 

Vor allem nahm sich die Gouverneurin der Strukturprobleme des Autostaats Michigan an. Die fünf größten Firmen sind Fahrzeugbauer oder -zulieferer, darunter Bosch, Ford und General Motors. Die Industrie beschäftigt 20 Prozent der Arbeitskräfte – dreimal mehr als im Autoländle Baden-Württemberg. Whitmer machte eine Milliarde Dollar locker für deren grüne Transformation. Ihr Wahlversprechen, „die verdammten Straßen zu reparieren“, ging sie forsch an. Die Armen bekamen höhere Steuerfreibeträge und eine bessere Gesundheitsversorgung. 

Ihre Qualitäten als Problemlöserin katapultierten Whitmer in die erste Riege der Demokraten. Im Februar 2020 wählte die Partei sie aus, auf Trumps Rede zur Lage der Nation zu antworten. Eine solche Ehre war einst auch den jungen Hoffnungsträgern Bill Clinton und Barack Obama zuteilgeworden, die später das Weiße Haus eroberten. Biden überlegte im Sommer jenes Jahres sogar, der Gouverneurin den Job als Vize anzubieten. 

 

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Whitmers neue Prominenz ist nicht ungefährlich. 2020 zog Trump wegen ihrer Covid-Restriktionen über „diese Frau aus Michigan“ her. Wenig später hob das FBI eine rechtextreme Miliz aus, die sie entführen und ihre Regierung stürzen wollte. Die meisten Michiganer aber sind von ihrer Gouverneurin überzeugt. Die Wiederwahl gewann sie im November 2022 mit fast 55 Prozent, dazu nahm sie den Republikanern beide Kammern des Kongresses ab. Als ihr Erfolgsrezept nennt Whitmer „eine Kombination aus Kaltblütigkeit und echter Leidenschaft“. 

Zu einer Favoritin für die Biden-Nachfolge macht sie allerdings nicht nur, dass sie den zehntgrößten Staat der USA erfolgreich regiert. Vielmehr ist Michigan zusammen mit Pennsylvania und Wisconsin auch einer der drei Swing States, die den Ausgang der vergangenen beiden Präsidentschaftswahlen entschieden. 2016 holte Trump diese wichtigen Staaten, 2020 Biden. Wer im nächsten Jahr das Trio an den Großen Seen gewinnt, zieht fast sicher ins Weiße Haus ein. 

Das verleiht Whitmer ein weiteres Plus. Präsidentschaftskandidaten holen in ihrem Heimatstaat 3,6 Prozentpunkte mehr Stimmen als im nationalen Durchschnitt, Bewerber für den Vizeposten 2,7. In einem Swing State entscheidet das meist über Sieg oder Niederlage. Sollte Biden oder Harris 2024 doch nicht antreten können – „Big Gretch“ steht bereit.

 

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