Gewalt in den USA - Die Gangs von Chicago

Amerikas Millionenmetropole im Mittleren Westen versinkt in Gewalt. Eine neue Form von Bandenkriminalität und soziale Probleme sind nicht die einzigen Ursachen dafür. Es geht auch um eine gezielte Delegitimation der Polizei.

Gedenkstelle für einen erschossenen Jugendlichen an der Chicago Avenue / Julien Chatelin
Anzeige

Autoreninfo

Gregor Baszak ist freier Journalist und lebt in Chicago. Er publizierte unter anderem in The American Conservative, Makroskop und UnHerd.

So erreichen Sie Gregor Baszak:

Anzeige

„Cloud Gate“ ist eine der beliebtesten Touristenattraktionen in Chicago. Jedes Jahr scharen sich Millionen Besucher um die vom britisch-indischen Künstler Anish Kapoor entworfene Stahlskulptur, die 2006 der Öffentlichkeit übergeben wurde. Im Herzen des ebenso populären Millennium-Parks gelegen, spiegelt das zehn Meter hohe und zwanzig Meter breite Kunstwerk die umliegende Skyline – oft auf kurios verzerrte Weise, was die Skulptur zu einem Anlaufpunkt für Selfie-Enthusiasten macht. Und weil „Cloud Gate“ wie eine gigantische metallene Bohne aussieht, nennen Einheimische den Koloss auch liebevoll „The Bean“.

Für wohlhabende Touristen ist der am Millennium-Park vorbeilaufende Prachtboulevard Michigan Avenue mit Luxusläden wie Louis Vuitton, Gucci oder Tiffany’s dann oft die nächste Station. Auf weniger gut betuchte Besucher wartet immerhin der mit mehr als 3000 Quadratmetern Ladenfläche größte Starbucks der Welt oder ein Cocktail im 96. Stockwerk des John Hancock Centers inklusive herrlichem Ausblick auf andere Wolkenkratzer oder den gigantischen Lake Michigan. Für die notorisch gebeutelte Chicagoer Stadtkasse gäbe es kaum einen größeren Verlust als ausbleibende Umsätze entlang der sogenannten „Magnificent Mile“.

Überschwappende Gewalt

Doch genau dieses Schicksal droht der Stadt jetzt, nachdem sie gerade erst die Corona-Pandemie mit einem blauen Auge überstanden hat. Mitte Mai fielen in der Nähe der „Bean“ tödliche Schüsse, bei denen der 16-jährige Seandell Holliday seinen Wunden erlag: Folge einer Rauferei, in deren Verlauf der ein Jahr ältere Marion Richardson von seiner illegal erstandenen Pistole Gebrauch gemacht hatte. Ihm wird nun Totschlag vorgeworfen. Eine Woche später wurden zwei weitere Männer erschossen, diesmal auf einer Seitenstraße der „Magnificent Mile“. Beide Taten ereigneten sich im Rahmen von auf Social Media organisierten Massenaufläufen, bei denen sich Hunderte zumeist schwarze Teenager aus den von Armut und Gewalt geplagten South und West Sides Chicagos verabreden, um in der Innenstadt Party zu machen. 

Diese Ansammlungen enden regelmäßig im Chaos: Streitigkeiten eskalieren schnell in Gewalt – und manchmal auch in Plünderungen der Luxusläden, die jetzt verstärkt private Security-­Firmen anheuern, weil die von Personalmangel gebeutelte Polizei oft nicht schnell genug am Ort ist. Erste Läden, etwa die Kaufhauskette Macy’s, zogen bereits die Reißleine und schlossen ihre Filialen an der Michigan Avenue. Die Illinois Hotel & Lodging Association vermeldet vermehrt Stornierungen durch abgeschreckte Touristen.

Bei einem Event zur Rückgabe illegal erstandener
Waffen in der St.-Sabina-Gemeinde

Im lokalen Sprachgebrauch heißt es, dass die Gewalt „überschwappt“. Einst vor allem in den südlichen und westlichen Armutsvierteln der Stadt konzentriert, passieren mehr und mehr Morde, Raubüberfälle und Carjackings auch in den wohlhabenden – und mehrheitlich weißen – Gegenden des Nordens. 

„Wir leben in einem Kriegsgebiet“

Damit entspricht Chicago dem bundesweiten Trend: 2020 war die Mordrate in den Vereinigten Staaten im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent hochgeschnellt – der größte Anstieg seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1960. Voriges Jahr wurden allein in Chicago 836 Menschen ermordet, die meisten seit 1994. Die Gewalt in Chicago ist ein Abbild derselben Kriminalitätswelle, die derzeit auch andere amerikanische Großstädte wie New York, Philadelphia, St. Louis oder Los Angeles im Bann hält.

„Ich habe schon ewig nicht mehr so viel Hoffnungslosigkeit gesehen wie heute“, klagt Michael Pfleger. Der 73-jährige weiße Pfarrer leitet seit 1981 die im South-Side-Viertel Auburn Gresham gelegene katholische Kirche St. Sabina, eine der größten schwarzen katholischen Gemeinden der USA, mit schwarzem Jesus als Altarbild inklusive. Pfleger ist eine Berühmtheit in Chicago und sogar befreundet mit niemand Geringerem als Barack Obama. Seine leidenschaftlichen Predigten und die Gospelchöre erinnern eher an baptistische Messen, was Pfleger zwar innerhalb des Erzbistums zu einer Art Paria gemacht hat, ihm aber Aufmerksamkeit aus Hollywood bescherte: In seinem Film „Chi-Raq“ aus dem Jahr 2015 orientierte sich Regisseur Spike Lee mit der Figur des Pfarrers Mike Corridan, gespielt von John Cusack, an Michael Pfleger. Der Filmtitel setzt sich aus den Wörtern „Chicago“ und „Iraq“ zusammen, ist also eine Anspielung auf die kriegsähnlichen Zustände in vielen Vierteln der Stadt. 

Bürger stehen Schlange, um ihre  Waffen für ein
kleines Entgelt zurückzugeben

Pfleger sieht das ganz genauso: „Wir leben in einem Kriegsgebiet“, sagt er nüchtern – und ergänzt, dass deshalb viele Kinder und Jugendliche in Chicago mit posttraumatischen Symptomen aufwüchsen. Dass Mitch McConnell, der republikanische Oppositionsführer im US-Senat, den Ukrainekrieg „das derzeit wichtigste Ereignis auf der Welt“ nannte, frustriert den Geistlichen enorm: „Die Demokraten und Republikaner finden zusammen, wenn es darum geht, der Ukraine zu helfen; bei den South und West Sides von Chicago ist das aber leider nicht so.“

Alte Tabus werden heute gebrochen

Darum versuchen die Teenager auch, diesem Kriegsgebiet so oft wie möglich zu entfliehen – was zu den Massenansammlungen im Stadtzentrum führt. „Dort fühlen sich die Kids sicherer als hier“, sagt Pfleger. Tatsächlich verzeichnete Auburn Gresham von Jahresbeginn bis Ende Mai schon 19 Morde, womit sich das Viertel den ersten Platz mit dem berüchtigten Stadtteil Englewood teilt. Allerdings tragen die heimischen Teenager die Gewalt auch anderswo hin, wie die Vorfälle an der „Bean“ und der „Magnificent Mile“ zeigen. Mord und tägliche Schießereien sind sogar die Haupttodesursache für schwarze Männer im Alter von 15 bis 34, dasselbe gilt für von Latinos bewohnte Viertel.

Die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Waffen ist für Pfarrer Pfleger natürlich eine Katastrophe – und St. Sabina bietet unter seiner Leitung Events an, bei denen Anwohner illegal erstandene Knarren anonym abgeben können. Aber auch die sozialen Medien heizen die Atmosphäre unter Teenagern an. Beleidigende Tweets zwischen rivalisierenden Gangmitgliedern führen oft direkt zu Schießereien, was für Pfleger wiederum ein Zeichen von „Feigheit“ ist: „Ich sage immer, du hast deinen Verstand und zwei Fäuste.“ Früher hätten diese Waffen oft ausgereicht, um einen Konflikt beizulegen. Und wenn es dennoch zu einem Schusswechsel kam, waren nur die jeweiligen Gegner beteiligt. „Das ist heute nicht mehr so. Wenn ich heute auf dich wütend bin, decke ich deinen ganzen Wohnblock mit Kugeln zu“, erzählt Pfleger. Die Gewalt explodiert nicht selten ohne jede Rücksicht auf Umstehende. Und immer wieder sind Ehrverletzungen der Auslöser: „Die jungen Menschen suchen sich ihren Stolz auf der Straße und nicht mit einem Schulabschluss.“

Straßenszene vor dem mehrfach ausgeraubten Burberry-Store an der Michigan Avenue

Lamar Johnson sieht das genauso. Obwohl erst 32 Jahre alt, erinnert sich der Leiter des Jugendprogramms von St. Sabina noch daran, dass es einmal so etwas wie ein „Gesetz der Straße“ gab, wonach Schusswechsel tagsüber und in Gegenwart von Frauen und Kindern tabu waren. Johnson kümmert sich um Konfliktlösungsstrategien und darum, die Teenager von der Straße zu halten und sie aufs College vorzubereiten – ein hehres Ziel, weil sehr viele junge Afroamerikaner schon Probleme mit Grundkenntnissen wie dem Lesen haben. Aber seine Bemühungen seien erfolgreich, sagt Johnson stolz: „Fast alle Kids aus unserem Programm haben es an eine weiterführende Schule geschafft.“

Corey Brooks geht auf die Decke

Von Einrichtungen wie St. Sabina kann Pastor Corey Brooks nur träumen. Vor zehn Jahren hat der heute 53-Jährige den Abriss eines Gebäudes gegenüber seiner protestantischen New Beginnings Church durchgesetzt. Es handelte sich um ein in der Nachbarschaft verrufenes Hotel, in dem Prostituierte und Drogendealer ihrem Business nachgingen. Aus Protest stieg Brooks damals aufs Hoteldach und schlug dort drei Monate lang ein Zelt auf – mitten im bitterkalten Chicagoer Winter. Bei der Stadtverwaltung stieß er auf Unverständnis; sie drohte ihm mit Räumung. Viele junge Gangmitglieder unterstützten damals allerdings den Pastor, „die Gangs wussten, dass ich nur das Beste für unser Viertel will“. 

Seit vorigem Winter ist Brooks wieder auf einem Dach – diesmal auf dem eines Frachtcontainers, der an der Stelle des alten Hotels steht: Bei der Aktion soll Geld dafür gesammelt werden, dass es dort endlich zum Bau eines schätzungsweise 35 Millionen Dollar teuren Nachbarschaftszentrums kommt. Mit dem ersten Spatenstich rechnet Brooks im nächsten Herbst; das Zentrum soll irgendwann als sicherer Versammlungsort dienen und eine psychiatrische Beratungsstelle, eine Konzerthalle, ein Fitnessstudio sowie Ausbildungsstätten beherbergen. Was auch bitter nötig ist, denn die Nachbarschaft leidet unter verfallenen Häusern, Schlaglöchern und offenem Drogenhandel. Bekannt wurde die Gegend einst durch den angrenzenden Sozialwohnungskomplex mit dem blumigen Namen „Parkway Gardens“ – Geburtsort der Drill-Music, einem von Drum-Machines und Auto-Tunes geprägten Subgenre des Gangsta-Rap. Drill-Ikonen wie Chief Keef und King Von (aber auch Michelle Obama) wuchsen in diesem Komplex auf, der schließlich den Spitznamen „O Block“ erhielt, nachdem der 20-jährige Odee Perry dort im Jahr 2011 tödlichen Schüssen zum Opfer fiel.

Und Black Lives Matter bereichert sich

„Cloud Gate“, das im Herzen des Millennium-Parks
gelegene Kunstwerk von Anish Kapoor

Corey Brooks will der ganzen Gegend ein neues Image verleihen: „Von nun an steht das O für Opportunity“, also für neue Chancen im Leben der Bewohner. Drill dagegen kann er nur wenig abgewinnen; schwarze Musiker seien die einzigen Künstler, die Abermillionen damit verdienten, in ihren Lyrics Gewalt zu verherrlichen und Frauen verächtlich zu machen. Dieses Geschäftsmodell findet er sogar weitaus problematischer als die in den linksliberalen Meinungskolumnen beklagte „white supremacy“. Der weiße Rassismus sei „bei Weitem nicht das größte Problem, das wir als Schwarze in Amerika zu fürchten haben“, sagt Brooks. „Der Rassismus bereitet mir keinerlei Angst“ – und auch nicht die Polizei, die nach dem Willen von Black-Lives-Matter-­Aktivisten am besten gleich ganz abgeschafft gehört: „Ich möchte in keiner Gemeinde ohne Polizei leben.“

Von Black Lives Matter (BLM) hält Brooks ohnehin nicht viel. Der BLM-Dachverband Black Lives Matter Global Network Foundation hatte allein im Jahr 2020 mehr als 90 Millionen Dollar eingesammelt; damals flossen die Spendengelder unablässig als Reaktion auf die Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch Polizeibeamte in Minneapolis. Aber von diesem Geld hätten etliche zivilgesellschaftliche Projekte nichts gesehen, erzählt Brooks. Stattdessen ergaben Recherchen des Washington Examiner und des New York Magazine, dass die BLM-Führungsriegen für viele Millionen Dollar Immobilien gekauft und Geld veruntreut haben – was inzwischen die Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden geweckt hat.

„Ferguson-Effekt“ in Chicago?

Kritiker sehen sogar einen Zusammenhang zwischen der aktuellen Kriminalitätswelle und den BLM-Protesten vor zwei Jahren. Eine erhöhte Mord­rate, die auf medienwirksame Anti-Polizei-Proteste folgt, wird seit der Tötung des Afroamerikaners Michael Brown in Ferguson, Missouri, durch den weißen Polizisten Darren Wilson im Jahr 2014 als „Ferguson-Effekt“ bezeichnet. Der Gedanke dahinter: Örtliche Polizeieinheiten würden sich infolge solcher Proteste zurückziehen, um nicht weiter in den Fokus der Öffentlichkeit zu geraten. Weniger aktive Streifen wiederum setzen Anreize für Kriminelle.

Jeff „Rafi“ Boyd leitet ein Integrationsprogramm für
entlassene Strafgefangene

Matt Martin schließt diesen Effekt für Chicago kategorisch aus. Er sitzt als Vertreter des wohlhabenden 47. Bezirks im Stadtrat, wo er der linksgerichteten Progressive-Reform-Fraktion angehört. „Die allermeisten Polizisten nehmen ihren Beruf sehr ernst“, sagt er. Allerdings habe Chicago auch ein „kaputtes Polizeisystem“. Damit spielt Martin auf den gewaltsamen Tod des Afroamerikaners Laquan McDonald im Jahr 2014 an. Der Vorfall sorgte damals nicht nur wegen des bekannten Musters für Spannungen in Chicago: Weißer Polizist erschießt schwarzen Mann. Sondern auch, weil der damalige Bürgermeister Rahm Emanuel versucht hatte, das Video der tödlichen Schüsse bis nach seiner Wiederwahl unter Verschluss zu halten, um seinem damaligen Herausforderer kein Wahlkampffutter zu geben. 

Anti-Polizei-Proteste führen zu mehr Morden

Gewaltsame Proteste blieben am Ende aus, weil der schuldige Polizist zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Aber auf den Tod McDonalds folgte schon damals in Chicago eine erhöhte Mordrate, die jedoch schnell wieder abklang – bis sie seit 2020 förmlich explodiert ist.

Diesen Anstieg bringt der Kommunalpolitiker Matt Martin allerdings mit dem Corona-Lockdown in Verbindung, der viele Menschen enormem psychischen Stress ausgesetzt hätte. Der Erklärungsansatz ist populär unter progressiven Stimmen in Amerika, sei aber „absurd“, wie der Chefredakteur der unabhängigen Nachrichtenpublikation Chicago Contrarian, Florian Sohnke, entgegnet. In der Tat gibt eine Studie des Juristen Paul Cassell aus dem Herbst 2020 keine Hinweise auf eine Korrelation zwischen Lockdowns und der Mordwelle, sehr wohl jedoch auf einen Zusammenhang zwischen den vermehrten Morden und den damaligen Anti-Polizei-Protesten. Allein am 31. Mai 2020, weniger als eine Woche nach der weltweit beachteten Tötung George Floyds, erlebte Chicago 18 Morde innerhalb von 24 Stunden; es war der blutigste Tag der Stadt seit mindestens 60 Jahren. Die Lage ist laut Beobachtern auch deswegen außer Kontrolle geraten, weil die Polizei durch die Proteste abgelenkt war, bei denen das gesamte Wochenende über Zehntausende Menschen auf die Straßen gingen. Es kam zu Randalen und Plünderungen.

Andere Städte quer durch die Vereinigten Staaten erlebten ein ähnlich blutiges Wochenende – trotz der legendären Bemühungen des Nachrichtensenders ­MSNBC, die Proteste während einer Live-Berichterstattung aus einem lichterloh brennenden Stadtteil von Minneapolis als „generell nicht ungestüm“ darzustellen.

Top Thema Kriminalitätsbekämpfung

Seither mischt der 2019 gegründete Chicago Contrarian die städtische Debatte auf, nicht zuletzt, indem er dem anonymen Autorenkollektiv Second City Cop, bestehend aus einer unbekannten Zahl aktiver Polizeibeamter, ein Forum bietet. Sowohl Second City Cop als auch Sohnke sehen die führenden Kommunalpolitiker von Chicago als hauptverantwortlich für die hohe Kriminalitätsrate. Alles habe mit Rahm Emanuels Reaktion auf die Veröffentlichung des McDonald-Videos begonnen, ist Sohnke überzeugt. Denn der damalige Bürgermeister hatte dem Chicago Police Department (CPD) eine „Kultur des Schweigens“ vorgeworfen – und damit unterstellt, das CPD hätte die Polizeigewalt gegen Laquan McDonald unter den Teppich kehren wollen. Dabei sei er selbst es gewesen, der die Veröffentlichung des Videos hinausgezögert habe. Emanuels Amtsnachfolgerin Lori Lightfoot wehre Kritik übrigens auf dieselbe Weise ab: „Es ist gewissermaßen die Regel für Lightfoot und Dutzende Stadträte, die Polizei zu beschuldigen“, ärgert sich Sohnke.

Allerdings lassen sich die Bürger von solchen polizeikritischen Slogans immer weniger beeindrucken. Laut einer aktuellen Umfrage steht für 59 Prozent der Amerikaner die Kriminalitätsbekämpfung an oberster Stelle ihrer Prioritätenliste. Auch der Wahlsieg des ehemaligen Polizeioffiziers Eric Adams bei der Bürgermeisterwahl in New York wird von vielen Beobachtern als Warnsignal an die Demokratische Partei gelesen, ihren Kurs zu ändern und verstärkt auf innere Sicherheit zu setzen.

Pfarrer Michael Pfleger zelebriert eine Messe in der katholischen Kirche St. Sabina

Viele progressive Staatsanwälte widersetzen sich diesem Trend zwar noch, könnten aber schon bald den Zorn der Wähler zu spüren bekommen. An der Westküste wurden bereits Bürgerinitiativen gegründet, um die Abwahl der Staatsanwälte George Gascón in Los Angeles und Chesa Boudin in San Francisco in die Wege zu leiten – am 7. Juni sprach sich denn auch eine große Mehrheit der Wähler für eine Amtsenthebung des 41-jährigen Reformers Boudin aus. 

Kuschelkurs klappt nicht

So weit ist es für die Chicagoer Bezirksstaatsanwältin Kim Foxx noch nicht, aber auch sie sieht sich ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt wie ihre kalifornischen Amtskollegen. Die „Bewegung progressiver Staatsanwälte“, zu denen auch Foxx, Boudin und Gascón gehören, hat es sich zum Ziel gemacht, die Häftlingsquote in den Vereinigten Staaten deutlich zu reduzieren. Das Land hat im Bevölkerungsdurchschnitt weltweit die meisten Gefängnisinsassen, und überproportional viele von ihnen sind schwarz. Aus Sicht vieler Progressiver ist das ein klares Indiz für eine rassistische Strafjustiz.

Foxx und ihre Mitstreiter setzen deshalb auf weniger Anklagen wegen Drogendelikten und Diebstählen und versuchen stattdessen, vermehrt Straftäter in Sozialprogramme zu vermitteln. Oft jedoch werden diese Täter rückfällig, bevor die meist wenig engagierten Sozialarbeiter zu ihnen durchdringen können. Viele Bürgerinnen und Bürger wiederum sind wütend darüber, dass Foxx etliche polizeiliche Anklagen zurückweist, offiziell wegen unzureichender Beweislage. 

Der pensionierte Polizeioffizier Marc Buslik kritisiert
die Chicagoer Staatsanwaltschaft

Laut der unabhängigen Nachrichtenseite CWB Chicago wies die Bezirksstaatsanwaltschaft unter Foxx im Jahr 2019 insgesamt 29 Prozent mehr Mord­anklagen ab als ihre Amtsvorgängerin Anita Alvarez. Das Büro von Foxx tritt dieser Statistik mit dem Hinweis darauf entgegen, die Bezirksstaatsanwaltschaft habe 2021 „fast 90 Prozent aller Anklagen gegen Erwachsene zugestimmt, denen Schwerverbrechen vorgeworfen wurden“.

„Man kann einen Vater nicht durch einen Sozialarbeiter ersetzen“

„Dieses Statement ist nicht wirklich korrekt“, entgegnet Marc Buslik, ein langjähriger Polizeioffizier aus Chicago, der 2019 in den Ruhestand ging. „Zwar lehnt das Foxx-Team viele Anklagen tatsächlich nicht ab, verschiebt sie aber in die Kategorie fortlaufende Ermittlung.“ Und dort, so Buslik, verliefen sich die meisten Fälle schließlich im Sand. Nach Busliks Einschätzung legen progressive Staatsanwälte auch die Gesetzeslage regelmäßig zu weit aus, indem sie etwa Ladendiebstähle bis zu einer gewissen Schadenshöhe nicht anerkennen. Was im Ergebnis dann zu mehr Ladendiebstählen führe – und von Kriminellen generell als Freifahrtschein verstanden werde.

Auch von Projekten wie dem der St.-Sabina-Kirche ist Buslik nicht ganz überzeugt. Ein Nachbarschaftszentrum einzurichten, das sei ja schön und gut. „Aber es ist nicht so, als würden die Menschen Straftaten begehen, nur weil sie keinen Ort haben zum Basketballspielen.“ Das größte Problem sieht er in instabilen Familienstrukturen, vor allem bei schwarzen Kindern, die zu über 60 Prozent in Haushalten mit nur einem Elternteil, zumeist der Mutter, aufwachsen. Diese soziale Lücke würde dann eben von kriminellen Gangs geschlossen. ­Heather Mac Donald vom Manhattan Institute und Autorin des Buches „The War on Cops“ formuliert das Problem pointierter: „Man kann einen Vater nicht durch einen Sozialarbeiter ersetzen.“ Als Chicagos Bürgermeisterin Lightfoot die Eltern der in der Innenstadt randalierenden Teenager aufforderte, ihre Kinder besser im Blick zu behalten, fragten sich denn auch viele: welche Eltern?

Der progressive Flügel hält mit dem Argument dagegen, die Fokussierung auf das Problem abwesender Väter lenke von tiefer liegenden Ursachen wie Armut und Deindustrialisierung ab. Ex-Cop Buslik räumt ein, dass der Kollaps der heimischen Schwerindustrie, die ethnischen Minderheiten in Chicago einst mittelständischen Wohlstand ermöglicht hatte, eine wesentliche Ursache für das Aufblühen krimineller Strukturen sei. Und Pfarrer Pfleger gibt zu bedenken, dass der Arbeitsmarkt in vielen afroamerikanisch geprägten Vierteln vor allem aus schlecht bezahlten Jobs in Fast-Food-Restaurants besteht.

Früher gab es Grenzen

Ohnehin sind die Gangs, die heute in den prekären Vierteln von Chicago das Sagen haben, keine kriminellen Banden im klassischen Sinne. Sozialwissenschaftler sprechen stattdessen von „cliques“ und „sets“ – lose Zusammenschlüsse junger Männer, deren Strukturen kaum über den eigenen Straßenblock hinausreichen und in denen keinerlei Hier­archie und Disziplin herrschen.

Der 71-jährige Jeff „Rafi“ Boyd sehnt sich geradezu nach den alten Zeiten zurück, als seine ehemalige Gang, die Black P. Stone Nation (BPSN), in der South Side von Chicago regierte. Rafi leitet ein privat organisiertes Integrationsprogramm für entlassene Strafgefangene und saß selbst mehr als 20 Jahre lang im Bundesgefängnis, nachdem die alten Führungsriegen der BPSN Ende der 1980er Jahre zerschlagen wurden. Über die Black P. Stone Nation sagt er: „Sie war eine Organisation mit klaren Hierarchien, Rängen, Offizieren, Generälen, Botschaftern und Immobilien.“ Und wenn jemand wie Pastor Brooks damals Schwierigkeiten gehabt hätte, dann „hätte er sich an unsere Organisation wenden können – und das Problem wäre am selben Tag erledigt gewesen“. 

War früher also sogar in Sachen Kriminalität alles besser? Rafi hat da eine klare Meinung: „Damals wurden jedenfalls unsere Kinder und Frauen nicht erschossen, und es gab keine wahllose Gewalt. Ich wünschte, wir könnten wieder zu den alten Zeiten zurückkehren – das wünscht sich hier jeder.“

Die Bilder dieses Textes stammen von Julien Chatelin.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige