Geopolitische Verschiebungen - Wir erleben das Ende einer Ära

Russland hat seine eigenen Erwartungen nicht erfüllt, China schwächelt, Europa sieht schweren Zeiten entgegen: Vor unseren Augen vollzieht sich gerade ein Epochenwechsel. Das ist weder ungewöhnlich, noch muss es Grund zur Besorgnis sein. Amerika jedenfalls dürfte sich auch in der neuen Ära als stärkste Macht der Welt bewähren.

Wohin auch immer die Reise geht, am Ende kommt die Landung – doch die kann hart oder weich ausfallen / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Vor kurzem habe ich mich in einem Beitrag mit historischen Etappen befasst und in diesem Zusammenhang auf die systemischen Veränderungen hingewiesen, die sich seit mehr als 200 Jahren vollzogen haben. Im vorigen Jahrhundert fanden diese Verschiebungen im Abstand von etwa 30 bis 40 Jahren statt, wobei die letzte 1991, also vor etwa 30 Jahren, zu beobachten war. In jenem Jahr endete der Kalte Krieg, der Vertrag von Maastricht wurde unterzeichnet, die Operation Wüstensturm begann, und das japanische Wirtschaftswunder endete – was den Weg für den Aufstieg Chinas freimachte. Die Welt von 1989 war eine ganz andere als die von 1992.

Wir befinden uns jetzt in einer Zeit, in der es abermals zu Verschiebungen kommt – was nicht unbedingt bedeutet, dass der Wandel sofort eintritt; die Epoche zwischen den Weltkriegen und dem Ende des Kalten Kriegs dauerte fast 50 Jahre und wurde durch die Rivalität zwischen den USA und der Sowjetunion noch verfestigt. Es ist ungewiss, warum manche Epochen länger dauern als andere – vielleicht hat es auch einfach mit Zufällen zu tun. Eine andere Möglichkeit ist, dass einige Epochen auf einer einzigen, sehr soliden Realität beruhen, während andere auf mehreren, eher fragilen Gegebenheiten basieren.

Das Aufstreben Chinas

So basierte die Ära 1945–1991 auf der soliden Grundlage der Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion, während die Ära 1991–2022 auf einer Vielzahl von Kräften beruhte – dem globalen Krieg gegen den Terror, der Europäischen Union, dem Aufstreben Chinas, der Selbstbehauptung Russlands und so weiter. Sie war weniger kohärent und daher fragiler. Unsere gegenwärtige Epoche begann mit stärker fragmentierten Verschiebungen, die eine weniger stabile Plattform schufen.

Was auch immer die Gründe dafür sein mögen: Die 1991 begonnene Ära geht zu Ende, und eine neue Ära beginnt. Alle großen Staaten des Nordens – China, die USA, Russland und Europa – durchlaufen tiefgreifende Veränderungen. Für Russland ist der Einmarsch in die Ukraine nur der jüngste und bedeutsamste Versuch, die Ereignisse von 1991 rückgängig zu machen. Mit einem Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, das im weltweiten Ländervergleich derzeit auf Platz 86 liegt, war die Abkehr vom Kommunismus möglicherweise nicht so profitabel wie einst gedacht. Und mit einem Militär, das von den ukrainischen Streitkräften in Bedrängnis gebracht wird, kann es kaum als militärische Großmacht angesehen werden. Einfach ausgedrückt: Russland hat seine eigenen Erwartungen nicht erfüllt und wird daher entweder den erwarteten Umsturz erleben, seine aggressiven Schritte mit begrenzten militärischen Fähigkeiten fortsetzen oder als unbedeutende Macht enden – wenn auch eine mit Atomwaffen.

Der Krieg in der Ukraine hat auch Europa verändert. Die Nato ist als primäres, paralleles System zur EU wiederbelebt worden, mit etwas anderen Mitgliedern, einer anderen Agenda und einem veränderten Haushalt. Noch wichtiger ist, dass die transatlantischen Beziehungen mit neuem Leben erfüllt wurden und ein größeres Engagement für Militärisches erforderlich ist. Dies bringt Europa in eine grundlegend andere Konfiguration. Erstens werden sich die Spannungen innerhalb der EU verschärfen, da die Staatsausgaben steigen und die Wirtschaftsleistung unter dem Druck der Konflikte abnimmt. Und mit zunehmender Abhängigkeit von den USA könnte Washington wieder als alternativer Wirtschaftspartner zu Deutschland gesehen werden. Die bereits von Fliehkräften heimgesuchte Europäische Union wird sich wieder einmal neu definieren müssen.

Halsbrecherisches Wirtschaftswachstum

Auch China befindet sich im Umbruch. Das Land hat eine Phase halsbrecherischen Wirtschaftswachstums hinter sich. Wie Japan vor ihm und die Vereinigten Staaten lange davor, hat China eine außergewöhnliche wirtschaftliche Expansion erlebt. Als Japan 1991 die Grenzen des zweistelligen Wachstums erreichte, wurde es von China abgelöst. Japan hatte seine Wirtschaft angekurbelt durch eine Kombination aus kostengünstigen Exporten, gefolgt von einem Wachstum im Bereich der Spitzentechnologie. Finanziert wurde dies durch ein System, das Kapital sowohl auf wirtschaftlicher als auch auf politischer Basis zuteilte – durch „Keiretsu“ (Netzwerkorganisationen) oder Unternehmensfamilien. Es stützte sich auf eine disziplinierte Belegschaft und sah sich einem intensiven Wettbewerb bei geringwertigen Gütern ebenso ausgesetzt wie dem politischen Widerstand seiner Abnehmerländer, insbesondere der Vereinigten Staaten. Diese Situation verschärfte sich bei hochwertigen Gütern wie Automobilen. Als die Gewinnspannen zurückgingen, zeigte sich die Anfälligkeit des Finanzsystems, und in dem „verlorenen Jahrzehnt“ musste es sich umstellen.

Doch jetzt erodieren Chinas Exporte im unteren Preissegment unter dem Wettbewerb, ebenso wie es bei seinen hochwertigen Produkten der Fall ist – ganz zu schweigen vom Widerstand der Verbrauchermärkte gegen Exporte. Eine Expansion, die vor 40 Jahren begann, kann ihre Wachstumsrate nicht aufrechterhalten. Die Exporte geraten unter Druck, aber auch das Finanzsystem. Im Falle Chinas vollzieht sich dies im Immobiliensektor, der als Ausfallsicherung dient. Misserfolge in diesem Bereich, einschließlich Zahlungsausfällen, führen unweigerlich zu einer Destabilisierung der Wirtschaft und damit zu politischen Spannungen. Ein drastisch verlangsamtes Wachstum in China ist absehbar, mit einer großen Anzahl chinesischer Bürger, die nie in vollem Umfang vom früheren Wachstum profitiert haben – eine gefährliche Situation.

Weltmacht USA

Die Vereinigten Staaten sind trotz innenpolitischer Uneinigkeit und wirtschaftlichen Drucks immer noch die stärkste Macht der Welt. Die Uneinigkeit ist zyklisch bedingt und kündigt einen wirtschaftlichen Aufschwung an, der auf neuen Technologien beruht. Im Moment jedenfalls bewährt sich die amerikanische Wirtschaftsmacht, wie sich zuletzt beim Einsatz des Dollars gegen Russland gezeigt hat. Im Fall der Vereinigten Staaten ist es am unwahrscheinlichsten, dass sie institutionelle Veränderungen benötigen – was ihnen übrigens dabei geholfen hat, ihre Position seit 1945 zu halten.

Die früheren Annahmen über Russland und China als aufstrebende Mächte sind heute bestenfalls fragwürdig. Die Dinge ändern sich, aber ein Wiederaufstieg Russlands oder ein schnelles Ende der wirtschaftlichen Probleme Chinas sind kaum zu erkennen. Wenn wir uns also am Anfang eines zyklischen Wandels befinden, wovon ich ausgehe, werden die USA eine der Säulen des Übergangs in die neue Ära sein. Alles andere ist unklar. Wer hätte 1991 gedacht, dass China einen derartigen Aufschwung erleben würde? Und wer hätte 1945 voraussagen wollen, dass Europa sich so regenerieren würde, wie es geschehen ist?

Der einfache Teil der Bestandsaufnahme ist meiner Meinung nach hiermit abgeschlossen. Jetzt ist es an der Zeit, nach dem Unvorstellbaren zu suchen, das jede Epoche mit sich bringt.

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